Schweizer Jüdinnen und Juden sorgen sich um die demokratischen Werte in Israel. Über 320 Schweizer haben das Statement unterschrieben. Doch es gibt auch Skeptiker.
Dana Landau macht sich schon lange Sorgen um die israelische Demokratie. Beispielsweise wegen der umstrittenen Justizreform, welche das Land beschäftigt. Seit dem terroristischen Anschlag der Hamas am 7. Oktober sind Landaus Sorgen noch gewachsen. Die Schweizer Jüdin formuliert Kritik an der Politik der israelischen Regierung: «Die Intensivierung der Besetzung im Westjordanland und die zunehmende Abkehr von demokratischen Grundwerten begünstigen die Gewaltspirale in der Region», sagt die Politologin.
Landau lebt in Zürich, doch sie fühlt sich Israel verbunden, ihre Grossmutter lebt dort, ebenso ihre Tante und Cousins. Der brutale Terrorangriff der Hamas und das Schicksal der israelischen Geiseln haben sie daher schwer getroffen. Gleichzeitig sorgt sie sich auch um das Schicksal der Zivilbevölkerung in Gaza. Und eben: um Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, die «grundlegenden Bausteine unserer liberalen und demokratischen Gesellschaften».
Mit ihrer Sorge ist Landau nicht alleine: Zusammen mit acht weiteren Schweizer Jüdinnen und Juden gründete sie vor ein paar Tagen das «Jüdische Forum Schweiz – Gescher», wie das Wochenmagazin «Tachles» berichtet hat. Die Gruppe möchte einen «offenen, pluralistischen Dialog» in der Israel-Debatte etablieren.
Breite Unterstützung
Offensichtlich erfüllt das Forum Gescher ein Bedürfnis. Bereits haben rund 320 Jüdinnen und Juden unterschrieben (Stand Freitagabend). Unter ihnen Mitglieder des Zionistenverbands oder der Gesellschaft Schweiz-Israel. Viele der Unterstützer sind dem linksliberalen Lager zuzuordnen. Nebst der ehemaligen SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss hat etwa auch der Friedensforscher Laurent Goetschel unterschrieben, ebenso wie Peter Jossi, Co-Präsident der Plattform der liberalen Juden, und die Co-Präsidentin der Jüdischen Gemeinde Bern, Dalia Schipper. Die Unterstützung geht aber bis in die politische Mitte und darüber hinaus, so gehört auch die Freisinnige Esther Girsberger zu den Signataren.
Walter L. Blum begrüsst das Engagement. Er ist Zentralsekretär der Gesellschaft Schweiz-Israel und ehemaliger Präsident der Stadtzürcher FDP, spricht aber als Privatperson, wenn er sagt: «Beim Forum Gescher handelt es sich um eine wichtige Gründung.» Es gebe eine grosse Liebe zu Israel in der jüdischen Gemeinschaft. Gleichzeitig gingen die Meinungen über politische Fragen wie die Justizreform oder die Siedlerbewegung weit auseinander. Und die bange Frage, was nach dem Krieg passiere, sei gross. «Es ist gut, dass es jetzt ein innerjüdisches Forum gibt, in dem die verschiedenen Perspektiven breit diskutiert werden.»
Wohlwollen äussert auch Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG): «Das Forum ist ein wichtiger Beitrag zur Vielfalt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft.» Auch der SIG ist den Werten des Friedens, der Würde und des Dialogs verpflichtet und steht mit den Initiantinnen und Initianten des Forums im ständigen Austausch.
Dennoch hat niemand vom Vorstand des SIG unterschrieben. Das hat seine Gründe: Beim Forum Gescher handelt es sich um ein zivilgesellschaftliches Engagement, das der SIG wertschätzt, so Kreutner. Der SIG vertritt dagegen als Verband jüdischer Gemeinden eine Bandbreite von Gemeinden und unterschiedlichen Meinungen und äussert sich grundsätzlich nicht zur israelischen Politik.
Zudem haben die SIG-Delegierten am 2. Juni eine Resolution veröffentlicht, die teilweise gleiche Forderungen wie das Forum Gescher formuliert, sich aber auf die Schweiz fokussiert. So fordert der SIG ein Verbot der Hamas in der Schweiz, eine Strategie gegen Antisemitismus und wünscht sich Frieden und Sicherheit für die Bevölkerung Israels, die Palästinenserinnen und Palästinenser und die ganze Region.
Judentum ist mehr als Politik
Es gibt allerdings auch starke Skepsis in Bezug auf das neue Forum. Beispielsweise von Jehuda Spielman, Zürcher Gemeinderat und Mitglied der jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft. Er wurde auch angefragt, hat aber nicht unterschrieben, denn: «Ich bin Gemeinderat von Zürich, nicht von Jerusalem», sagt er. Die israelische Politik überlasse er den Personen, die dort lebten. Die Schweiz solle sich auf die Guten Dienste beschränken.
Als Freisinniger sei er ausserdem überzeugt von der Trennung von Kirche und Staat. «Wir werfen Antisemiten häufig vor, sie würden die Religion ‹Judentum› und die Staatsbürgerschaft ‹Israeli› vermischen. Dann müssen wir das selbst nicht auch noch machen.» Allerdings, räumt Spielman ein, sei diese Trennung seit dem Terrorangriff der Hamas und dem darauffolgenden Krieg schwieriger geworden. Dieser habe direkte Auswirkungen auf die Schweiz, der Antisemitismus habe zugenommen, aber auch das Informationsbedürfnis über die israelische Politik und das Judentum. Dennoch will Spielman standhaft bleiben. Das gelinge ihm besser als anderen, glaubt er. Und zwar aufgrund seines Glaubens.
Für Spielman als praktizierenden Orthodoxen besteht das Judentum «aus viel mehr als Israel, Holocaust und Antisemitismus». Beispielsweise müsse er die Zitate für diesen Artikel beizeiten bekommen, denn am Freitag nach 17 Uhr mache er sich für den Sabbat bereit und sei nicht mehr erreichbar.
Eine Gefahr sieht Spielman: In Israel herrsche ein Kulturkampf zwischen liberalen und religiösen Juden. Teilweise ist dieser auch in der Schweiz spürbar, auch wenn öffentlich niemand richtig darüber spricht. Spielman sagt: «In der Schweiz leben wir Jüdinnen und Juden gut zusammen. Das soll so bleiben.» Das sieht auch Dana Landau so. Schliesslich sei «Gescher» das hebräische Wort für «Brücke».