Die Erinnerung an die Hamas-Blutorgie vom 7. Oktober verblasst. Hingegen setzen sich die Bilder von palästinensischen Flüchtlingen und zerbombten Wohnhäusern im Gedächtnis fest.
Im Olymp der Strategen sitzt der preussische Offizier und Militärwissenschafter Carl von Clausewitz (1780–1831) ganz oben. Sein 500-Seiten-Opus «Vom Kriege» ist Pflichtlektüre an den Militärakademien. Seine Einsichten leben fort. Unsterblich ist Krieg als «Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln». Das ewige Ziel? «Den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.» Aber: Tue nicht den «ersten Schritt, ohne an den letzten zu denken». Hitler hat nicht hingehört.
Heute müsste Clausewitz grübeln. Krieg ist zwar so alt wie Homo sapiens, aber das Wer und das Wie sind neu. Im 19. Jahrhundert fehlten Terror à la Hamas und Massenmord mit Linienflugzeugen wie 2001 in New York. Staaten fochten gegen Staaten, nicht Gotteskrieger. Russlands Reguläre kassierten 1783 die Krim, Putin schickte 2014 «grüne Männchen». Seit Jericho sind Städte Etappenziele, aber Josua musste nicht mit einer Hamas rechnen, die mit Raketen und Flugdrachen zuschlägt.
Heute steht der Städtekampf im Vordergrund – allein viermal in Gaza. Oder Grosny in Tschetschenien. Clausewitz kannte auch den Stellvertreterkrieg nicht. Grossmächte ziehen die Strippen, die Heloten bluten. Grundsätzlich: Bühne, Requisiten und Akteure des Krieges halten keinen Vergleich mit dem 19. Jahrhundert aus. Napoleon schickte 600 000 Mann ins grossräumige Gefecht. Doch Völkerschlachten sind seit 1945 vorbei – bis auf zwei atypische: Irak contra Iran in den 1980er Jahren und Putins Eroberungskrieg in der Ukraine seit 2022.
Diese könnte Clausewitz noch einordnen, aber kaum hypermoderne Mittel wie Echtzeitkommunikation und Weltraumwaffen. Janus zeigt lauter neue Gesichter. Vom Tunnelkampf hatte der Meister keinen Schimmer, ebenso wenig wie vom blutlosen Cyberangriff oder dem Terror à la Hamas. Schon gar nicht von der Atombombe, die alle alten Regeln gebrochen hat. Vorbei ist heute das «All-in» wie in den Weltkriegen. Unter dem «Gleichgewicht des Schreckens» herrscht seit 1945 die kosmische Angst. Also greift keine Grossmacht die andere an, nur deren Hilfstruppen bekriegen sich. In Korea, Vietnam, Afghanistan hat Amerika vordergründig gegen Pjongjang, Hanoi und die Taliban gekämpft, gemeint war die Sowjetunion. Diese war durch das Nukleartabu geschützt.
Umgekehrt attackiert Putin die Ukraine, der Westen gibt bloss Geld und Gerät. Es regiert grundsätzlich der Stellvertreterkrieg, wo die Grossen die Arsenale der Kleinen füllen, aber draussen bleiben. Am Golf trauen sich Amerika und Iran nicht, einander direkt zu beharken. Also schickt die Mullahkratie die Hamas, den Hizbullah und die Huthi an die Front: Schlagt Israel und trefft die USA, um sie aus Nahost zu vertreiben.
Die USA beschiessen proiranische Milizen in Jemen, im Irak und in Libanon, nicht aber den Drahtzieher. Und wenn Israel nicht pariert? Zwar mahnt Joe Biden immer heftiger Mässigung im Gaza-Krieg an, doch fliesst die Waffenhilfe weiter. Gerade hat der Senat 14 Milliarden Dollar bewilligt, und die Regierung hat zum dritten Mal in der Uno ihr Veto gegen einen sofortigen Waffenstillstand eingelegt. Denn der Feind sitzt in Teheran, und Israel ist Amerikas «Kontinentalschwert» – wie Preussen für England im Siebenjährigen Krieg.
Schnellschüsse der Medien
Die Fäden des neuen Krieges laufen in Gaza zusammen, wo es nur vordergründig um den Konflikt zwischen der Hamas und Israel geht. Deshalb hat Teheran die drei H – Hamas, Hizbullah, Huthi – trainiert und munitioniert, derweil Moskau und Peking Waffen und diplomatischen Feuerschutz liefern. In diesem kleinen Weltkrieg sind die Einsätze überschaubar, der Spieltisch wird nicht zertrümmert.
Deshalb wird Gaza demnächst die Lehrbücher füllen, aber nicht mit den atemlosen Schnellschüssen der Medien, die der israelischen Armee (IDF) nach dem 7. Oktober die rasche Niederlage in Gaza voraussagten. Die Saga liest sich so: Auch die beste Armee scheitert im Städtekampf, der Verteidiger hat die Oberhand. Im Gewirr der Gassen sind Panzer Särge. Sie können nicht manövrieren, sind ein leichtes Ziel für Panzerfäuste im achten Stock und Minen unter dem Asphalt. Die Hamas hat tausend Verstecke im urbanen Dschungel. Sie bewegt sich in kleinen Trupps, die auf- und wegtauchen. Im Labyrinth der Tunnel bleiben sie unauffindbar, derweil die Angreifer in Sprengfallen laufen.
Das nächste Handicap der IDF, so die Schnellstrategen, sei der «Wechselkurs» («force-exchange ratio») zwischen High- und Lowtech. Die Eigenbaugeschosse der Hamas kosten um die 500 Dollar pro Stück; die Abfangraketen des israelischen Iron-Dome-Systems 50 000 – eins zu hundert. Zugleich beherbergt die Tunnelstadt 3-D-Laserprinter und computerisierte Waffenfabrikation. Kein Wunder, dass die IDF am 7. Oktober überrascht wurden. Was man nicht sieht – Kommandoposten und Depots im tiefen Untergrund –, kann man nicht bekämpfen. Schliesslich hat die Hamas schier unbegrenzte Ressourcen: Abermillionen, die aus Katar nach Gaza flossen.
Nur hätten die Schnappschussexperten doch beim alten Clausewitz stöbern sollen, der im vierten Buch über «Anpassen» doziert und im ersten über den Krieg als «Stoss zweier lebendiger Kräfte». Mithin über die ewige Dialektik aller Kriegführung, die sich aus Erfahrung und Modernisierung speist. Die IDF waren immer wieder in Gaza präventiv eingedrungen. Vergeblich zwar, es führte aber zu taktisch-technischen Reformen.
Geringe israelische Verluste
Nehmen wir den vermeintlich todgeweihten Panzer. Israels Stahlmonster geniessen nun einen besseren Schutz als der deutsche Leopard. Der Merkava (Streitwagen) hält sogar dem hochgerühmten russischen Kornet-Abwehrgeschoss stand. Der IDF-Truppentransporter Namer sei das ideale «Kampftaxi» im urbanen Gefecht, schreibt der amerikanische Experte Edward Luttwak – das «bestgeschützte Fahrzeug der Geschichte». Der amerikanische Städtekampfforscher John Spencer nennt es «Bunker auf Ketten». Drinnen haben die Soldaten eine digitale 360-Grad-Sicht. Minidrohnen so gross wie Maikäfer spüren Mörser drei Ecken weiter auf.
Am Strassenrand räumen gepanzerte Bulldozer Minen weg. Die IDF haben in Gaza-ähnlichen Kulissen daheim den Städtekampf geübt und sich auf die Tunnel vorbereitet. Roboter spüren dort Sprengfallen und Kämpfer auf. Schnell gerinnende Chemikalien verstopfen die Gänge und lähmen den Gegner. Gegen die Raketen der Hamas nutzt Israel Iron Sting, ein mobiles Laserstrahlsystem, dessen Betrieb nur ein paar Schekel für Elektrizität kostet.
Nicht auf dem Schirm hatten die Instantanalytiker den sich ewig anpassenden Verbund von Technik und Taktik, als sie den IDF unsägliche Verluste prophezeiten. In der ersten Februarwoche meldeten die Israeli an die 200 Gefallene seit Beginn der Bodenoffensive Ende Oktober und rund 10 000 tote Hamas-Kombattanten. Eine solche Asymmetrie – eins zu fünfzig – wird man in der Geschichte des organisierten Krieges kein zweites Mal finden.
Diese Schlacht wird Israel gewinnen; jetzt das grosse Aber. Die zweite hat es bereits verloren. Das ist der «Krieg der Bilder», gelehrter: die «Asymmetrie der Legitimität». Um diese musste sich Clausewitz nicht kümmern, schrieb er doch in der TV-losen Ära der Kaiser und Könige, nicht für eine demokratische Öffentlichkeit. Verblasst ist die Hamas-Mordorgie vom 7. Oktober mit 1200 ermordeten Israeli – Frauen, Kindern, Greisen. Eingefressen haben sich die horrenden Bilder von Flüchtlingsströmen und zerbombten Wohnhäusern. Sowie die Meldungen des Gesundheitsministeriums in Gaza, eines Befehlsempfängers des Regimes, das von 29 000 Opfern spricht.
Überprüft werden können derlei politisch nützliche Zahlen nicht. Das tut nichts zur Sache. Entscheidend ist: Die IDF sind der Hamas in die voraussagbare Falle getappt. In deren verquerer Logik sind die eigenen Toten zehnmal wertvoller als jede israelische Leiche. Deshalb verstecken die Kämpfer sich hinter «menschlichen Schutzschilden» – Hospitälern, Schulen und Zivilisten. Diese Taktik haben die Genfer Konventionen geächtet. Doch hat das politische Kalkül wie geplant funktioniert: je mehr eigene Tote, desto besser für die Hamas. Täglich wächst der Druck der USA und der EU. So hat Israel die Schlacht um die Legitimität verloren.
Israel ist der moralische Verlierer
Das Opfer von gestern ist der Aggressor von heute, und die Hamas ist entlastet. Der moralischen Asymmetrie zweiter Teil: Entwaffnungsschläge haben ein kurzes Ablaufdatum: entweder schnell und begrenzt oder gar nicht. Denn eine westliche Demokratie – die einzige in Nahost – kann sich nicht erlauben, was für Despoten zynische Routine ist. Die Russen haben Grosny plattgemacht, der Syrer Asad hat 300 000 Landsleute umgebracht und Millionen in die Flucht getrieben. Pakistan jagt 1,7 Millionen Afghanen davon; Venezuelas Diktator Maduro hat acht Millionen Flüchtlinge auf dem Gewissen. Putin bombardiert in der Ukraine gezielt Krankenhäuser, Schulen und Dämme. Und die schlechte Presse? Sie stärkt den neuen Zaren, schürt sie doch den antiwestlichen Nationalismus.
Der moralische Verlierer ist Israel. Dass Iran, die Hamas und Co. den Staat auslöschen wollen, fällt nicht ins Gewicht. Das Blutbad ist «Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln». Die Massaker vom 7. Oktober sollten einen horrenden Gegenschlag provozieren, sodann das wachsende Netz arabisch-israelischer Friedensschlüsse zerreissen, den Westen und den «globalen Süden» gegen den jüdischen Staat aufbringen. Die Bilanz? Die Operation läuft plangemäss, der palästinensische Patient blutet. Und in Israel triumphieren die ultrarechten Friedensfeinde, politische Cousins der Hamas.
Geben wir dem alten Clausewitz das letzte Wort. Der hätte durchschaut, was sich unter der Chiffre «Gaza» abspielt. Es ist ein verkleideter Machtkampf um die Vorherrschaft über das strategische Scharnier Europa – Asien – Afrika, den «Elefantenpfad der Geschichte» (Moshe Dayan), wo seit Jahrtausenden gekämpft wird. Es wäre ein Gottesgeschenk, wenn die Zweistaatenlösung einhegen könnte, was in Wahrheit ein Grossmachtsdrama mit wechselnden Haupt- und Nebenrollen ist. Ein zweiter Staat ist jetzt noch weiter weg. Die nächste Gewaltwelle ist programmiert.
Einen Trost gibt es doch: Im Schatten der Bombe wird aus Gaza kein Sarajevo, wo die Staaten in den Ersten Weltkrieg taumelten. Clausewitz konnte nicht das «Gleichgewicht des Schreckens» voraussehen, das erstmalig den ganz grossen Krieg unterdrückt. Die Stellvertreter sterben, die Mächtigen nicht.
Josef Joffe ist Stanford-Fellow und Publizist, er lehrt Sicherheits- und internationale Politik.