Integrieren oder Abschrecken? An vorläufig Aufgenommenen wie Fesahaye Semere entzündet sich eine heftige Debatte.
Auf dem Unterarm ein Tattoo: «Familie», in verschlungenen Lettern. Vater, Mutter, Brüder: Er habe sie in den letzten zehn Jahren ein einziges Mal gesehen, sagt Fesahaye Semere. Vor ein paar Jahren war das, als er aus der Schweiz für ein paar Tage nach Äthiopien fliegen konnte, das Nachbarland seiner Heimat Eritrea.
Als er die Strecke das letzte Mal zurücklegte, in umgekehrter Richtung, dauerte es zwei Jahre. Nun, mit dem Flugzeug, dauert sie neun Stunden.
«Es war schwierig», sagt Semere, 29, über das Wiedersehen. «Mein Vater hatte graue Haare, meine Mutter weinte. Ich vermisse sie, mein Zuhause und meine Stadt.»
Aber zurück will er nicht, niemals. Auch daran hat ihn das Wiedersehen erinnert. «Ich kenne Leute, die mussten als junge Männer ins eritreische Militär – und sind jetzt seit 30 Jahren dort. Sie dürfen es nicht verlassen, nur alle paar Jahre nach Hause», sagt Semere. «Ich wollte nicht, dass mir dasselbe passiert.»
Dieses Ziel – und was er tat, um es zu erreichen – sollte ihn schliesslich in der fernen Schweiz ins Zentrum eines heissen Abstimmungskampfs führen.
Flucht vor dem Diktator
2012, wie Semere erzählt, erhält er in seiner Heimatstadt Adi Kwala einen Marschbefehl vom Militär. Er ist damals 17 und hat sein ganzes Leben unter der autokratischen Herrschaft eines alten Mannes verbracht: Isaias Afewerki, 78, der erste und einzige Präsident von Eritrea.
Keine freie Presse, keine Verfassung, kein Parlament: «Kein Land der Welt ist eine reinere Autokratie», schreibt der Politikwissenschafter Alex de Waal über Eritrea. Afewerki hat das Land 1993 in die Unabhängigkeit geführt und regiert es seither, als gehöre es ihm.
Sein wichtigstes Machtinstrument: der «Nationaldienst» im Militär, der offiziell nach 18 Monaten vorbei sein sollte, in Tat und Wahrheit aber Jahre, manchmal Jahrzehnte dauert. Eine Zeit, in der die Eritreerinnen und Eritreer faktisch Zwangsarbeiter des Regimes sind. Hunderttausende haben das abgeschottete Land deshalb bereits verlassen.
Fesahaye Semere ist einer von vielen, als er seine Familie verlässt, über die Grenze nach Äthiopien flieht und sich auf die Reise macht – «einfach weg, nach Europa».
2000 Franken wird ihn die Reise am Ende kosten. Geld, das ihm seine Mutter in Eritrea und Verwandte in Israel vorschiessen und das er sich auf Baustellen während der Flucht verdient.
Seine Fluchtstationen zählt Semere auf, wie etwas, das er schon oft erzählen musste: Äthiopien, Sudan, Libyen. Fünf Monate Warten. Dann drei Tage auf dem Mittelmeer, mit Hunderten anderen Flüchtlingen auf einem kleinen Boot. Sizilien, Mailand und dann, am 7. Juli 2014, die Ankunft in der Schweiz.
Tage zu Fuss, ohne Essen und Wasser. Die Hitze, die Wüste, die Schlepper mit ihren hohen Preisen. Das überfüllte Fischerboot und die Angst zu sterben, ohne dass die Familie je davon erfährt: Was Semere erzählt, spiegelt die Geschichte Zehntausender Flüchtlinge, die jedes Jahr nach Europa kommen.
Eine hitzige Debatte
Sobald sie ankommen, sind Menschen wie er ein Politikum. Soll man sie integrieren, ihre Ausbildung und Jobsuche finanziell unterstützen? Oder lockt das nur noch mehr Migrantinnen und Migranten an, für die hierzulande kein Platz ist?
Seit Jahren streitet die Schweiz über diese Frage. Gegenwärtig tut es auch der Kanton Zürich wieder – wegen einer Abstimmung, die am 22. September stattfindet.
Dabei geht es um Stipendien für vorläufig Aufgenommene – Geflüchtete, die trotz abgelehntem Asylgesuch in der Schweiz bleiben dürfen, weil eine Rückführung als unzumutbar eingestuft wird. Sie müssen derzeit fünf Jahre warten, bis sie ein Stipendiengesuch stellen dürfen. Diese Wartezeit wollte das Kantonsparlament streichen, die SVP hat das Referendum dagegen ergriffen.
Es ist eine Vorlage, von der nur rund 400 Personen betroffen wären. Mehrkosten gäbe es langfristig keine. Und doch wird die Debatte hitzig geführt.
Vor einem «Gratis-Studium für abgewiesene Asylanten» warnt die SVP. Zahlen der Bildungsdirektion zeigen allerdings: Im letzten Ausbildungsjahr waren die vorläufig Aufgenommenen mit Stipendien zu fast 100 Prozent in einer Berufslehre. Geförderte Studenten gibt zurzeit einen einzigen.
Essenziell für die Integration von Schutzbedürftigen – oder Gift für die Abschreckung von abgewiesenen Asylsuchenden: Es ist, als sähen die beiden Seiten in derselben Vorlage das komplette Gegenteil.
Die Geschichte von Fesahaye Semere zeigt, warum das so ist. Sie kann nämlich, je nach politischer Lesart, beides sein: der Beweis für gelungene Integration, wie sie laut den Befürwortern allen nützt. Oder ein Beleg für den Sogeffekt, der laut den Gegnern droht.
Der lange Weg zur Integration
Nach seiner Ankunft in der Schweiz hat Semere zunächst schwierige Jahre. Er landet erst in einem Asylzentrum in Basel, dann in Kreuzlingen, dann in Embrach. Das Deutschlernen sei ihm schwergefallen, Unterricht habe es kaum gegeben, sagt er. Arbeiten darf er auch nicht.
Es sei, sagt er, eine «verlorene Zeit» gewesen.
Die endet erst nach fast zwei Jahren, als er seinen Asylentscheid erhält: vorläufige Aufnahme mit Ausweis F. Das sei eine Erleichterung gewesen, sagt Semere. Und der Anfang seines eigentlichen Kampfs. «Mein Traum war eine Ausbildung, egal welche», sagt er. «Ich wollte weg von der Sozialhilfe, arbeiten, integriert sein.»
Das ist auch ein zentrales Ziel der Schweizer Behörden. 43 000 vorläufig Aufgenommene leben in der Schweiz, 90 Prozent bleiben langfristig hier. 2019 einigten sich Bund und Kantone deshalb auf ein ambitioniertes Ziel: Zwei Drittel der vorläufig Aufgenommenen im Alter zwischen 16 und 25 sollen fünf Jahre nach ihrer Ankunft in einer beruflichen Grundbildung sein. Die Hälfte soll nach sieben Jahren regulär arbeiten.
Momentan gehen 43 Prozent der vorläufig Aufgenommenen im erwerbsfähigen Alter einer Arbeit nach. Drei Viertel derer, die weniger als sieben Jahre in der Schweiz sind, beziehen Sozialhilfe – ein Vielfaches mehr als im Rest der Bevölkerung.
Erhebungen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass der Anteil Sozialhilfebezüger deutlich sinkt, je länger vorläufig Aufgenommene in der Schweiz sind. Von den 16–25-Jährigen sind nach fünf Jahren ein Drittel in einer regulären Ausbildung und ein Fünftel in Übergangskursen. Nach sieben Jahren hat mehr als die Hälfte einen Job.
Auch Fesahaye Semeres Weg in die Eigenständigkeit ist lang und beschwerlich. In der Migros-Klubschule lernt er Deutsch, in einer Integrationsklasse zusätzlich Mathematik und Informatik. Bei einem Praktikum in einer Velowerkstatt kommen die Grundlagen des Arbeitslebens dazu: pünktlich sein, den Chef informieren, Sicherheitsregeln beachten.
Zwölf Bewerbungen auf Lehrstellen schreibt er, bis er 2019 eine bekommt: als Strassenbauer bei der Bretscher AG in Wallisellen.
Pläne lesen, Gräben ausmessen, asphaltieren: Das gefällt ihm. Semere beginnt eine einjährige Vorlehre, versteht am Anfang wenig – sprachlich, inhaltlich. «Ich wollte fast aufhören», sagt er. Der Polier und seine Arbeitskollegen reden ihm gut zu, erklären ihm, wie es geht. Und Semere bleibt.
«Klar arbeite ich!»
Er schliesst die Vorlehre ab und beginnt die zweijährige Lehre zum Strassenbaupraktiker mit eidgenössischem Berufsausweis. Pro Monat verdient er zwischen 740 und 1200 Franken – zu wenig, um sein WG-Zimmer und seinen Lebensunterhalt zu bezahlen.
Er beantragt beim Kanton Stipendien. Mit den 1700 Franken monatlich kann er seine Ausbildung abschliessen. Dass er nach fünf Jahren in der Schweiz welche bekommen kann, erfährt Semere von seiner Sozialarbeiterin – von der Möglichkeit habe er zuvor nie gehört, sagt er. Den komplizierten Antrag wiederum füllt er mithilfe eines freiwilligen Helfers des Vereins Solinetz aus. Der Verein engagiert sich im Ja-Komitee der Stipendienvorlage.
2022 macht Semere den Lehrabschluss. Wie jeder Lehrling ist er vor der Prüfung nervös – und glücklich, als er sie mit einem Schnitt von 4,8 besteht. Seine Firma bietet ihm eine reguläre Stelle an, er sagt zu und kann seither zum ersten Mal von dem leben, was er selbst verdient.
Eigentlich, findet er, sei das ja selbstverständlich. «Ich bin nicht krank, klar arbeite ich!»
Bei seinem Arbeitgeber hört man das gerne. Daniel Peter, kaufmännischer Leiter der Bretscher AG, sagt, der Betrieb – ein KMU mit 85 Mitarbeitenden – habe mit vorläufig Aufgenommenen wie Semere gute Erfahrungen gemacht. «Sie sind älter und reifer als andere Lehrlinge – und sie sind fleissig. Man merkt: Sie wollen etwas.»
Bei Jugendlichen aus dem regulären Schulsystem sei der Bau leider oftmals nicht die erste Wahl. Da seien Firmen wie seine froh um jeden motivierten Lehrling, der etwas aus sich machen wolle – «egal, was für Papiere er hat».
Um die Leute wirklich einsetzen zu können, sei eine Ausbildung jedoch unabdingbar. «Nur so können wir sie richtig einsetzen», sagt Peter. Am liebsten ist ihm die volle dreijährige Lehre zum Strassenbauer, aber schon die zweijährige sei «zehnmal besser als nichts».
Zu den Stipendien hat er eine differenzierte Haltung: «Seien wir ehrlich, ohne sie ist eine Ausbildung fast nicht möglich.» Gleichzeitig habe er selbst noch keinen Fall erlebt, bei dem die Wartezeit von fünf Jahren eine Ausbildung verhinderte, sagt Peter. Wer bei ihm eine Lehre beginnt, ist in der Regel schon fünf Jahre in der Schweiz. Ihn ärgert mehr, dass viele seiner Arbeiter für weiterführende Kurse keine Stipendien bekämen, während beispielsweise Studenten jahrelang unterstützt würden.
«In der Schweiz findest du am schnellsten Arbeit»
Auch Fesahaye Semere blickt der Stipendien-Abstimmung gelassen entgegen. Um frühere Unterstützung wäre er froh gewesen – und doch hat es für ihn auch so geklappt.
«Als ich in Italien ankam, sagte mir ein Kollege: ‹In der Schweiz findest du am schnellsten Arbeit, kannst eine Ausbildung machen, dich integrieren›», erzählt er. «Darum bin ich hierher. Und es stimmte.»
Dennoch würde er heute jedem Eritreer von der Reise nach Europa abraten. Auch seinem 17-jährigen Bruder, der gerade vor seinem Militäraufgebot nach Äthiopien geflohen ist. «Ich habe ihm gesagt: Komm nicht. Es ist zu riskant, zu gefährlich.»
Er selbst kann sich eine Rückkehr in seine Heimat nicht mehr vorstellen. Nicht solange Afewerki an der Macht ist. Vor drei Jahren hat Semere deshalb ein Härtefallgesuch eingereicht und sich damit um eine permanente Aufenthaltsbewilligung beworben. Weil er seit über fünf Jahren hier ist, als integriert gilt und nicht von der Sozialhilfe abhängig ist, wurde das Gesuch bewilligt.
Statt den «Nationaldienst» in Eritrea zu leisten, baut Fesahaye Semere deshalb bis auf weiteres Strassen in Zürich, Dübendorf, Hüntwangen und Eglisau. Und sagt auf die Frage, wie er das Leben in der Schweiz findet: «Tipptopp.»