Der Parteipräsident und ehemalige Fernsehmoderator polarisiert mit einer neuen Strategie. Es geht um eine härtere Migrationspolitik. Unterwegs mit der FDP des Kantons Zürich.
An diesem Samstag entscheidet sich wieder einmal das Schicksal jener Partei, die die moderne Schweiz geprägt hat. Im Careum Auditorium, mitten in der Stadt, trifft sich die FDP des Kantons Zürich zum Parteitag. Es wird Wurst, Salat und Bier geben, aber der FDP-Präsident Filippo Leutenegger erwartet zuerst eine längere Diskussion.
Zum neuen Parteiprogramm («Die FDP-Story») sind mehr als sechzig Anträge eingegangen. «Wir haben viele Mitglieder, die sich mit intelligenten Vorschlägen einbringen wollen», erklärt Leutenegger, «das ist gut so.»
Im vergangenen November ist Filippo Leutenegger angetreten, um die uneinige FDP wieder zu einen. Aber kann ihm das überhaupt gelingen? Aus der Partei gibt es bereits Kritik an der neuen, härteren Haltung in der Zuwanderung. Reisst der neue Kurs alte Gräben auf?
Diese Frage beschäftigt die Partei schweizweit. Das Projekt Leutenegger, das seit bald einem Jahr läuft, ist Testfall darüber, ob sich der Freisinn neu erfinden kann.
Die autonomen Republiken der FDP
Hinter der FDP liegen Jahrzehnte der Erfolglosigkeit. Schweizweit war sie immer staatstragend. Inzwischen hat sie in den eidgenössischen Räten noch am viertmeisten Sitze. Der Niedergang geschah so stetig und langsam, dass sich die Mitglieder daran gewöhnten. Seit den vergangenen Wahlen läuft intern die Operation: «FDP Turnaround 2027». Es soll sich alles ändern, dieses Mal wirklich.
So auch in Zürich, der traditionell wichtigsten Sektion – wo die FDP immer mehr war als eine Partei: Die Freisinnigen dirigierten grosse Institutionen, den Flughafen und die Swissair, Banken, die Kunstgesellschaft und auch die NZZ. Irgendwann begannen sich die nationalen FDP-Präsidenten aber abzugrenzen. Spätestens als Philipp Müller, ein Aargauer, im Jahr 2013 einen Paradeplatzbanker als «Arschloch» bezeichnete und sich vom vornehmen Kabinettstil der FDP distanzierte, schien der Zürcher Wirtschaftsfreisinn zur Hypothek geworden zu sein.
Im vergangenen November ist Filippo Leutenegger angetreten, um den Niedergang der FDP des Kantons Zürich zu stoppen. Er war erst nach Ablauf der Bewerbungsfrist angetreten, um zwei andere Kandidaten zu verhindern. Leutenegger ist schweizweit bekannt, seit er in den 1990er Jahren am Schweizer Fernsehen die «Arena» moderiert hat. Bis heute sitzt er als Schulvorsteher im Zürcher Stadtrat.
Am Abend seiner Wahl sagte er zu den Delegierten: «Wir befinden uns im Jammertal, einverstanden. Wir haben unterschiedliche Meinungen. Es gibt fast einzelne autonome Republiken in der FDP.» Er präsentierte sich als Moderator, der die uneinige Partei einen will. Er sprach nicht über Politik, sondern über Stil. Die Partei müsse volksnäher und verständlicher auftreten. «Die Leute müssen wieder spüren: Wir sind mehr als die Partei der Pfeffersäcke.»
Als er gewählt wurde, war Leutenegger gleichzeitig das Versprechen für die Zukunft der Partei, und er stand kurz vor seinem 71. Geburtstag.
Wo anfangen?
Als er an einem Abend im Februar dieses Jahres mit seiner Vespa zu einem Co-Working-Space am Tessinerplatz kommt, hat er viele farbige Mäppchen dabei – es gibt einiges zu tun. Es ist eine freisinnige Business-Kulisse: viel Holz, Designer-Lampen, im Hintergrund läuft Lounge-Musik. Hier trifft er auf Matthias Müller, 32, und Raffaela Fehr, 39, die mit ihm das neue Präsidium bilden.
Müller ist bekannt geworden als Präsident der Jungfreisinnigen, er arbeitet als Anwalt bei Homburger im Prime Tower und lebt in Oerlikon. Fehr ist Kantonsrätin, sie wohnt in Volketswil und führt mit ihrem Lebenspartner ein Hörberatungsgeschäft. Müller kommt gut an bei konservativeren Unternehmern, Fehr, die zweifache Mutter, macht sich in einer Partei mit «deutlichem Männerüberhang» für Tagesschulen stark und dafür, dass sich Beruf und Familie vereinbaren lassen. Während Müller gerne die grosse Bühne sucht, wirkt sie lieber im Hintergrund. Die beiden könnten für die Zukunft ein Co-Präsidium bilden, sie widerspiegeln das ganze Spektrum der Partei.
Leutenegger sortiert seine Mäppchen. Wo anfangen? Zuerst geht es darum, dass die FDP zuletzt politische Talente verloren habe, weil Haudegen auf ihren Stühlen sitzengeblieben seien.
Müller sagt: «Wir müssen eine neue Dynamik reinbringen!» Fehr: «Unsere Leute fühlen sich wohl und bleiben darum manchmal auch zu lange. Das macht es schwierig, die Nachfolge zu organisieren.» Leutenegger moderiert ab: «Gut, gewisse Dinosaurier braucht es schon auch.»
Er sieht ein anderes Problem: «Wir haben viel zu wenige Frauen.» Die FDP Schweiz hat ihren Sektionen eine Analyse der eidgenössischen Wahlen zukommen lassen. Vor allem bei Frauen komme man schlecht an, wird bilanziert. Leutenegger ist in einer Arbeitsgruppe, die herausfinden soll, wie die Partei zu positionieren sei. Eine Agentur hat sogenannte Personas erstellt, typische Wählerinnen, die es anzusprechen gelte: so etwa die fünfzigjährige Frau, die die «Annabelle» liest und die Seife bei Soeder kauft.
Das Trio diskutiert über neue Formate: «FDP bi de Lüt»? Oder doch einen Podcast? Müller wäre für «Gewerblerstimmen», ein Videoformat. «Ich weiss nicht», sagt Fehr, «die Gewerbler haben wir doch schon überzeugt?» – «Das ist eine Kerngruppe», sagt Müller, «die müssen wir wieder voll überzeugen.»
Irgendwann muss Filippo Leutenegger an die nächste Sitzung, Müller und Fehr diskutieren weiter über die Ausrichtung der FDP. Er hat die Rolle des «Anwenders», wie er selbstironisch sagt. Er ist viel unterwegs an der Basis, allein am 1. August ist er in drei Gemeinden präsent. Er wird eine Initiative für eine Personalbremse in der kantonalen Verwaltung lancieren. «Ganz einfach: Der Staat soll nicht stärker wachsen als die Bevölkerung.» Am liebsten hätte er auch noch etwas gegen die hohen Löhne beim Staat unternommen – das soll später folgen.
Müller findet, die FDP müsse unbedingt einfacher und klarer tönen, und er lebt das vor. Er ist ein zuversichtlicher Liberaler, er ist nicht verängstigt und eingeschüchtert durch die Niederlagen der vergangenen Jahre. Das strahlt auch Raffaela Fehr aus, die im Präsidium der Kantonsratsfraktion eine Stimme gibt. Auch sie findet: «Wir müssen pointierter auftreten. Wir sind teilweise überkorrekt.» Zudem müsse sich die FDP personell erneuern und schneller werden. Da sind sich Fehr und Müller einig. Um nach aussen etwas zu bewirken, muss das neue Präsidium zuerst in die Partei hineinwirken.
Die Ära Boesch
Das Trio hat die Partei in desolatem Zustand übernommen. Die FDP erzielte bei den Kantonsratswahlen im Jahr 2023 ihr zweitschlechtestes Resultat seit Einführung des Proporzes. Sie verpasste es, den verlorenen Sitz im Regierungsrat zurückzuerobern. Und im Herbst, bei den eidgenössischen Wahlen, verlor die FDP auch noch ihren Sitz im Ständerat, nach vierzig Jahren. Der Parteipräsident Hans-Jakob Boesch war schwerer Kritik ausgesetzt, von den eigenen Leuten. Er hatte sich mit einzelnen Parteikadern überworfen. Boesch gab zurück, indem er an einer Versammlung vom Rednerpult aus Mitglieder massregelte: «Wir haben die Nase voll.»
Intern tobte zudem ein Richtungsstreit zwischen jenen, die schon lange finden, die FDP müsste in der Zuwanderungspolitik härter auftreten, und die auch einer Listenverbindung mit der SVP offen gegenüberstehen – und den anderen, die ihren freisinnigen Stolz auch daraus ziehen, sich eben nicht der SVP anzunähern. Die entscheidende Abstimmung über die Listenverbindung offenbarte die innerparteiliche Spannung. Das Stimmenverhältnis? 82 zu 81 für eine Listenverbindung.
Filippo Leutenegger will die alten Animositäten beenden. Er zieht die wichtigsten Leute aus den Bezirken regelmässig zusammen und beginnt sofort damit, alle Sektionen zu besuchen, vor allem zuzuhören und die Partei neu zu aktivieren. Zudem sollen die Parteiabende weniger verschlossen sein – der Präsident geht voran: Trägt der klassische FDPler seinen Anzug gerne wie einen Panzer, so trägt Leutenegger das Hemd immer weit offen.
Filippo und Fredy
Er ist längst im Pensionsalter, aber noch immer steht er dem Schul- und Sportdepartement der Stadt Zürich vor. Seit er auch noch die FDP übernommen hat, ohne Lohn, ohne Spesen, fragen ihn die Leute: «Spinnsch eigentlich?»
In seinem Büro am Parkring relativiert sich alles. Wenn er an seinem Schreibtisch aufschaut, blickt er Alfred Escher in die Augen, dem Tycoon der Liberalen. ETH-, Credit-Suisse-, Bahn-Begründer, Überfigur des 19. Jahrhunderts. Es ist ein Original-Gips. Eine kunstverständige Person im Amt hat ihn zufällig in einem Lager der Stadt Zürich gefunden. Sie informierte Leutenegger und rief ins Telefon: «Ho trovato Escher!» Seither ruht Escher bei ihm im Büro auf einem Sockel.
«Manchmal schau ich ihn an und denke: Fredy, wa hetsch gmacht?», sagt Leutenegger. Er grinst. «Gut, er hatte damals andere Probleme.»
In der Zeit von Alfred Escher war die FDP die tonangebende Partei des neuen Bundesstaats – Leutenegger kämpft mit dem Erbe. Noch immer verlangen in der Partei viele, der Freisinn habe staatstragend zu politisieren, auch wenn der Wähleranteil bei den letzten Nationalratswahlen nur noch bei etwas mehr als zwölf Prozent lag. «Wir glauben immer noch, wir müssten die ganze Verantwortung fürs Land übernehmen», sagt Leutenegger. «Einige haben auch Angst ums Image.»
Von ihm kann das niemand behaupten: Er kam von aussen, als Student engagierte er sich noch in der Anti-AKW-Bewegung. Inzwischen führt er den Zürcher Freisinn, aber er wirkt immer noch wie ein Sponti: Zu den Sitzungen kommt er mit Töffhelm, er fährt mit der Vespa durch die Stadt. Er macht sofort Duzis, man kann sich nicht dagegen wehren. Er hat «FDP kompakt» eingeführt, einen präsidialen Newsletter, den er ironisch Elternbrief nennt. Personalpolitik und Kommunikation sind bei ihm Chefsache. In der Partei wird lobend erwähnt, er sei medial präsent und entscheide gerne – und kritisiert, wichtige Entscheide fälle er top-down. Der Präsident sei das Programm.
Politische Ambitionen hat er keine mehr. Filippo Leutenegger will nichts mehr werden. Er sagt, er wolle Talente fördern – so wie Matthias Müller und Raffaela Fehr.
«Sorry, das sind typische FDP-Sätze»
Im Juni führt Fehr durch einen Abend mit der FDP der Stadt Zürich. Man trifft sich wieder im Co-Working-Space am Tessinerplatz. Gut ein Dutzend Leute sind gekommen, Durchschnittsalter vierzig, also jung für die FDP, die Hälfte sind Frauen. Fehr freut sich über die «heitere Runde» – «das ist nicht überall gleich».
Man beschäftigt sich mit den Strukturen der Partei. Für die Sektionen sei es schwierig, schnell etwas auf die Beine zu stellen, sagen einige. Gefordert werden etwa Vorlagen, um schnell eine Petition starten zu können. Ein Manual, das es einmal gegeben habe, ist offenbar im digitalen Nirwana verschwunden – so wie auch eine Adressliste von FDP-Sympathisanten. «Wir sprechen zwar viel von Digitaloffensiven», sagt jemand, «aber wir brauchten wohl selbst eine.»
Man will auch wieder mehr auf die Strasse, und das mit einfacheren Botschaften, einer klareren Sprache. Im provisorischen Parteiprogramm, das den Mitgliedern der Stadtpartei vorgelegt wird, stehen aber Formeln wie: «Fokus bei alternativen Energien mit längerfristiger selbsttragender Wirtschaftlichkeit». «Sorry, das sind typische FDP-Sätze, die kein Mensch versteht», sagt eine FDPlerin. Gelächter.
Woran sich alles entscheidet
Was den Stil angeht, ist man sich theoretisch einig. Schwieriger wird es, wenn es um Inhalte geht. Was genau ist der liberale Standpunkt?
An der Frage der Arbeitsmigration entscheidet sich vieles. Auf der einen Seite stehen progressive Liberale, Manager oder die Leute von den Wirtschaftsverbänden, für die die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union eine Verheissung ist – und auf der anderen Seite konservative Liberale, Gewerbler, Angestellte, die finden, es kämen einfach zu viele, man stosse an Grenzen. Die FDP versucht, diese Widersprüche aufzulösen, indem man bei der Asylmigration zusätzliche Härte demonstriert. Aber die Widersprüche holen sie immer wieder ein.
An dem Juniabend im Co-Working-Space sagt Raffaela Fehr: «Das Thema bewegt alle, wir brauchen eine klare Haltung.» Jemand berichtet von Gewerblern, die mit dem Austritt drohten, wenn die FDP nicht Stellung gegen die Zuwanderung beziehe. «Wenn wir schärfer auftreten, können wir KMUler zurückgewinnen, die längst zur SVP abgewandert sind.» Ein anderer erzählt von der letzten Unterschriftensammlung. «Viele wollten nicht für unsere Aufstockungs-Initiative unterschreiben, weil sie das Problem nicht in fehlenden Wohnungen, sondern in der Zuwanderung sehen.» Irgendwann sagt jemand: «Was wollt ihr denn? Die Personenfreizügigkeit abschaffen? Wollen wir das wirklich?»
Die Master-«Arena»
Am vergangenen Samstag hat Filippo Leutenegger in einem Interview mit der NZZ die Frage beantwortet, bevor sie am Parteitag noch einmal diskutiert werden soll. «Unsere attraktive Schweiz hat ein Zuwanderungsproblem. Es kommen jährlich 70 000 bis 100 000 Menschen (. . .), das können wir auf die Dauer nicht stemmen.» Es war das erste Interview als Parteipräsident, in dem er nicht primär moderierte, sondern sich klar positionierte.
Leutenegger sagt, er habe auf sein Interview vor allem positive Reaktionen bekommen. Matthias Müller hält es für einen Fortschritt, dass man unbequeme Themen endlich anspreche. Er sagt: «Unsere Position ist das, was wir aus unseren Besuchen an der Basis herausdestilliert haben. Als FDP müssen wir zur Zuwanderung unmissverständlich Stellung beziehen.» Im Parteiprogramm steht, man wolle den Zugang zu Fachkräften sichern, doch die Zuwanderung «sollte in Verhandlungen mit der EU besser gesteuert und reduziert werden».
In der Partei hat das einige irritiert – auch weil man mit dem Parteiprogramm vor fast vollendete Tatsachen gestellt worden sei. Eine Vernehmlassung habe nicht stattgefunden. Namentlich will sich niemand äussern, es laufen interne Gespräche. Aber jemand sagt, man müsse unbedingt eine «weltoffene Partei» bleiben und eher die «Chancen der Zuwanderung» sehen. Ein anderes Mitglied des Parteikaders findet, die Zuwanderung aus der Europäischen Union reduzieren zu wollen, entspreche «nicht dem liberalen Geist». Aus der FDP der Stadt Zürich liegt ein Änderungsantrag vor.
Am Parteitag vom Samstag wird sich zeigen, wie geeint die FDP ist – und wie sehr die Partei von ihrem neuen Präsidium überzeugt ist. Filippo Leutenegger sagt: «Das wird meine Master-‹Arena›.» Er lächelt. In dieser «Arena» muss er aber nicht nur moderieren, sondern auch gewinnen.