Eine vermutlich von Israel durchgeführte Geheimdienstaktion gegen den Hizbullah fordert mehrere Tote und Tausende Verletzte. Technisch ist das Vorgehen äusserst aufwendig. Was man bis jetzt weiss.
Am Dienstagnachmittag kam es in ganz Libanon zu Tausenden kleinen Explosionen. Die Sprengsätze waren in sogenannten Pagern versteckt, in kleinen Geräten zum Empfangen von Textnachrichten, welche die Terrororganisation Hizbullah einsetzt. Der grossangelegte Anschlag, der offensichtlich dem Hizbullah galt, forderte mehrere Tote und gegen 3000 Verletzte. Er muss von langer Hand geplant worden sein.
Wie ist ein solcher Anschlag technisch möglich?
Die Pager wurden vermutlich manipuliert, bevor sie nach Libanon gelangt sind. Der anfängliche Verdacht, dass lediglich die Batterien durch Überhitzung zur Explosion gebracht wurden, gilt als widerlegt. Die Explosionen sind zwar gering, aber zu stark für eine überhitzte Batterie. Das bedeutet, dass Sprengstoff in den Geräten versteckt worden sein muss.
Wenn die Geräte entsprechend präpariert sind, lässt sich der Sprengsatz aus der Ferne auslösen. Das erklärt auch, weshalb die Explosionen innerhalb eines kurzen Zeitfensters gleichzeitig erfolgt sind.
Warum nutzt der Hizbullah überhaupt Pager?
Der Hizbullah hat mindestens zwei gute Argumente, um Pager einzusetzen. Erstens können diese im Normalfall nicht nachverfolgt werden. Nach Anschlägen auf Hizbullah-Mitglieder vermutete man, dass Israel deren Handys geortet und abgehört hatte. Der Hizbullah-Führer Hassan Nasrallah rief im Februar dieses Jahres die Mitglieder der Organisation in einer Videoansprache dazu auf, auf ihr Mobiltelefon zu verzichten. «Schaltet es aus, vergrabt es, steckt es in eine Kiste aus Eisen, und sperrt es weg.» Handys seien gefährlicher als Spione.
Der zweite Vorteil von Pagern ist, dass sie robuster und verlässlicher sind als Mobiltelefone. Sie werden daher auch in Europa häufig von Feuerwehren, Rettungsdiensten oder in Krankenhäusern verwendet, um Alarmsignale zu verschicken und Einsätze zu koordinieren.
Wie funktionieren Pager?
Pager sind mobile Funkgeräte, die eine niedrigere Frequenz und längere Wellen nutzen als etwa Smartphones. Deshalb reicht ihr Signal weiter und kann besser in Gebäude eindringen als jenes von Mobiltelefonen. Weil sie ein eigenes Funknetz verwenden, funktionieren Pager auch in Situationen, in denen das Handynetz zusammenbricht. Sie sind leicht, robust und brauchen wenig Strom.
Manche Pager können Nachrichten verschicken, aber öfter, und auch in diesem Fall, sind sie blosse Empfängergeräte, die nur dazu dienen, Nachrichten zu empfangen. Das Signal besteht aus der Adresse des Pagers und einer Textnachricht. Dieses Signal wird per Broadcast-System rundum ausgesendet, aber nur der adressierte Pager reagiert darauf. Man kann auch viele Pager zugleich adressieren, zum Beispiel für eine Warnmeldung.
Das Signal wird über eigene Funkstationen vom Sender zum Empfänger übertragen. Das Empfängermodell, das der Hizbullah in diesem Fall offenbar verwendete, ist aus einer Distanz von maximal 30 Kilometern erreichbar – in der Stadt und in Gebäuden reduziert sich die Reichweite auf wenige Kilometer Entfernung.
Woher stammen die Pager, welche explodiert sind?
Der Weg, den die Pager nach Libanon genommen haben, ist nicht klar. Die Lieferung soll 5000 Stück der taiwanischen Firma Gold Apollo, hauptsächlich das Modells AR924, umfasst haben.
Gold Apollo habe die Geräte allerdings nicht selbst entwickelt und hergestellt, schreibt das Unternehmen. Es habe eine Kooperation mit der ungarischen Firma BAC Consulting gegeben, welche die Geräte unter dem Markennamen «Apollo» verkaufen dürfe. Auf der Website der taiwanischen Firma war die Produktebeschreibung des Modells AR924 am Mittwoch nicht mehr abrufbar.
Die Firma BAC scheint die Pager aber ebenfalls nicht selbst herzustellen. Der offizielle Firmensitz in Budapest ist offenbar nur ein Briefkasten. Und auch die Geschäftszahlen deuten darauf hin. Die Geschäftsführerin von BAC sagte gegenüber NBC News: «Ich bin nur die Zwischenhändlerin.» Bezüglich der Lieferung nach Libanon äusserte sie sich nicht, und Anfragen der NZZ blieben unbeantwortet. Damit ist unklar, wer die Pager tatsächlich produziert hat und wo dies geschah.
Wie kam der Sprengstoff in die Geräte?
Irgendwo auf der möglicherweise langen und verschlungenen Lieferkette muss der Geheimdienst, der mutmasslich hinter dem Anschlag steckt, Zugriff auf die Geräte gehabt haben. Das kann grundsätzlich bei der Produktion oder bei einem Zwischenhändler gewesen sein. Möglich ist aber auch, dass die Lieferung unterwegs abgefangen und aufgehalten wurde.
Es ist denkbar, dass das gesamte Gerät inklusive Software manipuliert worden ist. Das ist allerdings ein sehr aufwendiges Vorgehen. Wahrscheinlicher scheint deshalb, dass nur die Batterie durch eine manipulierte Variante ersetzt wurde. Oder der Sprengsatz inklusive Zünder fand zusätzlich noch Platz neben der Batterie. Letzteres soll laut der «New York Times» der Fall gewesen sein.
Die Batterie auszuwechseln oder einen zusätzlichen Sprengsatz in das Gerät zu verbauen, bedeutet einen gewissen Aufwand. Mit der entsprechenden Vorbereitung und genügend Leuten ist das für einen Geheimdienst aber machbar. Falls die Geräte zum Beispiel aus Asien geliefert wurden, fällt eine Verzögerung von drei oder vier Tagen kaum auf.
Eine Manipulation der verbauten Elektronik wäre vermutlich deutlich aufwendiger. Eine Möglichkeit ist deshalb auch, dass der Geheimdienst die gesamte Ladung der bestellten Geräte durch entsprechend präparierte Modelle ersetzt hat.
Wie wurde der Sprengsatz ausgelöst?
Wie der Zünder des Sprengsatzes funktioniert hat, ist unklar. Die «New York Times» schreibt, dass eine Pager-Nachricht, die von der Hizbullah-Führung zu kommen schien, die Explosion ausgelöst hat. Tatsächlich gibt es Berichte, dass zahlreiche Opfer unmittelbar vor der Explosion eine Nachricht erhalten und deshalb das Gerät bei der Detonation in den Händen gehalten hätten. Das habe zu zahlreichen Verletzungen an Händen und Gesicht geführt.
Dass eine Nachricht oder ein Steuerbefehl, zum Beispiel zum Setzen der Uhrzeit, oder eine Kombination davon die Explosion ausgelöst hat, ist möglich. Dafür müssten die Urheber des Anschlags zusätzlich die Software auf dem Gerät manipuliert haben. Das dürfte über die USB-Schnittstelle möglich sein, würde den Aufwand bei der Manipulation der Geräte aber erhöhen.
Einfacher erscheint es da, dass der Geheimdienst, der hinter dem Anschlag steckt, zusammen mit dem Sprengsatz und dem Zünder einen weiteren Empfänger eingebaut hat. Dieser könnte die Pager-Nachrichten mitschneiden und bei einem bestimmten, vordefinierten Inhalt den Zünder auslösen.
Die Frage ist, wie die Urheber des Anschlags die Pager-Nachricht verschickt beziehungsweise einen zusätzlich eingebauten Empfänger angefunkt haben. Grundsätzlich ist es möglich, mit eigenen Sendern durch einen Agenten vor Ort oder durch eine Drohne eine Pager-Nachricht auszusenden.
Einfacher könnte es sein, in die zentrale IT-Infrastruktur des libanesischen Pager-Dienstes einzudringen und so eine Nachricht auszulösen, welche an alle manipulierten Geräte geht. Dieses Vorgehen würde auch erklären, warum der libanesische Aussenminister am Dienstag von einer «Cyberattacke» gesprochen hat.
Wer steckt hinter dem Anschlag?
Aufgrund der langen Vorbereitungszeit und der Komplexität der Operation steckt mit grösster Wahrscheinlichkeit ein staatlichen Akteur, sprich ein Geheimdienst, hinter dem Anschlag. Da sich die Aktion gegen den Hizbullah richtet, steht Israel als Urheber im Fokus. Das Land hat sicherlich die nötigen technologischen Fähigkeiten, um ein solches aussergewöhnliches Mittel wie einen Pager für einen Sprengstoffanschlag zu verwenden.
Die USA haben in der Vergangenheit bei spektakulären Aktionen auch mit Israel zusammengearbeitet. Zum Beispiel haben die beiden Staaten zusammen die Schadsoftware Stuxnet entwickelt, welche das iranische Atomprogramm verlangsamte, indem sie eine Überlastung der Zentrifugen zur Urananreicherung verursachte.
Im Fall des Pager-Anschlags in Libanon sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, es habe keine Beteiligung der USA gegeben. Der israelische Verteidigungsminister habe seinen amerikanischen Amtskollegen vorab über eine bevorstehende Operation in Libanon informiert, dabei aber keine Details genannt.