Freitag, September 27

Unterwegs an den Rad-WM mit Vertretern einer veloverrückten Nation.

Es ist Anfang Woche, und die Rad-WM hat gerade erst begonnen. Niemand ahnt, dass Tage später ein Unfall den ganzen Anlass überschatten wird. Die Schweizer Nachwuchsfahrerin Muriel Furrer wird im Rennen der Juniorinnen schwer stürzen. Dabei erleidet die 18-Jährige ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und muss mit einem Rettungshelikopter in ein Spital geflogen und notoperiert werden.

Am Montag zuvor wissen die Belgier, die zuvorderst an der Bellerivestrasse am Zürcher Seebecken stehen, noch nichts von dem Unfall und allem, was darauf folgen wird. Sie freuen sich auf den Anlass.

Wobei «stehen» die Sache nicht ganz trifft. Vielmehr tigern sie entlang der Rennstrecke herum. So nah, dass sie den Fahrtwind spüren, wenn ein U-23-Zeitfahrer vorbeirauscht. Dann johlen sie und ballen enthusiastisch die Faust.

Es brauchte keine besondere Ruchlosigkeit, um sich an diesem Tag in die erste Reihe der Rad-WM vorzuarbeiten. Im Gegenteil: Das Grüppchen von belgischen Fans ist allein auf weiter Flur, von ein paar versprengten Passanten und den Streckenposten einmal abgesehen. Es ist kühl, vor ein paar Stunden hat es zu regnen begonnen.

In wenigen Minuten wird hier Alec Segaert vorbeirasen. Der belgische Rennfahrer ist einer der Champions im Zeitfahren der unter 23-Jährigen. In seiner veloverrückten Heimat gilt er als nächste grosse Hoffnung. Für die Gruppe an der Strecke ist Segaert aber vor allem eines: ihr Kumpel.

«Alec ist von uns!», singen seine Freunde. Dazu hüpfen sie im Kreis. Das sieht ein bisschen so aus, als würden sie einen Regentanz aufführen. Ihre Wangen sind schwarz, gelb und rot angemalt, das Velokäppi montiert, die Trikolore um den Körper geschlungen. Ein paar gelangweilte Zivilschützer machen Fotos.

«Alec hat uns gesagt, wir sollen irgendwo warten, wo nicht viel los ist. Damit er uns auch wirklich sieht», sagt Ella Segaert, die Schwester des Velofahrers. Ein solcher Ort war einfach zu finden. Die Rad-WM ziehen unter der Woche kaum Publikum an. Sien Moons, eine der Freundinnen von Segaert, staunt darüber. Sie meint: «Es ist schon etwas komisch, dass hier nicht mehr los ist.»

Vor drei Jahren gastierten die gleichen WM in ihrer Heimat, in der flämischen Stadt Leuven. Dort gibt es viele Studenten, dort steht eine der ältesten Universitäten Europas. Noch älter ist eigentlich nur das Biergewerbe. Und so wichtig wie das Bier ist sowieso nur etwas: der Radsport.

Kein Land feiert den Radsport so frenetisch wie Belgien. Das Land ist die Heimat von Superstars wie Eddy Merckx. An die Flandernrundfahrt pilgern jedes Jahr eine Million Zuschauer. Das Rennen gilt als inoffizieller belgischer Nationalfeiertag.

Eine riesige Party seien die WM gewesen, sagt Sien Moons. Nein, niemand habe sich deswegen beklagt: «Warum auch?», fragt sie. Schwingt da leise Ironie mit? Nein, man schaut in ironiefreie Gesichter. Die Belgier, dieses feierfreudige Völkchen, meinen das ernst. Als man ihnen die Lage in Zürich erklärt, wo gesperrte Strassen und Plätze bei Bevölkerung und Gewerbe für Unmut sorgen, blicken sie drein, als gestünde man einen Verrat.

Um zehn wird das erste Bier geköpft

Tags zuvor auf dem Campingplatz in Maur am Greifensee. Kurz nach neun lümmeln die Belgier noch tief in ihren Campingstühlen. Sie sind am Abend zuvor mit dem letzten Licht angekommen. Natürlich auf dem Rennrad.

Man radelt lange von Leuven nach Zürich. In fünf Etappen, jeden Tag mindestens 120 Kilometer. Schwer zu sagen, ob der Morgenkater von den 701 Kilometern kommt, die sie in den Beinen haben.

Vielleicht rührt ihre Trägheit auch von den acht roten Bierkästen her, die sich zwischen den Zelten stapeln. Hergebracht im Begleitauto. «Bier und Velo können wir», sagt ein junger Mann. Er greift sich eine Flasche «Jupiler», schlägt an der Harasse den Deckel ab und reicht sie rüber. Es ist zehn Uhr morgens.

Sie sind Freunde, alle Anfang zwanzig, und alle sind sie Sportstudenten. Eigentlich würde gerade das neue Semester beginnen. Die belgische Delegation bricht in Gelächter aus. Als sie wieder zur Ruhe kommen, sagt einer: «Manchmal muss man Prioritäten setzen.»

Zum Tour nach Zürich kam es, weil die meisten Mitglieder des Alec-Segaert-Fanklubs nicht die Zeit und Energie hatten, ihrem Idol nachzureisen. Also sprangen seine Freunde in die Bresche. «Der letzte Kilometer von den 701 war der schwierigste», sagt Sien Moons und macht ein leidendes Gesicht. Das ist natürlich Koketterie. Die Truppe ist topfit, manche fuhren früher selber bei den Elite-Junioren mit.

Wenn sie in ihren blauen Maillots mit der Trikolore drauf unterwegs sind, fragen die Touristen nach Selfies, wirken sie doch wie echte Radprofis.. Nur der Leibchen-Sponsor verrät sie: «Oh lala» steht vorne drauf. Es ist der Lingerie-Laden einer Nachbarin in Leuven. Natürlich verkaufen sie auch Fan-Shirts und Käppis ihres Alec.

Der Bruder eine Radhoffnung, die Eltern, die Nachbarn, die ganze Nation velobesessen – wie wächst man da auf? Ella Segaert winkt ab. Ach, eigentlich sei sie gar nicht so veloverrückt, sagt sie. In ihrer Kindheit habe es viel anderes gegeben: Volleyball und Judo zum Beispiel. Treffe sie heute ihren Bruder, redeten sie über andere Dinge. Auf die Reise mitgekommen sei sie, weil sie mit ihren Leuten etwas habe erleben wollen.

Auf dem Campingplatz hat inzwischen jemand Baguettes geholt. Die Belgier werden langsam wach, wollen nun wissen, welches Bier man hierzulande empfehlen könne. Schliesslich werde ihr Vorrat nicht ewig ausreichen.

Sie können gar nicht mehr hinsehen

Einen Tag später, wieder auf der Zielgeraden beim Zürcher Seebecken. Historische Velomomente wie jene an der Tour de France in Paris mit ihrer glänzenden Zieleinfahrt auf den Champs-Élysées wirken gerade unendlich weit weg. Es ist einfach keiner da. Nur die Belgier sind wacker dabei. Immerhin hat es aufgehört zu regnen.

Jemand hat ein Mobiltelefon hervorgenommen, um das sie nun im Kreis herumstehen, um die Zwischenzeiten ihres Freundes zu erfahren. Dieser rast gerade mit 70 Kilometern pro Stunde den Pfannenstiel herunter. An den schattigen Stellen ist die Strecke noch immer nass. Die Freunde getrauen sich nicht, hinzuschauen.

Noch zwei Minuten, alle sind sie nun am Strassenrand aufgereiht. Alle fünf Meter steht jemand, die Trikolore haben sie ausgebreitet. Sie sind ganz still jetzt, es naht ein Helikopter. Alec Segaert ist der letzte Fahrer des Tages.

Dann endlich ist er da. Die Freunde schreien sich heiser. Keine fünf Sekunden dauert der Spuk, und dann ist alles vorbei. Für solche Momente sind sie angereist, darauf haben sie hingefiebert. Die Gruppe rennt ihm hinterher. Sie wollen bei ihm sein, wenn es etwas zu feiern gibt.

Mitten im Sprint erreicht sie die Gewissheit: Zum Weltmeistertitel reicht es nicht. Ihr Freund wird Vierter, keine Medaille. Die Belgier trotten noch etwas weiter und bleiben dann stehen. «Putain!», flucht jemand.

Dann gehen sie schweigend zum Ziel. Sie wollen trotzdem den Siegern applaudieren. «So ist Sport», sagt Ella Segaert. Auch in der Niederlage zeigt sich, dass diese belgischen Fans doch irgendwie weltmeisterlich sind.

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