Die Geschichte eines Chronisten und seiner Stadt.
An einem dieser trüben Tage vor der Fasnacht steigt ‑minu in seinen kleinen Fiat Cinquecento und begeht ein Sakrileg. Er fährt durch die halbe Stadt zu einer Messehalle in Kleinbasel. Dann wählt er auf seinem Handy die Nummer, die er unter «Mimmi Laternenmalerin» abgespeichert hat. ‑minu hat Champagner und Läckerli dabei, aber auch er kommt erst in die Halle, als ein Sicherheitsmann die Türe öffnet.
In der Halle stehen grosse Installationen für die Basler Fasnacht, die sogenannten Laternen, noch nicht ganz fertig gemalt, aber schon fast. «Lueg, das ist Pinocchio, der sich eine goldene Nase verdient», sagt ‑minu zu mir, als wir vor der Laterne von Mimmi stehen. «Dasch gloge», heisst ihr Sujet. Es geht um die kleine Lüge in einer Beziehung und die grosse Lüge in der Politik. «Hach», sagt ‑minu, als er sich in der Halle umgesehen hat.
Hier wütende Fratzen, dort die nächste düstere Laterne – «Krähen, die das Unglück verkünden». ‑minu geht durch das «globâle door zer Unterwält». «Es ist die Zeit der Tristezza», sagt er.
Niemand darf die Laternen sehen, bevor der Morgestraich beginnt. Die Fasnacht bewahrt und offenbart jedes Jahr von neuem die Geheimnisse von Basel. Aber ‑minu ist die Ausnahme. Er ist jetzt 76 Jahre alt, aber mit seinen Geschichtlein, wie er sie nennt, noch immer der grosse Chronist seiner Stadt. Mehr als hundert Bücher sind von ihm erschienen und unzählige Kolumnen. Mit vielem hat er inzwischen aufgehört, aber die Fasnachtsreportagen in der «Basler Zeitung» schreibt er weiterhin. In diesen Tagen bereitet er sich darauf vor.
«Du hast schon immer über uns geschrieben», sagt Mimmi, die Laternenmalerin, «du bist unser kleiner Paradiesvogel.»
«Jaja», sagt ‑minu.
Die ‑minu-Werdung
Das ist die Geschichte von einem Stadtchronisten, den es so nicht mehr geben wird. Geboren wurde er im Juni 1947 als Hans-Peter Hammel an einem der heissesten Tage im Jahr. «War die Hitze ein Omen?», hat er einmal geschrieben.
Er war der Bub, der «rosa» auf die Welt gekommen war, dann ein junger schwuler Mann, der ungeniert von «vögeln» und «bumsen» sprach. Der Vater war Tramchauffeur, die Mutter hatte einen Feinkostladen – und zusammen hatten sie oft Streit. In den Texten von ‑minu erscheint er selbst, der Sohn, als Schlichter, der mit lauten und bunten Happy-End-Geschichten dazwischengeht. Streit hält er bis heute nicht aus. Als Kolumnist schrieb er über heile Welten.
Er wollte immer auffallen, vielleicht weil er sowieso überall auffiel. An seine erste Fasnacht im Jahr 1955 ging er als «alte Tante»: «ICH SAH AUS WIE EINE STÄNDERLAMPE AUS DER BELLE ÉPOQUE – ABER SO WAS VON SKURRILEM CHIC!» ‑minu war in der Zeitung bald für die vielen Grossbuchstaben bekannt.
In seinem Haus an der Birmannsgasse gab ‑minu in der Weihnachtszeit grosse Benefizbankette – er bekochte bei sich daheim Bundesräte, und als der deutsche Bundespräsident Scheel kam, sperrte die Polizei die ganze Gasse ab.
Zwar hatte er bei der damaligen «National-Zeitung» ausgerechnet in der Wirtschaftsabteilung anfangen müssen. Aber er versuchte sogar die Börsenseite zu dekorieren: «Gar nicht fein ist Bankverein / (morgen soll es besser sein)». Was in den Klammern stand, war auch ein Wunsch an sich selbst. Bald erfand er sich als der erste Klatschkolumnist der Schweiz. Er berichtete nun aus dem Fegefeuer der baslerischen Eitelkeiten.
Inspiriert war er, natürlich, von der Fasnacht. Am Rand der leuchtenden Laternen gab es jeweils ein bisschen Text, Interna aus den Cliquen: Wer hat mit wem? Solche Dinge. ‑minu sah, wie die Leute an der Laternenausstellung viel länger vor diesen kleinen Notizen standen als vor den grossen politischen Sujets. «Ich dachte, das wär’s», sagt er, «ein total provinzieller Klatsch.» In «Traderaklatsch» beschrieb er «das sogenannt bessere Basel», zu dem er einen Zugang hatte, weil sein Lebenspartner, ein Anwalt und vor allem ein Holzach, dem sogenannten Daig entstammte.
Kleine Basler Geschichte, Teil 1
Der Daig war eine geschlossene Welt zwischen den vornehmen Villen im Dalbenquartier und dem weissen Teil des Restaurants Kunsthalle. Wer dazugehören wollte, brauchte ein altes Geschlecht (Staehelin, Holzach, Burckhardt usw.), viel Geld, viel soziales oder politisches Engagement und mindestens eine Kunstsammlung. Geheiratet wurde untereinander, und hatte jemand eine neue Freundin, fragte man sich: «Was isch’s für e Geboreni?»
‑minu öffnete diese Welt in seinen Kolumnen – ein bisschen. Wenn eine der milliardenschweren Roche-Erbinnen in der Migros wieder die Aktionszwiebeln einkaufte, dann schrieb er das, wenn eine andere vornehme Dame aus dem Daig ein aussereheliches Verhältnis hatte, deutete er es in seiner Spalte nur an: «Was ist auch in dich gefahren!» Eine weitere Roche-Erbin, die nie ein Interview gab, redete mit ‑minu über ihr Erbsenmusrezept. Weil sie sich partout nicht fotografieren lassen wollte, druckte er eine Larve ab. Gab einer der Haifische im Basler Becken eine grosse Einladung, bekam er am Schluss beschieden: «Gäll, schrybisch nüt drüber.» ‑minu ist vom Typ her harmoniesüchtig – bevor in der «Basler Zeitung» der neuste Klatsch erschien, hatte er Bauchweh. Die Leute in der Stadt sagten: «Jojo, dr Klatsch. Mr läses nyt.» Aber natürlich wussten alle, was drinsteht.
‑minu war überall: Bei Tele Basel hatte er eigene Kochsendungen, auch wenn er bis heute nicht gerne kocht. An der Herbstmesse hatte er einen Stand, an dem er Weihnachtskugeln verkaufte und in klitschrote ‑minu-Taschen abpackte. In der Weihnachtszeit gab er grosse Benefizbankette – er bekochte bei sich daheim Bundesräte, und als der deutsche Bundespräsident Scheel kam, sperrte die Polizei die ganze Birmannsgasse ab. In der «Basler Zeitung» schrieb er mehrere Kolumnen in der Woche. Und an der Fasnacht füllte er die Beilage fast allein.
Irgendwann wurde er selbst zu einer Art Laterne dieser Stadt: ein bunt leuchtender Paradiesvogel, wie Mimmi, die Laternenmalerin, sagen würde, eine Kunstfigur in der Stadt der Kunst.
Prinz im «Trois Rois»
Als Kind schaute ‑minu von Kleinbasel, dem minderen Teil der Stadt, auf das Hotel Les Trois Rois am anderen Ufer des Rheins. «Bonzen-Kasten!», spuckte der Vater. «Da will ich mal rein!», dachte ‑minu. Das «Trois Rois» ist das Grand-Hotel Grossbasels, in seinen Zimmern hatten auch Napoleon und der österreichische Kaiser übernachtet. Aber die erste Nacht im «Trois Rois» war für ‑minu eine Enttäuschung: Als junger Reporter hatte er Nurejew, den grossen tatarischen Tänzer, interviewt – und ihm später das schwule Nachtleben von Basel gezeigt. «Als wir endlich seine Suite aufsuchten», schrieb ‑minu später, «lümmelte er sich stockbesoffen aufs Bett. Und schnarchte nach fünf Minuten.» Es dauerte nicht mehr lange, bis ‑minu im berühmtesten Zimmer dieses Hotels einchecken sollte.
Seit Jahrzehnten logiert er während der «drey scheenschte Dääg» in Zimmer 117, das damals beim ersten Zionistenkongress die Suite von Theodor Herzl war. Von der Decke strahlt ein Kronleuchter, im Separee steht ein Mahagonitisch. Es gibt Bilder, wie ‑minu im Morgengrauen auf dem Balkon den ersten Kaffee trinkt. Der Himmel über dem Rhein leuchtet rot. Einmal interviewte er Alain Berset zur Fasnacht – er ging nicht zu Berset, Berset kam zu ihm ins Hotel Les Trois Rois. ‑minu ist längst der Prinz von Basel.
Kleine Basler Geschichte, Teil 2
Sein Vermächtnis sind die Geschichten, die er der Stadt gegeben hat. Er erschuf die kleine Stadt als Society – entsprechend wichtig wurden seine Kolumnen genommen: Immer wieder fragten die einen, wann sie endlich mit einem Eintrag rechnen dürften, und berichteten andere dankbar, «sie haben mich im Klatsch gebracht!».
Basel ist die ewig unverstandene Stadt: «Basel hat nie richtig zur Schweiz gehört», sagt ‑minu. «Der Basler blickt auf den Rhein – und der fliesst nicht in die Schweiz hinein, sondern ins Meer hinaus.» Lange hatte die Stadt damit gehadert, in Bern keinen Bundesrat zu haben. Im vergangenen Herbst fragte die «Basler Zeitung»: «Liebe Schweizer, mögt ihr uns nicht?» Die grossen Zeitungen gehören inzwischen Verlegern in Aarau und in Zürich. An dem Tag, als wir in der Stadt unterwegs sind, wird ‑minu geklagt, in der «BaZ» seien aus Versehen die Todesanzeigen aus Zürich statt jene aus Basel erschienen.
In den Geschichten von ‑minu bekamen Banalitäten eine Bedeutung, war Basel die Welt. Er blieb immer positiv, so dass alle damit leben konnten. Seine Bücher, in denen die Geschichten noch einmal gedruckt wurden, verkauften sich weit über hunderttausend Mal. Zudem war ‑minu in allen Zeitungen im Land gefragt, um die unergründliche Basler Seele zu erklären.
Seit einigen Jahren schreibt ‑minu den Klatsch nicht mehr. Die Stadt hat sich geöffnet. Die Eliten sind internationaler, die Partys weniger privat als früher – vieles ist öffentlich. «Du weisst im Klub nie: Bin ich jetzt schon im Handy des andern?» Und auch dem Rhein gegenüber hat sich die Stadt geöffnet: Als er ein Kind war, schwamm im Rhein vor allem Abfall, inzwischen schwimmt im Rhein die ganze Stadt. «Wunderbar, was da von den ersten bis zu den letzten warmen Tagen passiert», sagt ‑minu, «aber da spüre ich, das ist nicht mehr meine Stadt.»
Die Basler Welt, die er schreibend erst erschaffen hat, vergeht – und der Chronist mit ihr. Einen neuen ‑minu wird es nicht geben.
Über das Kochen fand er Zugang zu den Leuten: Eine Roche-Erbin, die nie ein Interview gab, redete mit ‑minu über ihr Erbsenmusrezept. Weil sie sich partout nicht fotografieren lassen wollte, druckte er eine Larve ab.
Die Fasnacht: das Leben selbst
An der Fasnacht aber hat er dieses Gefühl nicht, sie ist jedes Jahr anders und doch immer gleich. Die Basler Fasnacht erzählt jeden Winter neue Geschichten über die Besonderheit dieser Stadt. Und ‑minu sitzt in Zimmer 117 im «Trois Rois» und schreibt sie auf.
Anders als die Fasnacht in den katholischen Gebieten der Schweiz ist die Basler Fasnacht nicht lustig. ‑minu sieht sie als Zyklus: «Am Morgestraich ist alles noch toll und frisch wie bei einem Kind. Am Dienstagabend hast du den Höhepunkt schon erreicht. Und am Mittwoch spürst du die Traurigkeit: Es geht auf das Ende zu.» Die Trommler schweben «in ihrer hypnotischen Wirbelwelt», aber sie folgen einer strengen Ordnung. Die Fasnächtler malen sich nicht farbig an, sie tragen düstere Masken. Auf dem Marktplatz leuchten die Laternen die Weltsorgen aus. Und die Musikanten spielen alte Kriegsmelodien: den Marsch in den Tod.
In Basel will die Fasnacht nicht Flucht vor dem Leben sein, sondern das Leben selbst. Nur dass die Fasnacht nie vergeht. Jeder Morgenstraich ist Auferstehung. Es ist eine Geschichte, die im Sinn von ‑minu ausgeht.