Nach einer Schiesserei mitten in Moskau drohte dem Miteigentümer Wladislaw Bakaltschuk eine lange Gefängnisstrafe – bis zu einer unerwarteten Wendung. Die Ereignisse rücken aber auch die höchste Politik in ein schlechtes Licht.
Die Szenen erinnern an vergangene Zeiten, aber sie haben sich am Mittwoch mitten in Moskau ereignet. Ein aufgebrachter Geschäftsmann, umgeben von mehr als einem Dutzend breitschultriger, bärtiger Männer, versucht sich Zugang zu verschaffen zu einem Bürohaus ein paar hundert Meter vom Kreml entfernt und wird vom ebenfalls zahlreichen Wachpersonal abgehalten. Die Polizei ist da und erhält umfangreiche Verstärkung, als Schüsse fallen.
Am Ende sind zwei Wachmänner tot, mindestens sieben Personen sind verletzt, unter ihnen zwei Polizisten. Mehr als dreissig Beteiligte werden abgeführt, auch der Geschäftsmann. Einen Tag später wird bekannt, dass gegen sie ermittelt wird: wegen Mordes, Mordversuchs, Angriff auf Angehörige der Sicherheitskräfte und Eigenmächtigkeit. Der Vorfall erschüttert die russische Geschäftswelt, die Politik und die interessierte Öffentlichkeit. Sie fühlt sich in die für raue Abrechnungen berüchtigten neunziger Jahre zurückversetzt, eine Zeit, für deren Überwindung Präsident Wladimir Putin sich gerne selbst auf die Schultern klopft.
Widerstand gegen rätselhafte Fusion
Mit den dramatischen Ereignissen ist der bizarre Familienstreit um die Zukunft der grössten russischen Online-Handelsplattform Wildberries und dessen Besitzerehepaar Bakaltschuk tragisch eskaliert. Im Juli hatte Wladislaw Bakaltschuk, der am Mittwoch Zutritt zum Sitz von Wildberries erhalten wollte, den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow um Hilfe gebeten in der Auseinandersetzung mit seiner Frau Tatjana, der Geschäftsführerin und Mehrheitseignerin des einst gemeinsam gegründeten Unternehmens. Diese hatte im Frühsommer Wildberries mit Russlands Quasi-Monopolisten für Aussenwerbung, Russ Outdoor, fusioniert.
Für Aussenstehende war der Coup ein Rätsel. Russ Outdoor erwirtschaftete bis dahin einen um ein Vielfaches kleineren Umsatz, die Synergien sind unklar, und laut der russischen Ausgabe des Magazins «Forbes» verlor Tatjana Bakaltschuk, Russlands reichste Frau, mit dem Zusammenschluss mehr als ein Drittel ihres Vermögens. Wladislaw Bakaltschuk, offiziell nur mit 1 Prozent an Wildberries beteiligt, sträubte sich dagegen.
Bald wurde klar, dass hinter der rätselhaften Fusion auch eine Romanze steckt: Robert Mirsojan, der zusammen mit seinem Bruder die Geschicke von Russ Outdoor leitete und das Zusammengehen mit Wildberries vorantrieb, soll Tatjana Bakaltschuks neuer Liebhaber sein. Dem verstossenen Ehemann versprach Kadyrow Ende Juli, die Familie wieder zusammenzuführen. Die Männer, die Bakaltschuk am Mittwoch begleiteten, waren Tschetschenen.
Gegenseitige Vorwürfe
Zunächst drohte Bakaltschuk angesichts der schwerwiegenden Vorwürfe Untersuchungshaft und im schlechtesten Fall lebenslänglicher Freiheitsentzug im Straflager. Am späten Freitagabend gab es eine unerwartete Wendung: Er sei zu Hause, schrieb er. Seine Anwälte bestätigten gegenüber russischen Medien, die Ermittler hätten keine Anhaltspunkte dafür gefunden, dass sich die Vorwürfe gegen ihn erhärteten. Ob das so bleibt, ist offen. Es hiesse, dass Kadyrows Protektion funktioniert. Rund dreissig andere Beteiligte sind in Haft.
Bakaltschuk sieht sich ohnehin als Opfer. Seine Anwälte schrieben in einer ersten Stellungnahme nach seiner vorübergehenden Festnahme von «himmelschreiender und präzedenzloser Verletzung der Rechte» ihres Mandanten. Dieser habe sein Kommen angekündigt, um den Konflikt um das Unternehmen zu lösen. Bereits kurz nach der Schiesserei hatte Bakaltschuk in seinem Telegram-Kanal davon gesprochen, auf ihn und seine Entourage sei durch Leute mit Verbindungen zu Terroristen ein Anschlag verübt worden.
Tatjana Bakaltschuk wiederum hatte an dem Mittwochabend ein kurzes Video veröffentlicht, in dem sie unter Tränen ihre Bestürzung über das Verhalten ihres Noch-Ehemannes ausdrückte. Sie und ihre Firma wiesen die Anschuldigungen Bakaltschuks zurück. Dessen Leute hätten zuerst geschossen. Er habe kein Recht gehabt, in das Büro einzudringen, da er kein Mitarbeiter und nur ein Minderheitsaktionär sei.
Auch das ist umstritten: Da die Bakaltschuks offenbar keinen Ehevertrag abgeschlossen haben, stünde Wladislaw bei einer Scheidung die Hälfte des Unternehmens zu, nicht nur das pro forma notierte eine Prozent. So oder so sind die Folgen desaströs: Versicherer und Kreditgeber der Firma gehen nach dem Vorfall über die Bücher. Der Zusammenbruch des Unternehmens ist nicht ausgeschlossen.
Dubiose Verbindungen von Politik und Wirtschaft
Der Streit um Wildberries ist nicht nur wegen der gewählten Mittel weit mehr als ein ausser Kontrolle geratener Familienzwist. Die Politik ist auf höchster Ebene involviert, was automatisch bedeutet, dass es auch politische Verlierer geben wird. Den bis jetzt kaum verstandenen Zusammenschluss von Wildberries und Russ Outdoor genehmigte Putin persönlich, nachdem Bakaltschuk, Mirsojan und der mutmasslich ebenfalls involvierte Geschäftsmann Suleiman Kerimow grandiose Pläne vorgelegt hatten.
Der Leiter der Präsidialverwaltung, Anton Waino, fädelte die Zustimmung dazu ein, und Maxim Oreschkin, der für Wirtschaftsfragen zuständige Stellvertreter Wainos, wurde mit der Beaufsichtigung des Deals betraut. Auf der Seite der Gegner der Fusion wirkt mit Kadyrow ein mit eigenen Sicherheitskräften ausgestatteter Potentat, den mit Putin eine Art von gegenseitiger Abhängigkeit verbindet. Spielt der Präsident Schiedsrichter, steht er vor einer kniffligen Aufgabe.
Zu den mannigfachen Vermutungen hinter der Fusion von Wildberries und Russ Outdoor gehört, dass die vielen Überprüfungen des Online-Händlers durch die Behörden sowie ein Lagerhausbrand in den vergangenen Monaten kein Zufall waren. Die im Exil lebende Gefangenen-Aktivistin und frühere Fernsehjournalistin Olga Romanowa vermutet hinter den Gebrüdern Mirsojan gar den im Frühjahr vorzeitig aus dem Straflager entlassenen Sachari Kalaschow, besser bekannt als Schakro Molodoi (Schakro der Junge), einer der mächtigsten «Diebe im Gesetz» – kriminellen Autoritäten – Russlands.
In dem höchst eigenwilligen Geschehen spiegeln sich gleich mehrere Systemfehler der russischen Gegenwart, die sich in Zeiten des Krieges noch akzentuiert haben: die ungesunde Verbindung von Politik und Wirtschaft, die ebenso ungesunden zwielichtigen Verstrickungen von Unternehmen mit kriminellen Strukturen und das mangelnde Vertrauen in die Institutionen, besonders in die Justiz.