Kann man als Hobbysportler dem Geheimnis des 100-Meter-Laufs auf die Spur kommen? Die Umsetzung eines Silvestervorsatzes.
«Mach das nicht!» So lautet der Ratschlag eines befreundeten Sportlehrers, als ich ihm Ende Januar von meinem Plan erzähle. Ich will wissen, wie schnell ich eine Strecke von 100 Metern rennen kann. Ich bin 62 Jahre alt, ein mässig trainierter Hobbysportler, der im Winter langlaufen geht und im Sommer Velotouren unternimmt. Am Silvesterabend habe ich den Vorsatz gefasst, 100 Meter zu rennen. Kurz davor hatte ich vergebens versucht, Tickets für den Olympiafinal über 100 Meter in Paris zu ergattern.
Warum 100 Meter? Der schnellste Mensch ist nicht derjenige, der den Marathon am schnellsten rennt, sondern die 100 Meter. Es ist die Königsdisziplin an den Olympischen Sommerspielen, seit 1896 bei den Männern, seit 1928 bei den Frauen. Ein Mythos! «Wenn schon 100 Meter, dann schwimmen», rät der vernünftige Sportlehrer, «das ist gut für die Gesundheit.» Schon, aber der schnellste Mensch ist der 100-Meter-Läufer, nicht der 100-Meter-Schwimmer.
Also einmal ein erster Test im Februar auf der Bahn, ohne Training, auf der frei zugänglichen Sportanlage des Gymnasiums Lerbermatt in Köniz. Da unweit von hier eine 400-Meter-Leichtathletik-Anlage liegt, wird diese 100-Meter-Gerade ausserhalb des Schulbetriebs kaum genutzt. Das Letzte, was ich brauche, sind Zuschauer. Noch nie im Leben bin ich 100 Meter gesprintet. Unterwegs merke ich erst, wie weit das ist. Die Uhr stoppt bei 18,7 Sekunden. Darauf lässt sich aufbauen.
Der Weltrekord, gelaufen von Usain Bolt am 16. August 2009 an den Leichtathletik-WM in Berlin, liegt bei 9,58 Sekunden.
Wie trainiert man Sprints? Die verschiedenen Ratgeber im Netz empfehlen Krafttraining für Beine und Arme sowie Rumpfkrafttraining. Zielführend sind kurze, intensive Vollbelastungen mit Sprints und Steigerungsläufen, aber auch kurze, schnelle Treppenläufe. Sehr wichtig sind die Erholung und die Lockerung zwischen den Läufen. Als idealer Mix für eine Trainingseinheit werden 20 bis 30 Prozent Vollgas und 70 bis 80 Prozent Erholung und Dehnung bezeichnet. Tönt recht gemütlich.
Während beim Joggen möglichst kräfteschonend gelaufen wird, um lange und gleichmässig durchzuhalten, wird beim Sprint sofort alle Energie aufgewendet, bis keine mehr da ist. Das ist schneller der Fall, als man denkt.
Die Erklärung dafür ist einfach. Ausdauersport basiert auf den langsamen Muskelfasern, welche mit geringem Aufwand dauerhaft belastet werden können – das richtige Training vorausgesetzt. Für schnelle und kraftvolle Bewegungen hingegen sind schnelle Muskelfasern zuständig. Diese kontrahieren sehr schnell, brauchen viel Energie und ermüden rasch.
Im Durchschnitt hat jeder Mensch etwa gleich viele schnelle und langsame Muskelfasern. Doch je nach genetischer Voraussetzung und spezifischem Training unterscheidet sich diese Verteilung stark. Wissenschaftlich belegt ist, dass Menschen westafrikanischer Herkunft in der Regel einen höheren Anteil an schnellen Muskelfasern haben. Schnelle Muskelfasern sind zudem etwas dicker als langsame. Deshalb sind Sprinterinnen und Sprinter muskelbepackt, während Marathonläuferinnen und -läufer asketisch aussehen.
Der Spiegel sagt mir, dass ich weder asketisch noch muskulös aussehe.
Mehr noch: Mit zunehmendem Alter, bereits ab 30, baut der menschliche Körper Muskelmasse ab, verstärkt ab 60 Jahren, was ich aus eigener Erfahrung bereits vermutete. Dieser Verlust an Muskelkraft betrifft vor allem die schnellen Fasern. Auch das noch.
Zwei Läufe mit voller Geschwindigkeit: ein Anfängerfehler
Ich muss also ins Material investieren. Genau 100 Franken gebe ich in den nächsten paar Wochen aus: 39 Franken 90 für ein Paar Leichtathletiknagelschuhe (Einsteigermodell). «Ich muss eine Bestellung abholen», sage ich im Laden und vermeide so die naheliegende Frage der Verkäuferin, wozu ich Sprintschuhe brauche. Dazu kommen 6 Franken für eine Zeitmess-App auf dem Smartphone (samt Zielfoto) und 54 Franken 10 für einen Startblock (inklusive Versandspesen). Ein funktionales T-Shirt in Blau und eine enge kurze Jogginghose in Schwarz habe ich noch von früher im Schrank.
Ein zweiter Versuch, mit Nagelschuhen, aber noch ohne Startblock. Die Schuhe sind sehr leicht und erstaunlich bequem. Und schnell, 17,26 Sekunden, ich bin begeistert. Am besten gleich noch ein zweiter Lauf, es geht noch schneller. Aber es folgen 17,49. Nach dem Zieleinlauf ist mir schlecht, mein Herz schlägt auch nach zehn Minuten noch heftig. Und ich spüre schon ein deutliches Ziehen an der Sehne, die vom Oberschenkel aussen am Knie vorbei zum Unterschenkel geht. Stunden später hinke ich deswegen. Am nächsten Tag plagt mich heftiger Muskelkater am Oberschenkel, schuld sind die Adduktoren.
Die Sportlehrer sagt: Beim Trainieren soll möglichst selten über die ganze Sprintdistanz voll belastet werden. Falls doch, dann sind 48 bis 72 Stunden Pause angesagt. Meine zweimal nacheinander im Höchsttempo absolvierten 100 Meter muss ich als schmerzhaften Anfängerfehler abbuchen.
Mitte April herrscht endlich Sprintwetter, und ich gehe an einem Samstagmittag motiviert auf die Tartanbahn, die wie erhofft erneut leer ist. Natürlich wärme ich die Muskeln zuerst ausgiebig auf und dehne sie, indem ich die Fersen ans Gesäss ziehe. Wohl etwas zu stark, denn nun zwickt es leicht im rechten Oberschenkel. Trotzdem jogge ich problemlos von der Ziellinie zum Start. Aber ein erster explosiver Startversuch verursacht sofort stichartige Schmerzen im Oberschenkel. Trainingsabbruch.
Es folgen zwei Wochen Kälte, Regen und Schnee. Das wäre kein Problem für lockere Dauerläufe im Gelände, aber an Sprinttraining auf der Bahn ist nicht zu denken.
Aus dem Startblock schiessen: eine Herausforderung
Am 10. Mai bin ich erstmals mit dem Startblock auf der Bahn. Damit lässt sich eine halbe Sekunde gewinnen, rede ich mir ein. Ich starte explosiv, tief unten, damit die Kraft auf den ersten Metern nach vorne geht. Zu tief, wie sich sofort herausstellt. Nach zwei Metern liege ich am Boden, es reichte kaum zum Stolpern. Die ungewohnt tiefe Vorlage war zu viel für meinen Gleichgewichtssinn. Die drei Hobbybasketballer neben der Sprintbahn, die mich schon beim Installieren des Startblocks verstohlen beobachteten, sind zum Glück nicht mehr da. Scheitern heisst lernen. In meinem Fall: Ich kehre zum Hochstart zurück, aber mit einem Startblock, zum Abstossen.
Es folgen zwei, drei Trainings pro Woche ohne Zeitmessung. Die ungedämpften Sprintschuhe, das merke ich jetzt, sind nicht die Freunde des Schienbeins. Deshalb trainiere ich öfters mit den Joggingschuhen, das tut weniger weh. Und zu Hause mache ich weiterhin täglich Liegestützen und renne regelmässig das Treppenhaus hoch, jedes zweite Stockwerk im Schnelltempo. Da die Nachbarschaft Lift fährt, statt die Treppen zu benutzen, muss ich mich nie jemandem erklären.
Dann, Ende Mai, wieder Ernstfall mit Zeitmessung, inklusive nervöser Anspannung. Achtung, fertig, los! Der Start gelingt gut, leicht gebeugt aus dem Startblock, ein paar kurze Schritte mit kräftigem Abstoss, dann ganz aufrichten, grössere Schritte, mit den Armen voll ausziehen, grosse Schritte, den Blick bereits auf die Ziellinie gerichtet, 70 Meter, jetzt der Endspurt, aber die Beine werden bereits müde, die Sehnen rufen nach Entlastung, doch das ist jetzt keine Option, also weiter voll pushen und dann endlich im Ziel. 16,49 Sekunden. Das ist es, was mein Körper hergibt.
Die Sehne aussen am linken Knie meldet sich schon Minuten später wieder unangenehm. Eine schnellere Zeit, das spüre ich, wird es auch mit mehr Trainingsaufwand nicht mehr geben. Am nächsten Tag beschliesse ich, meine sehr kurze Sprinterkarriere auf dem Höhepunkt zu beenden. Was ich gelernt habe? Der 100-Meter-Lauf ist eine komplexe und spannende Leichtathletikdisziplin. Aber Sprinten macht in meinem Alter wenig Spass – und ergibt noch weniger Sinn. Der Silvestervorsatz war eine Schnapsidee.
Wenn es unbedingt 100 Meter sein müssen: vielleicht doch lieber im Schwimmbad.