Manche Aktien scheinen gemessen an üblichen Bewertungsmassstäben immer noch günstig zu sein. Die Frage lautet, ob sich ein Engagement tatsächlich lohnt oder ob die tiefe Bewertung ihre guten Gründe hat.
Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) ist eine populäre Kennzahl, um anzuzeigen, ob eine Aktie tief oder hoch bewertet ist, sprich: ob sie billig oder teuer ist. Der Aktienkurs wird dafür ins Verhältnis gesetzt zum geschätzten Gewinn, den das Unternehmen je Titel im laufenden oder in einem künftigen Jahr erzielen soll. Das Prinzip lautet, je tiefer das KGV, umso attraktiver ist die Aktie bewertet. Doch was heisst das für ihr Kurspotenzial?
The Market nimmt drei Unternehmen unter die Lupe, die in diesem Spannungsfeld stehen – ein grosses: Holcim, ein mittleres: Adecco, und ein kleines: Mobilezone.
Der US-Leitindex S&P 500 hat zurzeit gemäss Bloomberg ein vorausschauendes KGV von 21, anhand des geschätzten Gewinns über die nächsten zwölf Monate. Der Schweizer Leitindex SMI weist ein KGV von 18 auf. Gegenüber diesem Schnitt sehen die Valoren des Baustoffkonzerns Holcim mit einem KGV 2024 von unter 14 billig aus, wie diejenigen des Personaldienstleisters Adecco oder des Telecomspezialisten Mobilezone mit einem KGV von jeweils gut 11.
Doch das Kurs-Gewinn-Verhältnis bietet höchstens eine erste Orientierungshilfe. Es muss in Zusammenhang mit dem längerfristigen Wachstumspotenzial des Unternehmensgewinns, der Rentabilität und generell der Qualität des Geschäftsmodells gesetzt werden. Aussagekräftig ist auch ein Vergleich der Unternehmensbewertung mit dem eigenen mehrjährigen Durchschnittswert wie mit den Bewertungen direkter Konkurrenten.
Holcim: eine Strafbewertung
Die Herstellung von Zement ist energieintensiv, und sie verursacht einen hohen CO2-Ausstoss. Aufgrund der Umweltbelastung haben Aktien von Zementherstellern in einer Zeit, da nachhaltige Anlagen bei Investoren und Ratingagenturen einen immer höheren Stellenwert einnehmen, einen schweren Stand.
Das trifft auch den Baustoffkonzern Holcim, obwohl er in seinem Sektor noch als «sauberstes» Unternehmen gilt. Seine Titel sind wie die seiner Konkurrenten – gemessen am KGV oder am Verhältnis von Unternehmenswert zu Betriebsergebnis Ebitda (EV/Ebitda) – tiefer bewertet als solche aus weniger problematischen Industrien. Remo Rosenau, Leiter Research bei der Helvetischen Bank, erkennt darin eine primär ESG-induzierte «Strafbewertung», worunter der gesamte Sektor zu leiden habe.
Um das schädliche Image abzustreifen und den Aktienkurs zu fördern, geht Holcim mehrere Wege. Der Konzern strebt danach, die CO2-Emissionen zu reduzieren und möglichst «grünen» Zement zu produzieren, mit einigem Erfolg.
Ein zentrales Element der Unternehmensstrategie ist für Analyst Rosenau die Transformation, die Holcim vorantreibt. So ist das Unternehmen 2021 ins Geschäft mit Dachabdichtungs- und -isolierungssystemen eingestiegen. Diese Sparte Solutions & Products (Dachsysteme, Fassadenisolationen, Mörtel) wird weiter ausgebaut, um die Abhängigkeit vom Zement zu mindern: Ihr Anteil am Konzernumsatz hat sich über fünf Jahre auf 21% mehr als verdoppelt, während der des Zementgeschäfts von 61 auf 45% gesunken ist.
Spin-off soll Mehrwert schaffen
Im Januar hat Holcim auch die Absicht verkündet, das nordamerikanische Geschäft abzuspalten und, im Verlauf von 2025, in den USA separat zu kotieren. Auch diese Massnahme soll Mehrwert schaffen. Der von Holcim abgespaltete Teil dürfte als rein amerikanisches Unternehmen in einer noch besseren Position sein, um von den gewaltigen Infrastrukturprogrammen in den USA zu profitieren. Rosenau von der Helvetischen Bank sagt, dass der Spin-off den Aktien von Holcim weiteres Potenzial verschafft hat, was die starken Kursavancen seit einigen Wochen auch zeigen.
An der US-Börse geniessen ähnlich gelagerte Gesellschaften tatsächlich klar höhere Bewertungen: Die Baustoffunternehmen Vulcan Materials und Martin Marietta Materials werden dort beispielsweise zu einem EV/Ebitda von über 17 gehandelt. Dem irischen Konkurrenten CRH, der seine Valoren an der US-Börse hat kotieren lassen, wird ein Vielfaches von fast 10 zugestanden, während Holcim an der Schweizer Börse ein EV/Ebitda von nur 8 erreicht. Paul Schibli, Senior Portfolio Manager bei Swiss Rock Asset Management, gibt aber zu bedenken, dass die Bewertungen in den USA dank den Subventionsprogrammen so stark gestiegen seien und wohl einen Gipfelpunkt erreicht hätten.
Was machen Schweizer Investoren, die keine US-Aktien im Depot halten wollen oder können? Ein Dual Listing biete ihnen allenfalls einen Ausweg, meint Schibli. Sie könnten die ihnen zugeteilten Titel von Holcim USA behalten, falls die neuen Papiere sowohl an der US- wie an der Schweizer Börse kotiert werden.
Der erfahrene Anlageexperte hat vor dieser Ausgangslage die einzelnen Teile von Holcim taxiert und in einer Sum-of-the-Parts-Analyse für das Ganze einen fairen Wert von 83 Fr. je Aktie errechnet, während der Kurs derzeit bei 80.58 Fr. liegt. Nach einem Kursanstieg um die 45% seit Oktober seien die Holcim-Valoren historisch betrachtet zudem nicht wirklich billig, denn das vorausschauende KGV sei mit gegenwärtig 14 über dem langfristigen Durchschnitt, der bei gut 12 liege.
Zu berücksichtigen ist allerdings, dass Holcim heute ein anderes Unternehmen ist als in früheren Jahren, in denen die Konzernführung von Übermut und Drang zu Grösse beseelt war. Der Wandel hin zu einer aktionärsfreundlicheren Einstellung kam mit Jan Jenisch.
Rentabilität bezeugt Wandel
Unter dem Deutschen, der im September 2017 das Amt als CEO antrat und sich ab nächstem Mai auf die Rolle als Verwaltungsratspräsident fokussieren wird, ist Holcim rentabler geworden. Schibli gesteht Jenisch zu, Trends richtig antizipiert und seine Ziele stets erreicht oder übertroffen zu haben.
Ein wichtiges Argument zugunsten von Holcim und einen Beleg für den Wandel des Unternehmens sieht Rosenau in der zunehmenden Fähigkeit, Mehrwert für die Aktionäre zu schaffen. Seit fünf Jahren übersteigt die Rendite auf das investierte Kapital (ROIC) bei Holcim den gewichteten Kapitalkostensatz – während in den Jahren zuvor immer wieder das Gegenteil der Fall war und das Unternehmen Aktionärswert vernichtet hatte.
Aus diesem Grund vertritt auch The Market die Meinung, dass die Holcim-Aktien eine bessere Bewertung verdienen.
Adecco: ein schwieriger Fall
Die einen Investoren mögen Adecco, die anderen wollen vom Personaldienstleister nichts mehr wissen. «Adecco ist ein schwieriger Fall», sagt Schibli von Swiss Rock Asset Management. Er ist nicht grundsätzlich gegen ein Engagement in diesen Aktien eingestellt, aber er sagt, dass sie sich nicht für eine Kaufen-und-Halten-Strategie eignen.
Die Adecco-Titel entwickeln sich vielen Jahren weit unterdurchschnittlich. Sie sind deshalb 2020 auch aus dem Schweizer Leitbarometer SMI gefallen.
Mit der Personalvermittlung ist das Unternehmen in einem zyklischen Geschäft tätig. Üblicherweise beginnt der Umsatz mit einem Vorlauf von drei bis vier Monaten vor dem Bruttoinlandprodukt anzuziehen, weiss Schibli. Er fragt sich jedoch, ob der laufende Zyklus besonders sei und anders verlaufe als frühere Zyklen.
Die Zeit der Covid-Pandemie war für die Personalvermittlungsbranche schwierig. Der folgende Fachkräftemangel hat bewirkt, dass viele Unternehmen auch bei schleppendem Geschäftsgang Mitarbeiter nicht entlassen, sondern sie weiterbeschäftigt haben. Die Arbeitslosenraten sind tief, aber der Temporärstellenmarkt wächst wenig, bemerkt Schibli. Eine Bestätigung dafür liefert der jüngste Ausblick von Adecco, gemäss dem der Umsatz in den ersten zwei Monaten 2024 leicht gesunken ist.
Dazu agierte die Gruppe in der Pandemie unglücklich. So verlor sie 2021 deutlich Marktanteile. Die Wende kam mit dem neuen CEO Denis Machuel, der sein Amt im Juli 2022 angetreten hat – seit dem darauffolgenden Quartal zeigt Adecco eine klar bessere Umsatzentwicklung als etwa die niederländische Randstad und hat Marktanteile zurückgewonnen.
Wie die Zürcher Kantonalbank vermerkt, ist das sich bei Adecco stark von der Konkurrenz unterscheidende Umsatzwachstum «weiterhin auf den neuen CEO und einen neuen Anreiz für den Vertrieb zurückzuführen». Nur zeigt die Wachstumskurve eben für alle weiterhin nach unten: Im Schlussquartal 2023 hat der Umsatz von Adecco organisch nur 1% zugelegt, während Randstad gar das vierte Quartal in Folge geschrumpft ist.
Profitabler werden
Wie der Baustoffkonzern Holcim strebt Adecco danach, sich zu transformieren und so profitabler zu werden. 2022 hat sie die Übernahme der Beraters Akka Technologies im Wert von 2 Mrd. € vollzogen und ihn mit ihrer Sparte Modis kombiniert. Unter dem Namen Akkodis hält die Einheit eine führende Rolle in der Technologie- und Digital-Engineering-Beratung.
Die Investoren nahmen die Übernahme anfänglich mit Skepsis auf. Portfolio Manager Schibli wertet es als positiv, dass Akkodis im wachsenden Bereich der Technologie tätig und weniger zyklisch als das angestammte Personalvermittlungsgeschäft ist.
Wie Akkodis bietet auch die Einheit LHH (Fachkräftevermittlung, Weiterbildung, Karriereberatung) eine höhere Profitabilität. Die Personalvermittlung von Adecco trägt aber mit zuletzt 78% den Löwenanteil zum Umsatz bei.
Ein Argument reicht nicht
Als gutes Argument für Adeccos Aktien wird die hohe Dividendenrendite von derzeit 7,1% ins Feld geführt. Das Unternehmen hat jedoch die nun zur Auszahlung gelangende Dividende von 2.50 Fr. nicht verdient, angesichts eines Gewinns 2023 von 1.94 € je Titel. Die Dividendensumme von etwa 430 Mio. € wird durch den freien Cashflow von 354 Mio. € nicht gedeckt.
Die hohe Ausschüttung lässt sich, positiv formuliert, als Zeichen deuten, dass die Konzernführung optimistisch ist, 2024 wieder mehr freien Cashflow zu erwirtschaften. Immerhin werden nun einige Sonderkosten aus dem Vorjahr wegfallen.
Die Adecco-Valoren werden mit einem geschätzten EV/Ebitda von gegen 9 etwas höher gehandelt als die von Randstad (unter 8) und ManpowerGroup (gut 8). Dies zusammen mit den bestehenden Unsicherheiten und dem schwierigen Geschäftsmodell führt zum Schluss, dass sich ein Engagement in den Adecco-Papieren nicht aufdrängt.
Mobilezone: Erfolgsgeschichte
Der auf die Schweiz und Deutschland fokussierte Telecomspezialist Mobilezone gehört zu den Mauerblümchen an der Börse. Einst war der Bankier und Financier Martin Ebner via Patinex mit 28% daran beteiligt. Im Frühjahr 2017 stieg er in mehreren Schritten aus, und innerhalb von drei Jahren sank der Aktienkurs um fast die Hälfte auf noch knapp über 7 Fr.
Zuletzt haben die Aktien einen Zwischenspurt eingelegt und sind seit Ende Januar um rund 14% auf 14.78 Fr. gestiegen. Portfolio Manager Schibli erklärt den jüngsten Kursanstieg damit, dass das Management von Mobilezone im August, nach dem ersten Halbjahr 2023, das Jahresziel nach unten anpasste, aufgrund des schwierigen Umfelds in Deutschland mit der starken Konkurrenz von Saturn und MediaMarkt. Letztlich sei es dann doch besser gelaufen als gedacht, und der Telecomspezialist habe für 2023 recht gute Zahlen ausgewiesen.
Derzeit sind Mobilezone mit einem vorausschauenden KGV von gut 11 und einem EV/Ebitda um 8,5 bewertet. Diese Werte liegen gemäss Schibli eher am oberen Rand der langfristig gewohnten Spanne. Die Dividendenrendite gehört traditionell zu den höchsten unter den Schweizer Börsengesellschaften und beträgt nun 6,1%.
Für 2023 schüttet Mobilezone 0.90 Fr. je Aktie aus: Die Dividendenausschüttungsquote liegt mit 79% am oberen Ende der neu definierten Bandbreite von 60 bis 80% des Gewinns. Bange um die Zukunft muss den Investoren aber nicht werden.
Mobilezone peilt für 2024 eine Zunahme des Betriebsgewinns Ebit von 65,7 auf 68 bis 75 Mio. Fr. an. Schibli hält das Ziel für sehr realistisch, auch weil das Telecomunternehmen in diesem Jahr Kosteneinsparungen von etwa 5 Mio. Fr. erzielen dürfte. Dazu werde 1 Mio. Fr. an Sonderaufwand wegfallen, den die überraschende Betriebsschliessung der Schweizer Vertriebsgesellschaft der Oppo-Smartphones im letzten Jahr verursacht habe.
MVNO-Geschäft als Treiber
Immer bedeutender wird für Mobilezone das Geschäft als Mobile Virtual Network Operator (MVNO). Ein MVNO mietet als Zwischenhändler bei grossen Mobilfunknetzbetreibern wie Swisscom oder Sunrise Kapazitäten und verkauft sie günstig an seine Kunden weiter.
In der Schweiz agiert Mobilezone etwa mit der Tochter TalkTalk in diesem Geschäft. Der grosse Markt in Deutschland ist dafür allerdings noch weit wichtiger. Insgesamt dürfte der MVNO-Bereich gemäss unternehmenseigener Prognose 2024 ein Kundenwachstum von etwa 20% verzeichnen. Zudem soll sein Beitrag zum Ebitda der Gruppe «weiter bedeutend zunehmen», zuletzt betrug er schon fast 30%.
Schibli geht davon aus, dass der MVNO-Bereich in diesem Jahr den Ebit um 4 bis 5 Mio. Fr. steigern kann. Aus Sicht des Anlageexperten ist für Mobilezone denn auch ein Ebit von 75 Mio. Fr. – und damit das obere Ende der Zielspanne – absolut erreichbar.
Argumente für eine Empfehlung
Das Unternehmen wird also seine attraktive Dividendenpolitik weiterführen können. 2022 wurde zudem ein neues Aktienrückkaufprogramm lanciert – infolge dreier Übernahmen wird es aber in diesem Jahr, wie schon im letzten, ausgesetzt. Das spricht für die Umsicht der Unternehmensleitung.
Der Umstand, dass der bei Übernahmen bezahlte Goodwill jeweils direkt mit dem Eigenkapital verrechnet wird, erklärt, weshalb die Eigenkapitalquote mit knapp 7% so tief ist. Angesichts eines Verhältnisses von Nettoverschuldung zu Ebitda von 1,2 spricht die Zürcher Kantonalbank aber zu Recht von einer «aktuell sehr soliden Bilanz».
Für den Telecomspezialisten spricht auch die hohe Rendite auf das investierte Kapital, dank der er stets Mehrwert schafft. The Market meint, dass Mobilezone eine Erfolgsgeschichte ist und es bleiben wird. Deshalb sehen die Aktien nicht nur günstig aus, sondern sind auch preis- und empfehlenswert.