Der Bahnknotenpunkt inmitten der Schweiz sei längst eine Schengen-Aussengrenze, sagt der zuständige Regierungsrat des Kantons Schwyz. Er ermuntert den Bundesrat, die Einhaltung der Regelungen zu überdenken.
Der Bahnhof Arth-Goldau ist wie ein Stop-Motion-Film in Endlosschlaufe. Menschen und Züge kommen und gehen. In der Mitte der Ypsilon-förmigen Perronüberbauung steht Xaver Schuler und beobachtet das Treiben. Manchmal grüssen Passanten. Gut möglich, dass es seine Wähler sind.
Der 44-Jährige ist seit anderthalb Jahren Vorsteher des Sicherheitsdepartements des Kantons Schwyz. Zuvor war er Gemeinderat, Präsident der kantonalen SVP-Sektion, Präsident des Kantonsrats. Die Ochsentour als politischer Bildungsweg – beruflich war der gelernte Plattenleger in dieser Zeit selbständig.
«Schauen Sie sich um», sagt Schuler stolz, «im Grunde genommen ist es hier sauber und sicher.» Tatsächlich deutet auf den ersten Blick nichts darauf hin, dass am Bahnknotenpunkt nicht nur Wanderer und andere Touristen verkehren. Das hängt mit der überschaubaren Aufenthaltsdauer des Journalisten zusammen – der typische Vorführeffekt. Vor allem aber sind die Migrationszahlen im Moment rückläufig.
Im Juni wurden schweizweit weniger Asylgesuche gestellt. Die Zahl ist laut Staatssekretariat für Migration (SEM) im Vorjahresvergleich um 514 (–21,5 Prozent) gesunken. Auch die Zahl der illegalen Einreisen an der italienischen Südgrenze sind zum Teil massiv zurückgegangen. Die Südroute sei «versiegt», schreibt die «NZZ am Sonntag» mit Verweis unter anderem auf die strenge Migrationspolitik der Meloni-Regierung und ein Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und Tunesien.
Zusammenarbeit mit Meloni-Regierung «gleich null»
Das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) stelle am Bahnhof Arth-Goldau momentan «keine erhöhte Migration» fest. Die Aufgriffszahlen seien im Moment sehr tief. Auch bei den Verdachtsfällen für Schleppertätigkeiten sind die Zahlen im Vorjahresvergleich stark gesunken – wobei das BAZG die Anzahl der durchgeführten Kontrollen statistisch nicht erfasst.
Migrationspolitik ist auch Management von Momentaufnahmen. Xaver Schuler will nicht Alarm schlagen. Das hat er auch dann nicht gemacht, als die Zahlen viel höher waren. Aber dass «seine» Kantonspolizisten gemeinsam mit der Bahnpolizei sowie dem Grenzwachtkorps in Arth-Goldau Leute ohne gültige Papiere aus den Zügen holten und registrierten, sei hier selbst in ruhigeren Zeiten an der Tagesordnung. Arth-Goldau, so Schuler, sei faktisch eine Schengen-Aussengrenze mitten in der Schweiz.
In Bundesbern kennt man die Situation in der Zentralschweiz. Die Schwyzer Ständerätin Petra Gössi hat in der Frühlingssession auf die Schwierigkeiten der kantonalen Behörden hingewiesen. Migranten, die bei Chiasso illegal über die Grenze kommen und dort oder in Bellinzona nicht aus dem Zug geholt werden, landen in Arth-Goldau.
Wenn man diese nach Italien zurückschicke, erklärte Gössi, stünden dieselben Personen innert weniger Tage wieder auf dem Perron in Arth-Goldau. Wenn man sie nach Frankreich oder Deutschland weiterreisen lasse, sei die Sache zwar «faktisch erledigt». Die Behörden in ihrem Kanton seien aber verunsichert, «was sie mit diesen Personen machen müssen». Die Situation sei «unbefriedigend», meinte Ständerätin Gössi im Plenum in Anwesenheit des zuständigen Bundesrats Beat Jans.
Dass man illegal Eingewanderte willentlich weiterreisen lasse, bestreitet Schuler. Man halte sich an Schengen/Dublin und registriere die Personen. Wenn die Menschen Asyl beantragen, werden sie in die Zentren in Chiasso, Zürich oder Basel gebracht. Was Schuler an Gössis Analyse teilt, ist das Unbehagen. In Arth-Goldau stösst die europäische Migrationspolitik an ihre Grenzen. Die Lage sei zwar im Griff, versichert Schuler, binde aber sehr viele Ressourcen. Die Arbeit der Grenzwächter und Polizisten ist eine Sisyphusarbeit.
Der Nachbar im Süden nehme illegal Eingewanderte, die in Italien registriert worden seien, nicht zurück. «Für Italien existiert Dublin/Schengen gar nicht», sagt Schuler. Die Zusammenarbeit mit der Meloni-Regierung sei diesbezüglich «gleich null». Gleichzeitig würden Länder im Norden, etwa Deutschland, vom Schengen-Prinzip abweichen, indem sie die eigenen Grenzen strenger kontrollierten.
Die während der Fussball-Europameisterschaft verschärften Kontrollen dürften die Attraktivität der Süd-Nord-Route via Schweiz gemindert haben. Die Union-Parteichefs Friedrich Merz und Markus Söder, aber auch die Bundespolizeigewerkschaft fordern die Ampelregierung auf, an den verschärften Grenzkontrollen auch über die Europameisterschaft hinaus festzuhalten. Wenn Italien bockt und Deutschland blockiert, dürfte die Schweiz vermehrt zum Auffangbecken werden, befürchtet Schuler.
Man hört beim SVP-Mann den Stolz heraus, dass sein Land ein verlässlicher und sehr gewissenhafter Vertragspartner ist. Gleichzeitig kann er seinen Frust nicht verbergen, dass der gute Leumund ein Alleinstellungsmerkmal der Schweiz ist. «Im Gegensatz zu anderen Ländern halten wir uns peinlich genau an Schengen/Dublin», sagt Schuler. «Der Bundesrat müsste mal überdenken, ob diese einseitige Verlässlichkeit überhaupt im Interesse der Schweiz ist.»
Negatives Gesamtbild
Mit Fundamentalkritik an Bundesbern und dem zuständigen Bundesrat Jans hält sich Schuler derweil zurück. Das dürfte auch mit seiner Exekutivtätigkeit zu tun haben. In der Politik ist vieles leichter gesagt als getan. Manches ist schwierig gesagt und schwierig getan. Nebenbei bemerkt Schuler, dass die Schwyzer Kantonspolizei einiges an Ressourcen aufwende, um Ausschaffungen abgewiesener Asylbewerber durchzuführen. Auch das sei unschön, gehöre aber ebenso dazu.
Der Staat müsse die Gesetze durchsetzen können, sonst verliere er an Glaubwürdigkeit. Der Schwyzer Law-and-Order-Regierungsrat hadert deshalb mit Europas Migrationspolitik. Der verhältnismässig hohe Ausländeranteil in Goldau sei im Kanton allen bewusst. Problematischer sei es entlang der Autobahnausfahrten, wo es immer mal wieder zu Raubzügen ausländischer Banden komme. Wenn dann noch Bilder von abgeführten Menschen auf dem schmucken Bahnhof in Arth-Goldau dazukämen, entstehe bei der Bevölkerung ein negatives Gesamtbild. Ein vom Bund geplantes Ausschaffungszentrum stösst in Arth-Goldau auf Widerstand.
Bevor es mit dem politischen Alltag wieder weitergeht, reist Schuler diesen Sommer in die USA. Verwandte von ihm leben dort, sie sind vor zwei Generationen weggezogen. Bereits im 19. Jahrhundert seien viele Schwyzer ausgewandert, sagt Schuler. «Migration ist ganz normal, aber ein Staat muss sie regeln können.»