Der Ägyptologe Jan Assmann hat gelehrt, die Gegenwart über den Blick aus der Vergangenheit zu verstehen. Nun ist er 85-jährig gestorben.
Menschen sind nicht nur, was sie sind. Sie sind auch das, was ihre Vorfahren früher einmal waren. Kultur entsteht, wo eine Gesellschaft die Erinnerung an das pflegt, was sie aus ihrer Vergangenheit als bedeutend erachtet. Um Erinnern kommt niemand herum. Einzelne Menschen nicht und Gesellschaften als ganze erst recht nicht. Das hat Jan Assmann immer wieder betont. Denn in der Auseinandersetzung über das Vergangene verständigen wir uns darüber, wie wir uns verstehen und wer wir sein wollen.
Was kulturelle Überlieferung ist, wie sie entsteht und was sie leisten kann – das waren die zentralen Fragen in der Arbeit des Ägyptologen und Kulturwissenschafters Jan Assmann, der in der Nacht auf Montag 85-jährig gestorben ist. Assmann, der von 1976 bis 2003 als Professor für Ägyptologie an der Universität Heidelberg lehrte, stellte sie ausgehend von der intensiven Beschäftigung mit den alten Hochkulturen. Vom Ägypten der Pharaonen, vom alten Israel, vom antiken Griechenland. Doch alles Antiquarische lag ihm fern. Das Verständnis des Altertums war für ihn kein Selbstzweck, sondern der Schlüssel zum Verständnis dessen, was uns bis heute prägt.
Der wahre Gott
Jan Assmann ging es nicht ums Wissen, sondern ums Verstehen. Die Entstehung des Monotheismus, der er ein bahnbrechendes Buch widmete, interpretierte er als Folge einer geistesgeschichtlichen Revolution. Die Hinwendung des Volkes Israel zum einen Gott Jahwe charakterisierte er mit dem Begriff der «mosaischen Unterscheidung»: der folgenschweren Unterscheidung zwischen wahr und falsch, die vorher in der Religion keine Rolle gespielt habe.
Mit diesem Schritt sei die Welt zweigeteilt worden, legte Assmann 1997 im Buch «Moses der Ägypter» dar: Fortan gab es den Gott, der von seinen Anhängern unbedingte Loyalität verlangte – und eine Masse von Göttern, mit denen man sich nicht einlassen durfte, ohne vor dem einen wahren Gott schuldig zu werden. Deshalb habe die Wende zum Glauben an einen einzigen Gott zu einem völlig neuen Menschenbild geführt. Auf einmal gab es Juden und Nichtjuden, Christen und Heiden, Muslime und Ungläubige.
Man gehörte dazu, oder man gehörte nicht dazu. Eine Polarisierung, so Assmann, die oft in Intoleranz, Verfolgung und Gewalt übergegangen sei. Die These stiess auf harte Kritik. Jan Assmann hat sie später differenziert. Den Vorwurf, er verbinde den Monotheismus zwingend mit Gewalt, wies er entschieden zurück. Doch der Stachel war gesetzt. Die «mosaische Unterscheidung» blieb für viele eine Provokation.
Der Blick auf die Gegenwart
Darum war es Assmann nie gegangen. Er war der wissenschaftlichen Redlichkeit verpflichtet, stellte sich der Debatte und beugte sich stärkeren Argumenten, wo es sie gab. Am Grundsätzlichen seiner Überlegung zum Monotheismus hielt er fest. Aus dem Abstand von zweieinhalb Jahrzehnten liest sich «Moses der Ägypter» als Buch, das leistet, was Altertumswissenschaft im besten Fall zu leisten vermag: Sie schärft den Blick auf die Gegenwart, indem sie von einer Vergangenheit erzählt, die bis heute fortwirkt.
Jan Assmann nahm weite Zeiträume in den Blick. Er schrieb über ägyptische Totenbücher und die Herrschaftstheologie der Pharaonen genauso wie über Thomas Manns «Joseph und seine Brüder», Mozarts «Zauberflöte» oder Beethovens «Missa solemnis».
Er war eine Autorität seines Fachs, aber er wirkte weit über die Grenzen seiner Disziplin hinaus. Mit der Anglistikprofessorin Aleida Assmann verband ihn seit den später 1960er Jahren eine intensive Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Die beiden prägten den erinnerungspolitischen Diskurs in Deutschland der vergangenen dreissig Jahre entscheidend. 2018 wurde ihnen gemeinsam der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Für ihre Arbeit, die zeigt, dass das Vergangene nie vergangen ist. Und dass Erinnern immer auch heisst, Verantwortung zu übernehmen.