Der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck fordert einen «Reformbooster» für Deutschland, der liberale Finanzminister Lindner eine «Wirtschaftswende». In zentralen Fragen sind sie uneins.
Der deutsche Wirtschaftsmotor stottert, aber die wirtschaftspolitischen Mechaniker streiten sich über die Reparatur. Laut dem Jahreswirtschaftsbericht, den der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck am Mittwoch den Medien vorgestellt hat, wird die deutsche Wirtschaftsleistung gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP) im laufenden Jahr preisbereinigt nur um 0,2 Prozent wachsen. 2023 war sie gar um 0,3 Prozent geschrumpft. Damit war Deutschland die einzige hochentwickelte Volkswirtschaft mit einem Rückgang.
Immerhin dürfte die Inflation von 5,9 Prozent im letzten auf 2,8 Prozent im laufenden Jahr zurückgehen, und die Reallöhne sollten wieder steigen. Zum Teil lässt sich die Wachstumsschwäche mit der deutschen Exportabhängigkeit und dem grossen Gewicht energieintensiver Industrien erklären. Doch Habeck räumte ein, dass das Land auch unter strukturellen Problemen leide, die sich über Jahre aufgebaut hätten. Nun brauche es einen «Reformbooster», um die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts zu verteidigen.
Habecks «Reformbooster»
Der Minister hob vor allem zwei Handlungsfelder hervor: den Bürokratieabbau, den man bereits eingeleitet habe, und den Arbeitskräftemangel, der sich in den nächsten Jahren verschärfen werde. Als Ansatzpunkte zur Bekämpfung von Letzterem nennt das Papier unter anderem Bildung, bessere Möglichkeiten für Frauen, bessere Anreize für ältere Menschen, freiwillig länger zu arbeiten, und die bessere Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt. Insgesamt listet der Bericht zehn Handlungsfelder auf, darunter auch Anreize für Investitionen.
Vieles davon ähnelt auf den ersten Blick dem, was auch der liberale Finanzminister Christian Lindner fordert. Sein Ministerium hatte zwei Tage vor Habecks Auftritt in den «Maschinenraum» geladen, eine Berliner Lokalität für Familienunternehmen. Vorgestellt wurde eine beim Ifo-Institut in Auftrag gegebene Studie zum Standortwettbewerb. Das Institut hatte 1541 Experten aus 128 Staaten zu den Stärken und Schwächen ihrer jeweiligen Länder befragt. Für Deutschland ist das Ergebnis ernüchternd: 72 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass sich die Standortbedingungen in den letzten zehn Jahren verschlechtert hätten. Und für die nächsten zehn Jahre wird eher mit einer weiteren Verschlechterung gerechnet.
Lindners Wirtschaftswende
Das mit Abstand wichtigste Handlungsfeld ist laut der Umfrage der Bürokratieabbau, danach folgen Infrastrukturinvestitionen und die Erleichterung von (Arbeits-)Migration.
Mit der Umfrage wollte Lindner seine Forderung nach einer «Wirtschaftswende» untermauern. Ein vom Finanzministerium am Montag vorgelegtes Papier lässt erahnen, was er sich darunter vorstellt. «Deutschland ist träge geworden und braucht ein strukturelles Update», heisst es darin. Derzeit würden konkrete Vorschläge erarbeitet, die in ein Reformprogramm einfliessen sollen.
Inhaltlich nennt das Ministerium nur Stichworte: Senkung der Steuerlast für Unternehmen und Bürger, Stärkung des Arbeitskräfte- und Fachkräfteangebots beispielsweise durch bessere Erwerbsanreize beim Bürgergeld (Sozialhilfe), mehr Flexibilität bei Arbeitszeit und Renteneintritt sowie stärkere Anreize für ausländische Kräfte, Bürokratieabbau, Senkung der Energiepreise unter anderem durch die Erlaubnis von Fracking oder CO2-Speicherung. Im internationalen Vergleich gelte ein nominaler Steuersatz von etwa 25 Prozent für Kapitalgesellschaften als wettbewerbsfähig, betont das Papier. In Deutschland liegt er etwa bei 30 Prozent.
Doch sosehr sich manche Ansätze ähneln, so gross sind die Differenzen zwischen Habeck und Lindner in zentralen Fragen. Eine davon betrifft die Finanzierung. «Wenn die Politik Mut zu strukturellen Reformen beweist, ist all dies möglich im Rahmen der Schuldenbremse», schreibt das Finanzministerium. Lindner will an der Schuldenbremse festhalten, welche die Neuverschuldung eng begrenzt, und hierfür im nächsten Haushalt die Ausgabenwünsche eindämmen und priorisieren.
Habeck hingegen regte Anfang Februar an, Steuervergünstigungen und bessere Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen mit einem «Sondervermögen» zu finanzieren. Sondervermögen aber heisst, Geld für Schulden an der Schuldenbremse vorbei aufzunehmen. Die Grünen neigen zudem dazu, die Wirtschaft mit Subventionen, selektiven Steuervergünstigungen und Detailvorschriften zu lenken. Die Liberalen setzen eher auf Rahmenbedingungen und Anreize etwa durch niedrigere Steuern für alle oder höhere CO2-Preise.
Scholz’ Schweigen
Ob die Ampelregierung die beiden Ansätze noch vor dem Wahljahr 2025 in ein Reformpaket zusammenzuführen vermag, das über Flickschusterei hinausgeht und die derzeitige Unsicherheit überwindet, erscheint fraglich. Umso mehr wüsste man gerne, was Bundeskanzler Olaf Scholz denkt, der Vorarbeiter im Maschinenraum, um im Bild zu bleiben.
Am Dienstag hielt er bei einer Veranstaltung zum 60. Geburtstag des Arbeitgeberpräsidenten Rainer Dulger die Festrede – und liess die Gelegenheit ungenutzt. Der Sozialdemokrat lobte Unternehmertum und Sozialpartnerschaft, versprach erneut Bürokratieabbau – und zählte auf, was die «Ampel» bereits alles getan habe. Doch kein Wort zu nächsten Schritten, nichts Konkretes zu den Finanzen: Fast scheint es, als habe sich der Vorarbeiter in die Pause verabschiedet.
Sie können dem Berliner Wirtschaftskorrespondenten René Höltschi auf den Plattformen X und Linkedin folgen.