Samstag, November 23

«Alles . . . restlos und ungelesen zu verbrennen», wollte Franz Kafka von Max Brod nach seinem Tod. Dieser erfüllte den Wunsch des Schriftstellers nicht und wurde dafür kritisiert. In der Analyse von Ulrich Fischer folgt nun ein Freispruch für Kafkas Freund.

Was kann einen mehr daran hindern, die Zeit zu geniessen, als die Zeitgenossen? Als Franz Kafka noch lebte, galt es in seiner Familie keineswegs als ausgemacht, dass er neben dem Beruf als Versicherungsbeamter auch Schriftsteller sei. Nach seinem Tod setzten die Angehörigen zwei Paar Schuhe, zwei Nachthemden und eine gestreifte Sommerhose auf die Liste des Nachlasses, nicht aber ein Werk, das später zu den grössten literarischen Erbschaften überhaupt zählen sollte. Es ist eine vertrackte Geschichte rund um Kafkas Schriften, ein Mythos für sich.

Nach dem Tod des Autors fand der Prager Freund Max Brod «unter vielem Papier» zwei handschriftliche Zettel. Das eine Schreiben war von Kafka ganz offiziell mit Postadresse an ihn gerichtet. Es beginnt mit den Worten: «Mein liebster Max, eine letzte Bitte». Dann folgt ein Bandwurmsatz, mit dem Brod aufgefordert wird, alle Tagebücher Kafkas, seine Manuskripte, Briefe und alles Gezeichnete «restlos und ungelesen zu verbrennen».

Freispruch für Kafkas Freund

Künstlerisch wäre dieser Akt einer postumen Selbstauslöschung gleichgekommen. Dass Max Brod die Wünsche des Schriftstellers nicht erfüllt hat und epochale Werke wie «Der Process» und «Das Schloss» schliesslich erscheinen konnten, ist bekannt. Die Anwürfe, er habe Betrug am Freund geübt und dessen künstlerische Idee verraten, musste Brod in Kauf nehmen, aber am Ende hat es sich wohl für alle ausgezahlt.

Spät, aber doch kommt jetzt noch ein Freispruch für Kafkas 1968 verstorbenen Freund. Er stammt vom deutschen Juristen Ulrich Fischer, der in seinem Buch «Alles . . . restlos und ungelesen zu verbrennen» eine rechtswissenschaftliche Analyse der Causa Kafka-Testament unternimmt.

Mit unterhaltsamer Spitzfindigkeit stellt Fischer zwei Dinge klar: Die Zettel aus dem Nachlass stellen keinen juristisch haltbaren letzten Willen dar. Sie sind kein Testament, wie das immer wieder fälschlich behauptet wurde. Dazu kommt: Max Brod hätte ungesetzlich gehandelt, wenn er den handschriftlich niedergelegten Wünschen Kafkas gefolgt wäre.

Ulrich Fischers schmales Buch ist eine Art Kulturgeschichte, in der einander moralische Empörung und Rechtspositivismus gegenübergestellt werden. Als 1929, fünf Jahre nach Kafkas Tod, Max Brods editorische Bemühungen sichtbar wurden, ging ein kleiner Skandal durch die Weimarer Republik.

Donnerworte neben dem sperrigen Juristendeutsch

Ein heute längst vergessener Schriftsteller und Publizist namens Ehm Welk kritisierte in der «Vossischen Zeitung» das Vorgehen von Brod: «Es bleibt unentschuldbar, das Vertrauen eines sterbenden Freundes zu brechen, damit ein Buch von der Gilde der Betriebsamen bekrittelt, und von dreitausend Menschen, darunter höchstens tausend an Kafka wirklich interessierten, gelesen wird.» Vonseiten der Lordsiegelbewahrer des reinen Kunstgedankens war damit eine Marke gesetzt, auf die der Philosoph Walter Benjamin höchstselbst antwortete. Die Publikation sei so etwas wie eine kulturelle Notwendigkeit.

«Da stand ja nun einmal dieses erschütternde Kafkasche Werk, öffnete seine grossen Augen, in die man blickte, war mit dem Augenblick seines Erscheinens ein Tatbestand, der die Lage so gründlich veränderte wie die Geburt eines Kindes noch den illegitimsten Beischlaf.» Das sind Donnerworte, neben denen sich das Juristendeutsch einigermassen sperrig ausnimmt, aber Ulrich Fischer bleibt unbeirrbar dabei, sich durch die Gesetzeslage der Tschechoslowakei des Jahres 1924 zu arbeiten. In weiten Teilen geht diese damals noch auf die Zeit der österreichischen Monarchie zurück.

Schlitzohriger Retter der Literatur

Die beiden Zettel, in denen Franz Kafka Max Brod darüber unterrichtet, dass sein Werk verbrannt werden soll, betrachtet Fischer nicht als Testament, weil kein Erbe darin benannt ist, sondern als sogenannte Kodizille, als «andere Verfügungen». Da der Schriftsteller gar kein formgültiges Testament hinterlassen hat und schon gar nicht Brod offiziell ernannter Testamentsvollstrecker war, lag der Ball bei Kafkas Familie. Das Erbe des kinderlosen Franz ging auf seine Eltern und Geschwister über.

Und hier ergibt sich eine weitere Pikanterie. Vater Hermann hat die Manuskripte des Sohnes wohl eher dem Altpapier zugerechnet als den bewahrenswerten Sphären der Literatur. Das macht die Erbmasse noch filigraner, und hier erscheint Max Brod tatsächlich als ihr Retter. Ein schlitzohriger, wie Ulrich Fischer zeigt, weil er Werke Kafkas sogar aus dem Papierkorb geholt hat und in «unbefugter Selbstermächtigung» handelte, aber immerhin.

Wäre der Jurist und Schriftsteller Kafka noch er selbst, wenn er mit dem letzten Wunsch, sein eigenes Werk zu verbrennen, nicht etwas geschaffen hätte, das die Juristen eine «perplexe Rechtslage» nennen? «Unter einer perplexen Rechtslage», schreibt Ulrich Fischer, verstehe man «eine Konstellation, in der Verträge, Gesetze, Willenserklärungen oder sonstige Äusserungen, die sich auf einen eindeutigen, einheitlichen und untrennbaren Sachverhalt beziehen, mehrere Bestimmungen enthalten, die sich in den Rechtsfolgen widersprechen und deren Vorrang sich auch nicht durch Auslegung ermitteln lässt.» Da ist er ganz, der Kafka Franz. Und seit hundert Jahren beschäftigt er mit seinem literarischen Vermächtnis die, die sich um dessen Auslegung bemühen.

Ulrich Fischer: «Alles . . . restlos und ungelesen zu verbrennen». Kafkas letzter Wille – eine juristische Analyse. Wallstein-Verlag, Göttingen 2024. 112 S., Fr. 28.90.

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