Die Entwicklung der Euro-Zone und der EZB erfüllt Jürgen Stark mit Sorge. Der frühere Chefökonom der Zentralbank kritisiert, dass bei der europäischen Integration immer von oben nach unten entschieden werde. Das würden viele Menschen nicht mehr akzeptieren. Ein Gespräch.
Herr Stark, die EZB hat im Juni mit einer Zinssenkung um 0,25 Prozentpunkte die Zinswende eingeleitet. Rechnen Sie mit einem zweiten Zinsschritt an diesem Donnerstag?
Zuerst muss man festhalten, dass im Juni die Daten nicht für eine Zinssenkung gesprochen haben. Die EZB hatte sich jedoch sehr früh darauf festgelegt. Erst die inzwischen neu hereingekommenen Zahlen rechtfertigen im Nachhinein die Zinssenkung im Sommer. Für die Sitzung am 12. September ist ein weiterer Zinsschritt sehr wahrscheinlich. An den Märkten wird sogar eine Serie von Zinssenkungen erwartet. Doch glücklicherweise ist die EZB von ihrem Instrument der Forward Guidance abgerückt, mit der sie viele Jahre lang ihre künftigen geldpolitischen Absichten kommuniziert hat. Jetzt entscheidet die EZB nur noch Monat für Monat.
Eine weitere Zinssenkung ist also gerechtfertigt, obwohl die Inflationsrate noch nicht am Ziel von 2 Prozent ist und die Löhne im Euro-Raum weiter deutlich steigen?
Die Gesamtinflation ist gesunken, aber die hohe Inflation bei den Dienstleistungen bereitet nach wie vor Sorgen, und die Lohnerhöhungen scheinen noch nicht vollständig auf die Inflationsrate durchgeschlagen zu haben. Daher wird die Teuerung vorerst volatil bleiben. Die EZB sollte also sehr vorsichtig sein.
An den Finanzmärkten rechnen Beobachter damit, dass die EZB im September und Dezember die Zinsen senken wird und weitere Reduktionen im neuen Jahr folgen.
Diese Erwartung halte ich für übertrieben. Die EZB hat sich verbal zu nichts verpflichtet. Das wäre ja eine Reaktivierung der Forward Guidance. Mit diesem Instrument sind die Zentralbanken nicht gut gefahren. Im Jahr 2021 hatte die EZB signalisiert, dass sie die Zinsen bis ins Jahr 2024 auf dem damals niedrigen Niveau oder gar niedriger halten würde. Doch aufgrund der hohen Inflation musste sie irgendwann die Zinsen anheben. Dieser Schritt kam dann allerdings rund ein Jahr zu spät.
War der enorme Inflationsanstieg der vergangenen Jahre nur ein Schluckauf, wie manche Ökonomen meinen? Kommt jetzt wieder eine Phase sehr niedriger Inflationsraten?
Ein Schluckauf war das nicht. Hohe Inflationsraten waren schon 2021 erkennbar. Die EZB wird nicht schnell zu sehr niedrigen Inflationsraten zurückkommen. Derzeit spielt sicherlich die Konjunkturlage in der Euro-Zone eine wichtige Rolle, vor allem die strukturelle Wirtschaftsschwäche Deutschlands. Diese wirkt sich auf den ganzen Euro-Raum belastend aus, dämpft zugleich jedoch die Inflation. Zudem gibt es in vielen Ländern politische Unsicherheiten, etwa bei der Regierungsbildung in Frankreich und durch das Erstarken der politischen Ränder in Deutschland.
Wie haben sich die Inflation und der Euro im grossen Bild entwickelt? Der Euro feiert dieses Jahr immerhin sein 25-Jahre-Jubiläum.
Die EZB hat die Inflation unter Kontrolle behalten, mit Ausnahme der vergangenen drei bis vier Jahre. Das ist angesichts der vielen Krisen in dieser Zeit eine respektable Leistung.
Allerdings sind die Staatsschulden in den letzten Jahren sehr stark gestiegen.
Ja, das gilt vor allem für Frankreich und Italien, und das belastet den Euro. Die Stabilität der Währungsunion gründet derzeit im Wesentlichen auf dem Spitzen-Rating AAA von Deutschland, den Niederlanden und Luxemburg. Die Stabilität dieser Länder haben andere genutzt, um ihre Verschuldung auszuweiten. In Deutschland denken zugleich viele, das Rating sei in Stein gemeisselt. Das ist aber nicht der Fall, die Rating-Agenturen verfolgen die Entwicklung der Staatsschulden sehr genau.
Befürchten Sie eine Herabstufung Deutschlands?
Nein, hier steht Frankreich im Fokus. Gefährlich wird es jedoch, sollte Frankreich Unterstützung benötigen. Französische Staatsanleihen haben inzwischen einen signifikanten Risikoaufschlag von 0,8 Prozentpunkten zu Bundesanleihen. Diese Diskrepanz würde sich bei einem neuen Schock ausweiten. Viele Länder haben bei den Schulden keinen Puffer mehr, das kann zu politischen Spannungen führen.
Wenn Frankreich also Solidarität, sprich finanzielle Unterstützung, von anderen Ländern einfordern würde, wäre das deutsche Triple-A-Rating in Gefahr?
Ja, so sehe ich das.
Während der Schuldenkrise ist die EZB allerdings zum Retter des Euro avanciert, dafür wurde sie weitherum gelobt.
Die EZB hat in verschiedenen Phasen des Krisenmanagements eine sehr aktive Rolle gespielt und ist dabei über ihr Mandat hinausgegangen. Dabei wurde der Maastricht-Vertrag umgangen und verwundbare Länder mit Staatsanleihekäufen unterstützt. Die EZB hat sich als sogenannten Master of the Universe feiern lassen. Jetzt sieht man aber, dass diese Interventionen nicht kostenlos sind. Damit meine ich nicht die fiskalischen, sondern auch die ökonomischen Kosten.
Und die wären?
Ein Teil der Produktivitätsschwäche in der Euro-Zone ist darauf zurückzuführen, dass nicht lebensfähige Unternehmen durch die extrem tiefen Zinsen am Leben erhalten worden sind. Das hat Kapitalanlagen gebunden, die für rentablere Investitionen nicht zur Verfügung standen. Zudem sitzen die Zentralbanken nun auf hohen Verlusten aus den Anleihekäufen, am schlimmsten trifft das die Deutsche Bundesbank mit zweistelligen Milliardenverlusten im vergangenen und wohl auch in diesem Jahr.
Der frühere EZB-Präsident Mario Draghi hat am Montag einen Bericht vorgestellt, wonach die EU Investitionen über bis zu 800 Milliarden Euro jährlich benötigt, um im Wettbewerb mit den USA und China zu bestehen. Er denkt dabei an Gemeinschaftstöpfe. Was halten Sie davon?
In der Analyse kann ich dem Bericht in vielen Punkten folgen. Den Kern der politischen Empfehlungen, gemeinsame Anleihen in der EU zu begeben, halte ich aber für höchst problematisch. Es war aber auch nichts anderes von Herrn Draghi zu erwarten. Man folgt dem alten, aber fehlgeleiteten Konzept, mit immer mehr Schulden strukturelle wirtschaftliche Probleme in der EU lösen zu wollen. Am Ende bleiben nur die höheren Schulden. Mehr Wettbewerbsfähigkeit muss in erster Linie auf nationaler Ebene und von den Unternehmen selbst erreicht werden.
Verwandelt sich die Euro-Zone also in eine Transferunion?
In der Tat ist das laufende Programm Next Generation EU mit einem Volumen von 807 Milliarden Euro ein entscheidender Schritt in Richtung Finanz- und Transferunion. Dabei geht es nicht nur um Kredite. Ein Grossteil der Mittel sind direkte Transfers, also letztlich Geschenke. Dafür gibt es in der EU keine klare rechtliche Grundlage. Wenn dieses Modell nun für andere Aufgaben benutzt wird, dann verlagern wir die Finanzierung dieser nationalen Aufgaben auf eine supranationale Ebene. Damit werden dann Eurobonds durch die Vordertür geschaffen.
In Deutschland hält die AfD die jetzige EU für gescheitert. In manchen Ländern wollen Parteien der politischen Ränder sogar aus der EU und dem Euro aussteigen. Wie sehen Sie die Entwicklung?
Es ist eine Krise der Demokratie zu beobachten, bei der es eine Entkopplung der politischen Elite von einem Teil der Wählerschaft gibt. Wer jedoch die Axt an den Kern der Integration in Europa legt, der legt auch die Axt an einen wesentlichen Faktor für unseren Wohlstand. Die Menschen wollen Ehrlichkeit und Integrität bei den politischen Führungsfiguren und letztlich auch mehr Bürgernähe. Bei der europäischen Integration wurde jedoch immer von oben nach unten entschieden, bis hin zur Einführung des Euro. Das akzeptieren die Menschen nicht mehr so einfach.
Inzwischen beschäftigt sich die EZB nicht nur mit Geldpolitik, sondern widmet sich auch dem Kampf gegen den Klimawandel. Wird die Notenbank damit überfrachtet?
In der EZB pflegen zu viele Leute ihre Hobbys. Dazu gehört der Klimawandel, aber das betrifft auch Gender-Fragen oder die Einkommens- und Vermögensverteilung. Zu viele Ressourcen sind für diese Bereiche verwendet worden und haben die EZB von ihrem Kernmandat der Preisstabilität abgelenkt. Dabei darf man auch den digitalen Euro nicht vergessen, der viele Ressourcen verschlingt. Letztlich ist die EZB zu einem politischen Spieler geworden, weshalb ihre Unabhängigkeit angreifbar wird.
Führt ein digitaler Euro zum gläsernen Bürger und damit zu einer noch stärkeren Entmündigung durch die zunehmende Abschaffung des Bargeldes?
Es gibt Versicherungen von der EU-Kommission und der EZB, dass die Abschaffung des Bargeldes nicht geplant sei. Der Sinn eines digitalen Euro erschliesst sich jedoch nicht sofort. Gelten lassen kann man das Argument der europäischen Souveränität, weil man nicht von Zahlungsverkehrsanbietern abhängig sein will, die ausserhalb Europas ansässig sind.
Die EZB hat für ihre billionenschweren Staatsanleihe-Kaufprogramme sehr viel Geld aus dem Nichts geschaffen. Kann diese Liquidität jemals wieder abgeschöpft werden?
Man wird wohl einen hohen Sockel an Liquidität behalten. Die EZB hat im März kommuniziert, dass sie ihren operativen Rahmen verändern will, der neu ein strukturiertes Anleiheportfolio vorsieht. Das ist ganz klar ein Indiz dafür, dass die Liquidität auf einem hohen Plateau verharren wird und die EZB dauerhaft ein Portefeuille an Staatsanleihen behalten will.
Was bedeutet dabei «strukturiert»?
Mit dem strukturierten Portfolio macht die EZB einen Kniefall vor Greenpeace und anderen Nichtregierungsorganisationen. Sie kann dann sagen, dass sie im Rahmen des Portfolios die Möglichkeit habe, Unternehmensanleihen zu kaufen, aber nur von solchen Unternehmen, die sich der grünen Transformation verpflichten und schwammige Nachhaltigkeitskriterien erfüllen. Das ist zwar eine Alibi-Veranstaltung, aber die kann nach Belieben erweitert werden. Ein anderes Problem ist, dass durch die ständige Präsenz der EZB in den Anleihemärkten ein Stück weit marktwirtschaftliche Elemente zurückgedrängt werden.
Hat der Euro Deutschland eigentlich mehr genutzt oder geschadet?
(Lächelt.) Sie wollen mich aufs Glatteis führen. Der Euro wurde geschaffen, um den Binnenmarkt zu vollenden. Per saldo dürfte Deutschland davon profitiert haben und letztlich auch Europa insgesamt. Ich bedaure aber, dass wir heute eine andere Währungsunion haben, als ursprünglich beabsichtigt wurde. Es war nie die Idee, eine Fiskal- und Transferunion zu schaffen. Nach wie vor gibt es Ungleichgewichte und Divergenzen in der Euro-Zone, sei es beim Wirtschaftswachstum, bei den Inflationsraten oder den öffentlichen Haushalten. Hier haben europäische Institutionen versagt, allen voran die EU-Kommission bei der Umsetzung des Stabilitätspaktes, aber auch der Finanzministerrat. In diesem Rat sollen potenzielle Haushaltssünder über tatsächliche Haushaltssünder urteilen und gegebenenfalls Sanktionen verhängen. Das hat nicht funktioniert. Die permanente Uminterpretation europäischen Rechts hat auch zum Teil zur Europaverdrossenheit in grossen Teilen der Bevölkerung geführt.
Werfen wir zum Schluss einen Blick auf die Schweiz: Wie schätzen Sie die Arbeit der Schweizerischen Nationalbank im Vergleich mit der EZB ein?
Die SNB hat insgesamt ein konsistenteres Konzept als die EZB. Bei der EZB fand die erste Überprüfung der Strategie im Jahr 2003 statt, die zweite im Jahr 2020. In diesem Jahr hat man nun die schon dritte Strategieüberprüfung begonnen. Die SNB hat in den vergangenen 25 Jahren keine strategische Veränderung vorgenommen – sieht man von einer kleinen Marginalie ab, was den Wechselkurs angeht. Im Hinblick auf die EZB gab es auch diese ständige Kritik, dass sie zu einseitig ausgerichtet sei und dass es ihr nur um die Inflations-, aber nicht um die Deflationsbekämpfung gehe.
Die EZB hat darauf reagiert.
Ja, als Resultat ist sie bei der Definition von Preisstabilität von «unter 2 Prozent» auf «unter, aber nahe 2 Prozent» und inzwischen auf «2 Prozent» umgeschwenkt. Das war ein Fehler. Die Schweizerische Nationalbank betreibt mit einem Inflationsziel von «unter 2 Prozent» auch eine Politik, die Deflation vermeiden soll. Sie ist mit ihrem Ziel aber viel flexibler als die EZB. Zudem sind Punktziele in der Geldpolitik schwierig erreichbar und bergen die Gefahr eines dauernden Aktionismus.
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