Diese Woche führen Nationalrat und Ständerat eine Debatte zur Menschenrechtskonvention. Bei FDP und Mitte scheint der Widerstandsgeist gegen «Strassburg» bereits wieder zu erlahmen.
Eigentlich wollte man dieses Jahr in Bundesbern das 50-Jahr-Jubiläum des Beitritts der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) würdig begehen. Doch der spektakuläre «Klimaseniorinnen gegen die Schweiz»-Entscheid vom April hat die Feierlaune empfindlich gedämpft. Das Urteil hat zu einem offenen Konflikt zwischen der Schweiz und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geführt. Statt Lobhudeleien sind im Jubiläumsjahr ungewöhnlich scharfe Töne zu vernehmen.
So verabschiedeten die eidgenössischen Räte im Sommer eine Protesterklärung gegen den «gerichtlichen Aktivismus» des Menschenrechtsgerichtshofs. Die Strassburger Richter hätten die Grenze zwischen Recht und Politik nun definitiv überschritten, lautete die empörte Kritik der bürgerlichen Mehrheit von Mitte bis SVP, unter Einschluss einzelner Linker. Der Bundesrat doppelte im August nach und machte ebenfalls klar, dass er sich nicht an das Klima-Urteil gebunden fühle und keinen Handlungsbedarf sehe. Das ist ein einmaliger Vorgang.
Druck auf den Ausschaffungsartikel
Der EGMR allerdings zeigt sich von der Kritik aus der Schweiz offenkundig nicht beeindruckt. So veröffentlichte er vergangene Woche ein Urteil, das Kritikern als weiterer Beweis dafür dient, wie locker der Gerichtshof die von ihm explizit geforderte Subsidiarität interpretiert. Man könnte fast von einer Provokation sprechen.
Konkret geht es um einen bosnischen Drogendealer, den die Schweiz für fünf Jahre des Landes verwiesen hat. Damit sei der Mann in seinem Recht auf Familienleben verletzt worden, befand der EGMR. Die Schweiz muss dem Täter 10 000 Euro Genugtuung zahlen.
Nun ist Drogenhandel gemäss Bundesverfassung und Strafgesetzbuch eines jener Delikte, die grundsätzlich eine Landesverweisung nach sich ziehen. Das Bundesgericht sah im Fall des Bosniers keinen Anlass, von dieser Regel abzuweichen. Zum einen vertritt es bei Drogendelikten konsequent eine rigorose Haltung. Zum andern war der Drogendealer erst im Alter von 30 Jahren in die Schweiz gekommen und wurde bereits wenige Jahre später straffällig. Die Lausanner Richter erachteten es für seine serbische Frau und die beiden kleinen Kinder als zumutbar, mit dem Vater nach Bosnien zu gehen oder von der Schweiz aus den Kontakt aufrechtzuerhalten.
Warum diese Interessenabwägung im vorliegenden Fall nicht korrekt gewesen sein soll, erschliesst sich aus dem Strassburger Urteil nur ansatzweise. Die Schweiz habe nicht berücksichtigt, dass der Mann nicht vorbestraft gewesen sei, wurde argumentiert. Zudem habe es sich bloss um eine bedingte Freiheitsstrafe gehandelt.
Selbstredend war auch der Schweizer Richter Andreas Zünd dieser Ansicht; der Sozialdemokrat verurteilt sein Herkunftsland so eifrig wie kaum ein Amtsinhaber vor ihm. Es waren die niederländische und die isländische Richterin, die sich für die Schweiz einsetzten: Das Bundesgericht habe sorgfältig und im Rahmen seines Ermessens gehandelt. Bis anhin habe der EGMR bei Ausweisungen nie auf das Strafmass abgestellt und Drogendelikte stets zu den schwerwiegendsten Taten gezählt, betonten sie. Es gebe folglich keinen Grund für den Gerichtshof, sich über das Schweizer Urteil hinwegzusetzen.
Wie sich der neue EGMR-Entscheid zu dem Drogendealer in der Schweiz auswirken wird, ist schwer zu sagen. Man kann aber wohl davon ausgehen, dass es für die Gerichte nicht einfacher wird, kriminelle Ausländer des Landes zu verweisen. Wer den Ausschaffungsartikel in der Praxis relativieren und abschwächen will, hat dank Richter Andreas Zünd und seinen Kollegen nun neue Munition erhalten.
Ist der Widerstandsgeist bereits erlahmt?
Das neuste Strassburger Urteil dürfte auch im Parlament zu reden geben. Am Dienstag hält der Nationalrat und am Mittwoch der Ständerat eine ausserordentliche Session zur EMRK ab. Die aufgebrachte SVP-Fraktion fordert, die Menschenrechtskonvention kurzerhand «auf den nächstmöglichen Termin zu kündigen». Der Bundesrat lehnt die Motion ab. Der Vorstoss dürfte aller Voraussicht nach ebenso scheitern wie frühere Anläufe. Gleichwohl könnte die Debatte interessant werden und ein Gradmesser dafür sein, wie gross die Empörung der Parlamentarier über das Klima-Urteil effektiv noch ist. Es gibt nämlich Anzeichen, dass der Widerstandsgeist bei den Freisinnigen und der Mitte-Partei bereits wieder lahmt.
So haben FDP und Mitte zusammen mit den linken Kräften vor ein paar Tagen ein Postulat des Neuenburger FDP-Fraktionschefs Damien Cottier gutgeheissen. Cottier fordert den Bundesrat dazu auf, eine Bilanz über die Mitgliedschaft der Schweiz bei der EMRK vorzulegen und darüber hinaus zu prüfen, ob man nicht noch weitere, bisher nicht ratifizierte Zusatzprotokolle unterzeichnen sollte.
Cottier hat vor allem das 12. Zusatzprotokoll im Blick. Dieses statuiert ein allgemeines Diskriminierungsverbot. Träte die Schweiz dem Protokoll bei, könnte dies dem Strassburger Gerichtshof Tür und Tor für zusätzliche Kontrollen über die Schweizer Gesetzgebung öffnen. Warum der Nationalrat angesichts des von ihm selber heftig kritisierten Aktivismus des Gerichtshofs erwägt, dessen Kompetenzen weiter auszudehnen und die Schweiz den Strassburger Richtern noch stärker «auszuliefern», ist bei nüchterner Betrachtung nicht schlüssig.
Gleichzeitig und im Widerspruch zu Cottiers Vorwärtsstrategie wird am Mittwoch im Ständerat über eine Motion des Freisinnigen Andrea Caroni entschieden, die den EGMR «an seine Kernaufgabe» erinnern will. Der Bundesrat, so Caroni, solle im Verbund mit anderen Ländern auf den Abschluss eines neuen Protokolls hinwirken, das den legitimen Ermessensspielraum der Staaten garantieren würde. Der Bundesrat unterstützt den Vorstoss. Allerdings wurde ein solches Zusatzprotokoll bereits vor ein paar Jahren beschlossen und die Subsidiarität explizit in der EMRK-Präambel verankert – gefruchtet hat es wenig.
Gottesdienst für Gleichgesinnte
Ganz ohne Feierlichkeiten soll das schwierige Jubiläumsjahr aber doch nicht über die Bühne gehen. So will das Bundesamt für Justiz Ende November eine öffentliche Konferenz abhalten, um den Beitritt der Schweiz zur EMRK vor 50 Jahren zu würdigen. Dabei soll es auch um «aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen» gehen.
Wer sich auf kontroverse Debatten über Sinn und Unsinn von Klima-Urteilen und internationalen Gerichtshöfen freut, dürfte allerdings enttäuscht werden. Denn das Programm erinnert salopp gesagt an einen Gottesdienst, der für Gleichgesinnte organisiert wird. Auf der Rednerliste figurieren Justizminister Beat Jans, der EGMR-Richter Andreas Zünd, die Präsidentin der neuen Schweizer Menschenrechtsinstitution, eine weitere Menschenrechtsspezialistin, eine Asylrechtsspezialistin, noch ein Menschenrechtsspezialist, Personen aus der Bundesverwaltung, Vertreter des Europarats und EGMR-geneigte Politiker wie Damien Cottier.