Der Italiener Marco Versari war lange Juniorentrainer bei Swiss Sailing. Doch der Physiker liebt auch Daten. Weil die Segler mit den Wettervorhersagen unzufrieden waren, nahm er das Thema selber in die Hand.
Viele Teenager scheuen sich davor, vor versammelten Leuten Fragen zu stellen. Nicht so Marco Versari. Früher schnellte seine Hand im Segelunterricht ständig nach oben, weil er etwas wissen wollte. Und er wollte viel wissen – alles, was mit Technik zu tun hatte, mit dem Wetter. Ja, er bastelte sogar selber Segel, einfach für die Erfahrung. «Ich war ein kleiner Schlauberger», sagt Versari. Heute ist er 42-jährig, und sein Wissensdurst ist Gold wert für das Swiss-Sailing-Team.
Versari war lange Nachwuchs-Nationaltrainer beim Segelverband. Er hat aber auch einen Master in Physik und ist Entwicklungschef des National Performance Center von Swiss Sailing in Lausanne sowie Data-and-Technology-Manager des Verbands. Vor einigen Jahren begann er, sich in die Materie der Wind- und Wettervorhersagen einzuarbeiten. Das Team war nie wirklich zufrieden gewesen mit den vorhandenen Prognosen, einem ziemlich elementaren Teil des Segelsports. «Ich habe damit einen guten Weg gefunden, um meine Leidenschaft für Zahlen und Methodik mit dem Segeln zu verbinden», sagt der Mailänder, der seit Jahren in Zürich lebt.
Wenn sich die Schweizer Teilnehmer der olympischen Segelwettbewerbe in diesen Tagen in Marseille auf ihre Einsätze vorbereiten, haben sie Dokumente zur Hand, die Versari entwickelt hat. Er übersetzt sozusagen den Meteorologenbericht in brauchbare Informationen für die Athleten und Trainer. «Das Wichtigste ist, dass wir über die Jahre eine gemeinsame Sprache entwickelt haben», sagt Versari, der die Balance zwischen informieren und ausbilden sucht.
Ein Handbuch, das alle Seglerinnen und Segler lesen müssen
Für die Olympischen Spiele 2021 in Tokio hatte er ein Handbuch zusammengestellt, das alle Seglerinnen und Segler lesen mussten – damit alle vom Gleichen reden und auf demselben Level sind.
Gelernt hat Versari unter anderem beim Segeln selber. Er nimmt sich immer wieder Auszeiten, um mit dem Boot seines verstorbenen Vaters hinauszufahren, er segelte etwa über den Atlantik und zurück. Zwar sind die Windinformationen, die er während dreier Wochen auf offener See sammelt, nicht direkt relevant für strategische Zwecke in Marseille.
Doch die heruntergeladenen Wetterdaten zu interpretieren und eigene Vorhersagen zu machen, half ihm für ein tieferes Verständnis des Wettergeschehens. «Diese Prognosen von jemand anderem machen zu lassen, hätte keinen Spass gemacht», sagt Versari. Den Grossteil seines Wissens über Segelstrategien hat er auf kleinen Booten gelernt. 2008 war er WM-Zweiter in der Contender-Klasse.
Für das olympische Segelrevier in Marseille haben Versari und sein Team an 165 Tagen Winddaten gesammelt, per Windsysteme an den Motorbooten der Trainer. Beim Analysieren verglichen sie diese mit vorhandenen Modellen und historischen Daten, erkannten Muster und sortierten diese in verschiedene Wetterszenarien. Heute lässt sich die Vorhersage für einen Wettkampftag einem dieser Gefässe zuteilen.
In welcher Bucht wird der Wind wie stark sein?
Für jedes Szenario und jeden Wettkampfort gibt es ein Informationsblatt mit Notizen der Trainer und der Segler, Erfahrungswerten und Prognosen. Wobei Versari über die Jahre in vielen Gesprächen eruiert hat, was die Segler von diesen Informationen genau wissen wollen. Sie picken am Morgen die richtige Datei raus, welche dann die Grundlage für die Taktikbesprechung bildet. In welcher Ecke der Bucht wird der Wind voraussichtlich wie stark sein? Wie kann ich das mit meinen Stärken und meinem Material beim gesteckten Kurs am besten nutzen?
In Marseille herrschten jüngst eher Leichtwindbedingungen, nachdem kurz vor Olympia noch der Mistral geblasen hatte. Der Kitesurferin Elena Lengwiler, die bei ihrer olympischen Premiere um die Medaillen mitfahren will, liegt das. Es sei ähnlich wie zu Hause auf den Schweizer Seen. Doch die Prognose kann nie die ganze Taktik bestimmen. Wie eine Athletin den Wind spürt und ob sie intuitiv richtig reagieren kann, bleibt essenziell für den Erfolg.