Freitag, September 27

Fehlende Dokumente, dubiose Vermittler und ignorierte Warnungen: Eine neue Studie zeigt, wie Schweizer Behörden im Namen einer guten Tat Kinderrechte verletzten.

Den ersten Baum ihres Lebens sah Lila Birrer mit drei. 1995 war das, als ihre Adoptiveltern sie abholten. Es war ein warmer Augusttag im indischen Gliedstaat Bangalore. Zum ersten Mal durfte Lila ihr Zuhause, ein Kinderheim, verlassen.

«Die Strassen, die Leute, die Blätter, die von den Bäumen fielen: Alles war neu», sagt sie. «Auch die Liebe, die ich plötzlich erfahren durfte.»

Davor: nur Erinnerungsfetzen. Ein Schrank mit Spielsachen. Ein hohes Gitter. Ein Wachhund. Die vielen anderen Kinder. «Wir durften nicht hinaus», sagt Birrer. «Uns durfte es nicht geben.»

Warum, das weiss sie heute. Glaubt es zu wissen. Aus den Dokumenten, die ihre Familie damals vom Heim und von der Adoptionsvermittlerin, dem bekannten Hilfswerk Terre des Hommes, erhielt. Ihre leibliche Mutter, steht darin, sei bei ihrer Geburt 13 oder 14 gewesen und schwanger, ohne es zu wollen. Um Schande und Ächtung zu entgehen, habe sie Lila – kurz für Leelavathi – aufgegeben.

So kam die kleine Lila in die Schweiz, zu einem Ehepaar – sie Lehrerin, er Informatiker –, das sich Kinder wünschte, aber keine haben konnte. Lila Birrer wurde geliebt. Sie wurde zur Schweizerin.

Da war zwar immer dieses nagende Gefühl: «Dieser ständige Hintergedanke: Ich genüge nicht. Ich darf niemanden enttäuschen. Niemand soll je denken: Warum nur haben wir sie geholt?»

Da war in der Schule das Hänseln wegen ihrer Hautfarbe, das Mobbing, die Schläge. Bis sie an eine Privatschule wechselte.

Trotzdem findet Birrer: «Ich hatte grosses Glück. Meine Geschichte ist eine der guten Storys.»

Heute ist sie 32, führt ihr eigenes Coiffeurgeschäft, ist zufrieden mit sich und ihrem Leben. Birrer spricht schnell, lacht ansteckend, analysiert scharf. «Wenn du eine Geschichte wie die meine erlebst», sagt sie, «wird dich ein Gefühl immer begleiten: Du musst dankbar sein, ein Dach über dem Kopf zu haben.»

Schwierigkeiten: klar. Aber vor allem Glück, Dankbarkeit und Happy End. Mehr, dachte Birrer lange, gebe es über Adoptionen wie die ihre nicht zu sagen. Heute fragt sie sich: «War ich naiv?»

Die Lüge

Delhi, 1982. Zehn Jahre vor Lila Birrers Geburt. Eine Schweizer Ordensschwester steht vor einem lokalen Gericht und lügt.

Schwester Waldtraut aus der St. Galler Gemeinde Wangs hat in Indien eine Mission. Sie will Kinder retten. «Waisen», «Findelkinder», «Verlassene», wie man sie damals gerne nennt. Auch wenn sie das nicht immer sind.

Nun also steht die Schwester vor Gericht und bezeugt eine gute Tat: Sie hat für ein Mädchen Pflegeeltern im fernen Kanton Schwyz gefunden. Die leiblichen Eltern, sagt sie unter Eid, seien unbekannt. Sie hätten ihr Kind ausgesetzt. Die Richter glauben ihr und erlauben die Ausreise.

Das Mädchen kommt in die Schweiz, in seine neue Familie. Dann, ein paar Wochen später, schickt die Schweizer Botschaft in Delhi ein dringendes Telegramm nach Bern. Chiffriert, damit ja nichts nach aussen dringt.

Darin steht: Die leibliche Mutter ist weder unbekannt, noch wollte sie ihr Kind weggeben.

Im Gegenteil: Sie will es zurück.

Für die Schweizer Behörden eine peinliche Angelegenheit. Denn Schwester Waldtrauts indischer Anwalt – der Mann, der die Adoption rechtlich eingefädelt hat – ist gleichzeitig der Vertrauensanwalt der Schweizer Botschaft.

Ob man die Schwyzer Eltern nicht zur Rückgabe bewegen könne, fragt ein Botschaftsmitarbeiter nach Bern. Von dort heisst es bald, das Paar verzichte auf das Kind, aber erst, wenn es Ersatz erhalte – in «absolut einwandfreiem» Zustand.

Das Mädchen wird daraufhin ausgetauscht und wieder zu seiner Mutter gebracht. Was wäre gewesen, wenn seine indische Familie sich nicht hätte wehren können? In wie vielen anderen Fällen hat Schwester Waldtraut vor Gericht gelogen, ohne dass es öffentlich wurde?

Diese Fragen stellt und untersucht damals niemand. Die Nonne darf weiter Adoptivkinder vermitteln, mit dem Segen der Schweizer Botschaft. Der Botschafter schlägt zwar noch vor, jeweils das schriftliche Einverständnis der leiblichen Eltern einzuholen. Doch Schwester Waldtraut lehnt ab.

In einer Aktennotiz heisst es: «Sie versteht nicht, wie jemand ‹diese gute Sache infrage stellen› kann.»

Das Ausmass

Zwischen 1979 und 2002 wurden 2278 Kinder aus Indien von Schweizer Eltern adoptiert, mehr als aus jedem anderen Land. Es war ein regelrechter Boom: 1974 stammten 7,8 Prozent der adoptierten Kinder von ausserhalb Europas – 1998 waren es rund 50 Prozent.

Zu den Geschichten hinter diesen Zahlen gehört jene von Lila Birrers Happy End – ebenso wie die von Schwester Waldtraut und dem Kind, das sie gegen den Willen der Mutter in die Schweiz brachte.

Das Schöne und das Schreckliche: Bei Adoptionen aus Entwicklungsländern liegt es nahe beieinander. So nahe, dass das eine auch einmal für das andere gehalten wird.

Wozu das führen kann, zeigt eine neue Studie, die ein unabhängiges Forscherinnenteam am Freitag in Zürich präsentiert hat. Sie nimmt zum ersten Mal die Schweizer Praxis bei Adoptionen aus Indien während ihrer Boomzeit – 1973 bis 2002 – unter die Lupe.

186 Adoptionen in den beiden Kantonen Zürich und Thurgau hat die Studie untersucht; diese beiden Kantone hatten die Aufarbeitung in Auftrag gegeben, angeregt von ähnlichen Studien zu Adoptionen aus Sri Lanka. Was die Autorinnen vorfanden, kann man mit einem Wort beschreiben: Staatsversagen.

Indische Adoptivkinder kamen meist ohne amtlich bescheinigte Personalien in die Schweiz. Bewilligungen, die zwingend vor der Einreise nötig gewesen wären, wurden erst danach ausgestellt. Die Kontrolle der neuen Eltern durch die Behörden war lasch.

Das Forschungsteam hat Hinweise auf Gewalt gefunden, mindestens einen Fall von mutmasslichen sexuellen Übergriffen. Und ein zweijähriges Mädchen, das nach seiner Ankunft drei Wochen lang allein im Spital lag, zwecks «Quarantäne». Dort war sie Teil von Medikamentenversuchen. Das Setting verordnet – ohne Rechtsgrundlage, wie sich nun herausstellt – hatte das Hilfswerk «Terre des hommes».

Das Fazit der Studie, aus der auch die historischen Beispiele in diesem Artikel stammen: Es kam während Jahrzehnten zu «fragwürdigen und illegalen Adoptionen». Zu wie vielen genau, weiss niemand. Weil die Verfahren so mangelhaft dokumentiert und kontrolliert wurden, dass eine Nachverfolgung heute oftmals unmöglich ist.

Die Lücken

Eine Auswahl von 48 Fällen untersuchten die Forscherinnen im Detail, sie trugen dazu Archivalien aus acht Archiven zusammen. In allen Fällen fehlte eine schriftliche Einverständniserklärung der leiblichen Eltern. Diese Zustimmung ist laut Schweizerischem Zivilgesetzbuch zwingende Voraussetzung für jede Adoption.

Wenn es um indische Kinder ging, reichte offenbar das Ehrenwort von Vermittlerinnen wie Schwester Waldtraut.

Hiesige Adoptionsvermittler, so die Studie, hätten eine Praxis entwickelt, «die den rechtlichen Vorgaben in der Schweiz widersprach». Pro Kind erhielten sie 6000 bis 20 000 Franken.

Die Schweizer Behörden hätten dies geduldet, ja dem Tun aktiv Vorschub geleistet. Etwa indem Diplomaten in Indien adoptionswillige Paare an private Vermittler verwiesen oder Einreisebewilligungen für die Schweiz gewährten.

Von «systematischen amtlich konstituierten Gesetzesverstössen» spricht die Studie. Besonders die Kantone, die Adoptionsvermittler zu überwachen hatten, leisteten sich Verfehlung um Verfehlung. Diverse Vermittlerinnen waren jahre-, teilweise jahrzehntelang ohne die nötige Bewilligung tätig. Verlangte ein Kanton Aufklärung, zogen sie einfach in den nächsten.

Die Legalität vieler Adoptionen aus Indien sei wegen alldem «fraglich», so die Forscherinnen. Die Armut und die soziale Ausweglosigkeit von Müttern in Indien sei «ausgenutzt», den betroffenen Kindern «das Recht auf Herkunftswissen genommen» worden.

All das ist umso bemerkenswerter, als diese Mängel seit vierzig Jahren immer wieder kritisiert wurden – ohne Folgen. Schweizer Juristen warnten vor Gesetzeslücken, kantonale Beamte erstatteten Meldung an den Bund, Medien berichteten über einzelne Skandalfälle.

Nirgends aber war die Kritik so scharf – und so folgenlos – wie in Indien selbst.

Die Mitwisser

Bombay, Juli 1982. Am High Court, dem obersten Gericht der Stadt, ist ein Richter so richtig wütend.

Ob sein Gericht eigentlich die Abnickstelle für den «Export indischer Kinder» sein solle, fragt er. Wie es sein könne, dass Minderjährige durch das halbe Land gekarrt, ihr amtlicher Wohnsitz «manipuliert» werde – nur um sie schnellstmöglich zur Adoption freizugeben.

Die Adoptionsvermittlung in die Schweiz nennt er «ein gut organisiertes und lukratives Geschäft».

Anlass für diese Tirade in Form eines Gerichtsurteils ist das Vorgehen eines prominenten Adoptionsvermittlers, der laut Urteil Kinder aus anderen Gliedstaaten nach Bombay (dem heutigen Mumbai) transportiert. Statt wie vorgesehen in Heime habe er sie dann jedoch in sein eigenes Vermittlungszentrum gebracht, zwecks Adoption.

Dieser Vermittler – der Anwalt Bertram Shenoi – ist eng mit der Schweiz verbandelt. Er ist der Vertrauensanwalt des Schweizer Generalkonsulats in Bombay. Und er ist der Geschäftspartner einer Schweizerin, die von Meilen am Zürichsee aus indische Adoptivkinder in die Schweiz vermittelt.

Die Frau, Absolventin einer Handelsschule, tut dies zu jenem Zeitpunkt ohne Bewilligung. Sie hat zwar eine bei ihrem Wohnkanton Zürich beantragt, aber eine Absage erhalten. Das hält sie laut Studie nicht davon ab, indische Kinder in die Schweiz zu vermitteln und ihre Dienste in Zeitungsinterviews zu bewerben. Schlagzeile: «Ein Hauch von ‹Tausendundeine Nacht›».

Mehrfach erstatten Beamte Meldung an die Bundesbehörden. Es wird untersucht, abgeklärt, die Überwachung des Duos empfohlen. Schliesslich schafft es auch das empörte Urteil aus Bombay bis in die Berner und Zürcher Amtsstellen.

Dann passiert: nichts. Ausser dass die Vermittlerin ein paar Jahre später doch noch eine Bewilligung erhält.

Zentrale Aktenstücke des Zürcher Jugendamts über den Fall sind übrigens verschwunden. Das heutige Amt für Jugend und Berufsberatung sagt, es habe sie dem Bund geschickt. Dort kamen sie jedoch nie an, ebenso wenig wie im Zürcher Staatsarchiv. Laut der Studie wurden sie aller Wahrscheinlichkeit nach vernichtet.

Auch für Bertram Shenoi hat das Urteil des High Court keine Konsequenzen. Die indischen Behörden lassen ihn weiter gewähren. Der Schweizer Generalkonsul bleibt sein Kunde. Adoption als Geschäftsmodell? Offensichtlich kein Problem.

Wie die Schweizer Diplomaten darüber denken, zeigt eine Aktennotiz, die nur zwei Wochen nach dem Gerichtsurteil verfasst wird. Es geht darin um eine Adoptionsvermittlerin, die Bestechungsgelder bezahlt haben soll, um an Kinder zu gelangen. Sollen ihr deshalb künftig Einreisebewilligungen verwehrt werden?

Die Antwort: Das Bezahlen «kleinerer oder grössere ‹Trinkgelder› unter dem Tisch» dürfe «kein Grund sein, dem edlen Wunsch ehrlich gemeinter Adoption Steine in die Wege zu legen.»

Der Brief

Irgendwo im Archiv des Schweizer Generalkonsulats in Mumbai liegt ein Umschlag. Darin steckt ein Brief, in dem ein Name steht. Es ist ein Name, den Lila Birrer nicht kennt – der Name ihrer leiblichen Mutter.

Der Brief liegt seit 1995 dort, seit ihrer Adoption. So wurde es ihr das ganze Leben lang erzählt.

Das Wissen um den Brief gab ihr Sicherheit, ein Gefühl von Kontrolle, das anderen Adoptierten schmerzlich fehlt. «Ich wusste immer: Er ist da. Ich kann ihn holen. Aber ich muss nicht.»

Und doch hat Birrer auch begonnen, sich Fragen zu stellen. In den letzten Jahren hat sie – von anderen Betroffenen, aus Studien wie der eben erschienenen – immer mehr über problematische Adoptionen erfahren. Über gefälschte Papiere, zweifelhafte Vermittler und Mütter, die ihre Kinder nicht weggeben wollten.

«Es war, als hätte ich einen Deckel vor den Augen gehabt», sagt sie. «Und plötzlich war er weg.»

Seither fragt sie sich, wie all das zu dem passt, was sie erlebt hat: der Liebe, der Zuneigung – der Befreiung, die die Adoption für sie war. Wie das Schöne so nah am Schrecklichen sein kann.

Und sie fragt sich, was passieren würde, wenn sie den Brief aus der Botschaft sähe: Würde sie ihre Mutter finden, sie treffen können? Würde sie das wollen? Und wird der Name im Brief der echte sein?

Vor zwölf Jahren, als Birrer 20 war, reiste sie mit ihrer Familie nach Indien, zur Adresse ihres alten Kinderheims. Die Betreiber – ein Ehepaar – lebten noch dort. Auch der Schrank mit den Spielsachen war noch genau da, wo ihn Lila als Dreijährige zurückgelassen hatte.

Das Paar war freundlich, lud sie zum Essen ein. Doch als Birrer nach ihrer leiblichen Mutter fragte, sagte die Frau: «Du bist jetzt in der Schweiz, du hast dort dein Leben. Sei dankbar dafür. Was hier passiert ist, geht dich nichts an.»

Da war sie wieder, die Dankbarkeit. Lila Birrer fragte nicht weiter. Auch den Brief holte sie damals nicht.

Doch irgendwann, da ist sie sich sicher, wird sie es tun.

Andrea Abraham, Sabine Bitter, Rita Kesselring: «Mutter unbekannt: Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002», Chronos-Verlag, 2024.

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