Samstag, November 23

«Emilia Pérez» von Jacques Audiard ist energiegeladen wie kaum ein Film in diesem Jahr.

Die Figuren, die Jacques Audiard in seiner mittlerweile dreissigjährigen Karriere als Regisseur geschaffen hat, sind stets mit starken Strichen gezeichnet und in ihrer Charakterisierung oft unvergesslich: Da waren die stumme Büroangestellte und der Kleinkriminelle in «Sur mes lèvres», die beinamputierte Orca-Dresseurin, die sich in einen Amateurboxer verliebt («De rouille et d’os»), die Auftragskiller im traumartig verfremdeten Western «The Sisters Brothers».

Durchkämmt man Audiards Produktionen nach wiederkehrenden Themen, so stösst man auf zahllose Gewaltmanifestationen, die stets wie eine Erbsünde über den Figuren lasten. Markant ist auch sein sicherer und reflexiver Umgang mit unterschiedlichen Gattungen und Stilrichtungen, der von einer soliden Kenntnis der Filmgeschichte zeugt. «Man meint, im Kino zu sitzen», ist ein Satz, der in seinem Immigrantenthriller (und Palme-d’Or-Gewinner) «Dheepan» von der tamilischen Protagonistin ausgesprochen wird: Der Regisseur hätte die Replik in jeder seiner Inszenierungen unterbringen können.

Auch «Emilia Pérez», Audiards zehnte Produktion, trägt die Handschrift des Franzosen: In den Studios von Bry-sur-Marne in der Pariser Region mit internationalen Stars auf Spanisch gedreht, ist das Trans-Musical ein bildstarkes Plädoyer für ein Kino, das in der Variation der Genres zu einem persönlichen Ausdruck finden will. Der Plot dreht sich um einen mexikanischen Drogenbaron, Manitas del Monte, der (oder eben: die) nach einer Geschlechtsoperation als Emilia Pérez aufersteht und den Pfad der Sühne betritt, bevor die Vergangenheit umgehend ihren blutigen Tribut einfordert.

Neues Leben in der Schweiz

Um sicherzustellen, dass seine Transition mit der gebotenen Diskretion über die Bühne geht, heuert del Monte die Anwältin Rita (Zoë Saldaña) an, der die flächendeckende Korruption in Mexiko sämtliche Illusionen bezüglich einer ehrbaren Karriere genommen hat. Als Emissärin – und einzige Eingeweihte – organisiert Rita in Israel einen Chirurgen.

Dann täuscht sie Manitas’ Tod vor und siedelt Jessi (Selena Gomez), die Frau des Kartellchefs, zusammen mit den Kindern in sicherer Distanz zu den konkurrierenden Banden in einer winterlichen Schweiz an: Mit Gourmandise skizziert die Kamera hier ein märchenhaftes Lausanne, dessen warme Lichter hinter dem Schneetreiben über einem majestätischen Genfersee aufglimmen.

Liegt es an ihrer neuen Identität, oder empfindet sie Reue ob der Sünden in der Vergangenheit? Als Emilia Pérez verschreibt sie ihr Leben nun jedenfalls dem Versuch, den anonymen Opfern des Drogenkriegs postum Gerechtigkeit zu verschaffen. Ihr unbegrenztes Vermögen, auf Nummernkonten untergebracht, dient dazu, den Toten zu einem Grab zu verhelfen und Benefiz-Events zu organisieren, in deren Verlauf sie der politischen Elite die Leviten liest.

Nachdem die Protagonistin sich auf dem Weg zur ihrer Selbsterlösung in eine junge Witwe aus ärmlichen Verhältnissen verliebt hat, nähert sich die Inszenierung streckenweise einer überzuckerten Telenovela, die allerdings rasch eine scharfe Wende nimmt, als sich bei Emilia die Sehnsucht nach den Kindern manifestiert und sie Rita damit beauftragt, Jessi aus der Schweiz zurück nach Mexiko zu bringen.

Mit der Wiederbegegnung – Emilia gibt sich als ferne Cousine von Manitas aus und installiert die Familie in ihrem luxuriösen Anwesen – setzt Audiard seinen Film erneut unter Spannung. Einer ihrer Söhne vermeint, unter Emilias Parfum den Geruch des Vaters wiederzuerkennen, ein erstes Anzeichen der sich ankündigenden Katastrophe, dass die soziale Transition bald definitiv aus dem Ruder laufen wird.

Melodramatische Refrains

Audiards Inszenierung ist virtuos genug, um die Motive visuell auszukosten und bis zum Exzess zu überhöhen, ohne den Blick fürs Detail zu verlieren. Noch als Drogenboss leitet Manitas seine Geschäfte im gepanzerten Humvee, der lautlos durch die mexikanische Wüste gleitet, die Strassen sind von farbigen Girlanden und Marktständen gesäumt, die Zeitungskioske berichten von blutigen Femiziden und Bandenterror. Für ihr Rekrutierungsgespräch wird Rita genregerecht mit ein schwarzer Kapuze auf dem Kopf entführt.

Die musikalischen Einlassungen geben der Regie die nötige Elastizität, um Emotionen und Trauma, Gewalt und Emanzipation, Blindheit und Treue ineinander verfliessen zu lassen. Die Songs (geschrieben vom französischen Sängerpaar Camille und Clément Ducol) bauen auf melodramatische Refrains, um neue Stimmungen freizulegen und die Gegensätze in ein ungewohntes Verhältnis zu setzen.

Die Aufhebung der naturalistischen Gesetze erlaubt es dem Musical, die Porträts der Drogentoten in einer Konstellation am Nachthimmel aufsteigen und Rita ihre Tagträume ausleben zu lassen; bravourös ist auch ein explosives Duo von Jessi und einem Liebhaber, das von der Kamera wie eine Karaoke-Show gefilmt wird.

Will man in den ausufernden Psychen der Figuren eine gemeinsame Ambition ausmachen, so stösst man vermutlich auf ihren geteilten Willen zur Emanzipation: Die Jury in Cannes hatte sich nicht getäuscht und den Schauspielerinnen kollektiv den Darstellerpreis verliehen.

Transsexuelle Schauspielerin

Betrifft eine Geschlechtstransition nur den Körper, oder bringt sie eine verschüttete Facette der Seele zum Vorschein? Audiard weiss natürlich, dass er sich mit dieser Frage in einem Minenfeld bewegt, und delegiert die provisorische Antwort an Rita und den Chirurgen, die sich im Vorfeld von Manitas’ Operation diesbezüglich einen eloquenten Schlagabtausch liefern.

Relevanter ist allerdings ohnehin die Position der Regieführung: Emilia Pérez (wie im Übrigen auch Manitas del Monte) wird von der transsexuellen Schauspielerin Karla Sofía Gascón gespielt, deren eigene Transition im Resonanzraum der Inszenierung stets mitschwingt. Wie in Audiards «Un prophète», in dem der Protagonist sich in eine Einzelzelle verlegen liess, um die anstehende Gefängnisrevolte zu überleben, erweist sich der Geschlechterwandel hier als ein unverhoffter Weg in die Freiheit – selbst wenn am Ende ein Sturm hochzieht.

«Emilia Pérez» baut auf Verwandlung und Inkarnation, als Musical ist der Film eine Talentdemonstration, mit seinem souveränen Spiel mit den künstlerischen Mitteln formuliert der Regisseur zugleich auch wie ein Glaubensbekenntnis ans Kino, bildstark inszeniert und energiegeladen wie wenig andere Produktionen dieses Jahres.

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