Ingrid Hieronymi ist überzeugt davon, dass der Sarco nicht nur für «Sterbetouristen» ein Segen ist, sondern auch für Schweizer. Denn nur so lasse sich die Macht der Ärzte brechen.
«Dort würde ich den Sarco hinstellen», sagt Ingrid Hieronymi und deutet auf die grosszügige Terrasse ihrer Attikawohnung in einer Gemeinde im Kanton Schwyz, mit Blick auf den Obersee und Rapperswil. «Ich würde am Abend noch eine grosse Party mit meinen Freunden feiern – und mich am nächsten Tag ohne Bedenken in die Kapsel legen, den Knopf drücken und gehen.»
Hieronymi ist 66 Jahre alt und fühlt sich gesund, die Frage eines Freitods stellt sich für sie selbst noch nicht. Doch die Zentralschweizerin ist überzeugt: Es gibt auch im Inland eine grosse Nachfrage für die Suizidkapsel – und nicht nur bei Sterbewilligen aus dem angelsächsischen Raum. So war sie eine der Ersten, die sich im Frühling gemeldet haben, als Exit International Schweizer Unterstützer für das Projekt suchte. Das ist die Organisation des Sarco-Erfinders Philip Nitschke.
Nitschkes Partnerin Fiona Stewart habe sie für den Vorstand des Vereins The Last Resort (der letzte Ausweg) angefragt, sagt Hieronymi. Das wäre ihr dann aber doch zu viel Aufwand gewesen. Dass die Sarco-Leute sie als Aushängeschild gewinnen wollten, erstaunt nicht. Hieronymi wirkt bodenständig, überlegt und vertrauenswürdig. Sie war einst Co-Präsidentin des Zuger Seniorenverbandes und Stadtschreiberin in Schlieren.
2023 kandidierte sie – erfolglos – als Zuger Grünliberale für den Nationalrat. Sie sagt, sie habe als Tochter eines ehemaligen Verdingbuben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn geerbt und setze sich deshalb gegen «Diskriminierungen aller Art» ein.
Das Leiden der Mutter
Diskriminiert sieht Hieronymi insbesondere Seniorinnen und Senioren, die mit ihrem Leben Schluss machen wollen. Prägend waren dabei die Erfahrungen ihrer Mutter. 2018 hatte diese mit 94 Jahren beschlossen zu sterben. Sie litt an keiner schweren Krankheit, hatte aber viele Beschwerden, die in der Summe dazu führten, dass sie ihr Leben für nicht mehr lebenswert hielt.
Hieronymis Mutter war Mitglied einer Sterbehilfeorganisation, und ein Arzt stellte ihr ein Zeugnis zu ihrer Urteilsfähigkeit aus. Doch weil sie im Vorjahr für einen Monat in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden war, pochte die Sterbehilfeorganisation auf eine Begutachtung durch eine Gruppe von Allgemeinärzten und Psychiatern. Sich einem solchen «Tribunal» aussetzen und ihr Inneres nach aussen kehren: Das wollte die Mutter nicht.
Sie entschied sich zum Sterbefasten. 14 Tage Qual und Agonie, so erinnert sich ihre Tochter. «Sie musste wahnsinnig leiden – und dies nur, weil die Ärzte in der Schweiz immer noch eine Gatekeeper-Funktion haben», sagt Ingrid Hieronymi.
Es braucht keine Ärzte mehr
Tatsächlich erhält heute in der Schweiz niemand gegen den Willen der Mediziner Sterbehilfe. Sie müssen nicht nur die Urteilsfähigkeit bestätigen und ein «unerträgliches Leiden» attestieren, sondern auch das Rezept für das tödliche Mittel Pentobarbital ausstellen, das normalerweise zum Einsatz kommt – oral oder intravenös.
Deshalb erkannte Hieronymi sofort das Revolutionäre des Sarco, als sie 2021 davon hörte: Um ihn zu benutzen, braucht es keine Ärzte. Es reichen eine Organisation wie The Last Resort, die die Suizidkapsel zur Verfügung stellt, und eine Flasche mit Stickstoff, die sich einfach und legal beschaffen lässt.
«Die Vetomacht der Ärzte wird endlich gebrochen», sagt Hieronymi erfreut. Die Aufgabe der Mediziner sei es, die Menschen gesund zu machen oder zumindest ihr Leiden zu lindern. «Aber es ist nicht ihre Aufgabe, zu beurteilen, ob der Sterbewunsch einer Person gerechtfertigt ist oder nicht.»
Strafbar machen würden sich die Vertreter einer Sterbehilfeorganisation nur dann, wenn sie aus eigennützigen Motiven handeln – etwa, indem sie hohe Gebühren für ihre Hilfe verlangen. Doch die Benutzung des Sarco soll vorerst praktisch gratis sein. Deshalb hält Hieronymi die Schlagzeilen von Schweizer Medien, einzelne Kantone würden die Suizidkapsel «verbieten», für «blanken Unsinn».
Nach einem Einsatz des Sarco würde die zuständige Staatsanwaltschaft wohl ein Verfahren eröffnen, das weiss Hieronymi. «Aber man darf davon ausgehen, dass sich herausstellen wird, dass gegen kein Gesetz verstossen worden ist.» Auch die Zulassungsbehörde Swissmedic hat im August betont, dass weder der Sarco noch der Stickstoff, der zum Erstickungstod führt, Medizinalprodukte seien – und es deshalb auch keine Bewilligung brauche.
«Sterben heisst loslassen»
Hieronymi ärgert sich darüber, dass in der öffentlichen Diskussion eine ablehnende Haltung zur Suizidkapsel dominiere: bei Journalisten, Politikern, Vertretern etablierter Sterbehilfeorganisationen oder Ethikern wie Markus Zimmermann, der in der NZZ von einer «sehr unmenschlichen Art des Sterbens» sprach. Hieronymi sagt: «Wenn ich mich in meinem Freundeskreis umhöre, dann meinen viele: Das ist doch eine gute Sache.»
Kritiker sagen, der Tod im Sarco sei einsam, sterbende Menschen wollten jedoch in ihren letzten Minuten ihre geliebten Menschen berühren können. Hieronymi kann das nicht nachvollziehen. «Das ist eine romantisierte Vorstellung des Sterbens. Sterben heisst immer auch loslassen.» Ihre Mutter stammte aus Italien – und Hieronymi erinnert sich, wie sich dort jeweils die ganze Sippe um das Bett von sterbenden Grosstanten versammelt hat. «Alle sassen verweint da, ich fand das furchtbar deprimierend. So möchte ich nicht sterben.»
Hieronymi ist grundsätzlich der Meinung, dass jeder Mensch, der bei klarem Verstand ist und nicht aus dem Affekt heraus handelt, das Recht auf Suizidhilfe haben solle. «Es kann nicht sein, dass die Gestaltung des eigenen Lebens dem Individuum obliegt, sich diese Selbstbestimmung dann jedoch just beim Sterben in nichts auflöst.»
Nicht mehr lebenswert
Es gebe vor allem ältere Sterbewillige, die keine tödliche Krankheit hätten und trotzdem sterben möchten, weil sie ihre Mehrfachbehinderungen als unzumutbar erachteten – etwa den Verlust des Geruchssinns, Inkontinenz, Schwerhörigkeit und wiederholte Stürze. «Das gilt vor allem für Menschen, die früher sehr aktiv waren und ihrem eigenen körperlichen Verfall nicht bis zum bitteren Ende zusehen möchten.» Ob ein Arzt eine solche Lebensmüdigkeit als «unerträgliches Leiden» deklariere, sei völlig ungewiss, sagt Hieronymi.
Sie hat zudem Bedenken, dass es bei einer guten körperlichen Konstitution mit der Suizidmethode Pentobarbital mehrere Stunden dauern könnte, bis der Tod eintrete. «Da ziehe ich es vor, mit dem Sarco innerhalb von wenigen Minuten erlöst zu werden.»
Die Premiere des Sarco, die für den Juli geplant war, musste verschoben werden. Auch weil die Frau, die dafür vorgesehen war, Zweifel bekam und sich zurückzog. Nachher erhob sie schwere Vorwürfe gegen Fiona Stewart und deren Mitstreiter Florian Willet: Diese hätten sie belogen und ausgenutzt. Ingrid Hieronymi hat Stewart mehrmals getroffen und dabei einen guten Eindruck von der Aktivistin und Juristin bekommen.
«Sie engagiert sich stark für den Sarco, der freie Zugang zur Sterbehilfe ist ihre Mission.» Dass es Stewart darum gehen könnte, sich zu bereichern, glaubt Hieronymi nicht. Auch damit, dass der Sarco mit seinem Design auf maximale Aufmerksamkeit ausgelegt ist, hat sie keine Probleme. «Das ist eine nachvollziehbare Strategie: Wer mit seinen Anliegen gehört werden will, muss provozieren.»
Kommt bald die Sarco-Premiere?
Die etablierten Sterbehilfeorganisationen warnen davor, dass der Medienhype um die Kapsel zu einer Verschärfung der Sterbehilferegeln führen könnte – und es haben auch bereits erste Politiker entsprechende Vorstösse angekündigt. Ingrid Hieronymi beunruhigt das nicht.
«Ein paar Exponenten des konservativen Lagers wollen sich nun profilieren. Aber die liberale Sterbehilfepraxis ist in der Schweizer Bevölkerung breit abgestützt.» Jene, die das Rad der Zeit zurückdrehen und die Selbstbestimmung einschränken wollten, würden deshalb spätestens in einer Volksabstimmung scheitern, glaubt Hieronymi.
Sie ist überzeugt, dass der Sarco trotz dem Rückschlag vom Juli bald in der Schweiz zum Einsatz kommen wird, so wie es Fiona Stewart angekündigt hat. «Es gibt einfach nichts, was dagegen spricht.»