Englands Nationaltrainer Gareth Southgate vernachlässigt die Attraktivität des Fussballs, hat aber Erfolg. Die Mannschaft verteidigt das Vorgehen des Coachs leidenschaftlich.
Nach dem Einzug in den Halbfinal deutete sich zwischen den englischen Fans und Gareth Southgate eine Versöhnung an. Die Leute reichten dem gescholtenen Nationaltrainer, den sie in der Vorrunde aufgrund der tristen Spielweise mit Bierbechern beworfen hatten, die Hand, indem sie ihn minutenlang bejubelten – und Southgate schlug gewissermassen ein.
Er führte zum Disco-Schlager «Freed from Desire» von Gala eine ähnliche Solotanzeinlage vor den englischen Zuschauern auf wie an der WM 2018. Damals dichteten die zunächst ebenfalls skeptischen Fans den Liebessong «Whole Again» der britischen Musikgruppe Atomic Kitten spontan auf Southgate um. Im Refrain hiess es: «Looking back on when we first met / I cannot escape and I cannot forget / Southgate, you are the one, you still turn me on / Football is coming home again.»
Der Stimmungsumschwung während des Turniers ist damals wie heute im sportlichen Abschneiden begründet. Mit der dritten Halbfinalteilnahme in vier Anläufen gehört Southgate zu den erfolgreichsten Nationalcoachs in den vergangenen Jahren. Mit einem Sieg im Spiel gegen die Niederlande am Mittwoch ab 21 Uhr in Dortmund würden die Three Lions sogar erstmals in der eigenen Historie einen Final ausserhalb des eigenen Landes erreichen.
England erhalte zu wenig Respekt, sagt Granit Xhaka
Die gewagte Kalkulation des Trainers, alles auf den Erfolg zu setzen und die Attraktivität des Fussballs zu vernachlässigen, veranschaulichte einst der frühere deutsche Nationalspieler Thomas Hitzlsperger. Dieser spielte einst mit Southgate bei Aston Villa in der Premier League. Lange Zeit habe sich das Nationalteam verleiten lassen, den Vorstellungen der Nation von mitreissendem Offensivfussball genügen zu wollen, sagte Hitzlsperger einmal der «Süddeutschen Zeitung» – aber das habe nicht zum Erfolg geführt. Daher setze Southgate darauf, dass die Fans auf dem Weg zum Titel irgendwann begeistert sein würden, auch wenn das eigene Team keinen begeisternden Fussball spiele.
Englands Mannschaft verteidigt die Taktik des Trainers leidenschaftlich, obwohl das Potenzial der Profis sichtbar darunter leidet und ihre Qualität nur in Einzelaktionen aufblitzt. Der Linksverteidiger Luke Shaw erklärte an einer Medienrunde, dass er die Kritik von aussen nicht wirklich verstehen könne. Aus seiner Sicht habe Southgate das Nationalteam «auf ein neues Niveau gehoben». Zuspruch gibt es auch von den Gegnern: England erhalte zu wenig Respekt, sagte Granit Xhaka kürzlich.
Die Negativstimmung aus der Heimat hatte an dieser EM einen Schulterschluss im englischen Lager bewirkt. Jeder Verbalangriff führte zu einer stärkeren Reaktion aus dem Kern der Mannschaft. Sie ist von Spiel zu Spiel in puncto Zusammenhalt, Selbstvertrauen und Resistenz gewachsen. Symbolisch für den Teamspirit steht der seine Form suchende Captain Harry Kane, der im bisherigen Turnierverlauf seine persönlichen Ambitionen hinter die des Teams zurückstellte.
Southgate steht für Stabilität und Sicherheit
Da Kanes Mitspieler auf den Aussenpositionen selten durchdringen, erreichen den englischen Rekordtorschützen zu wenige Zuspiele, als dass er seinen Torjägerinstinkt ausspielen könnte. Dabei war die EM in Deutschland nach dem Transfer zum FC Bayern dazu auserkoren, seinen Torabdruck zu tragen. So ist er bisher fast mehr neben als auf dem Platz in Erscheinung getreten: Durch einige nicht nominierte Routiniers steht Kane an der Spitze der Hierarchie. Ihm fällt gerade wegen des öffentlichen Tadels die wichtige Rolle des Sprachrohrs zu.
Der Charakter der Mannschaft entspricht immer mehr den bodenständigen Persönlichkeiten von Kane und Southgate. Durch das Festhalten an seinem Captain und den berechenbaren Personalentscheidungen vermittelt der Trainer Stabilität und Sicherheit. In keinem Match hat er mehr als eine Änderung in der Startaufstellung vorgenommen – und auch die Strategie nicht gewechselt.
Die Darbietungen der Engländer gleichen sich: In der Defensive ziehen sie sich kompakt in die eigene Hälfte zurück; und in der Offensive versuchen sie, die Gegner mit langen, risikolosen Ballstafetten zu ermüden, bis sich eine Lücke auftut. Auch gegen die Niederlande wird die Vorgabe wieder so aussehen. Southgate begründet sie damit, dass EM-Partien «keine normalen Fussballspiele, sondern nationale Ereignisse mit enormem Druck» seien.
England traut sich den EM-Titel diesmal wirklich zu
Der Konservatismus geht auf, weil England die Partien über die Fähigkeiten der Ersatzspieler entscheidet. Southgate antizipierte, dass sich die EM zu einer Konditionsfrage entwickeln könnte. Und die Engländer haben in der Vorrunde durch ihre wenig intensiven Darbietungen Kraft gespart. Dies ist einer der Gründe dafür, warum das Team in der Lage war, im Achtel- und Viertelfinal einen Rückstand aufzuholen. Besonders trumpften die jungen Angreifer Cole Palmer und Eberechi Eze auf – und der unersetzbare Shaw, der sich gegen die Schweiz nach langer Verletzungspause wieder zurückgemeldet hatte.
Das Konstrukt wirkt in sich so gefestigt, dass die oft von Selbstzweifel geplagten Engländer sich den Titel diesmal zutrauen. Durch das Erreichen des Minimalziels Halbfinal hat sich der Druck gelöst. Dies war speziell nach dem Schweiz-Spiel im ausgelassenen Jubel zu sehen.
Wenn er einen solchen Moment nicht geniessen könnte, wäre die Arbeit als Nationaltrainer eine reine Zeitverschwendung, sagte Southgate. Sein Ziel sei es gewesen, der Nationalmannschaft wieder zu mehr Ansehen auf der Weltbühne zu verhelfen. Und dies ist ihm gelungen, unabhängig davon, wie diese EM für England ausgeht.