Indien ist auf dem Weg zur drittgrössten Volkswirtschaft der Welt. Doch es steht vor tiefgreifenden strukturellen Problemen.
Indien feiert ein Mal im Jahr seine Startups. Am «National Startup Day» gibt es in Gründungszentren im ganzen Land Veranstaltungen, und in den sozialen Netzwerken präsentieren Universitäten ihre erfolgreichen Gründer. Indiens Premierminister Narendra Modi gratuliert per Video-Botschaft. Den Ehrentag im Januar hat Modi vor zwei Jahren ausgerufen, um die Verdienste der Branche für das Land hervorzuheben. Er sagt: Die Startups seien das Rückgrat des neuen Indien.
Indiens Premierminister neigt zwar zum Übertreiben, doch die jungen Unternehmen zeigen wie unter einem Brennglas seine wirtschaftlichen Ambitionen für das Land. Modi will Indien zu einer Volkswirtschaft mit globaler Macht transformieren. Die Startup-Branche hat das schon geschafft.
Bengaluru ist eine globale Gründer-Metropole
Über 140 000 Startups zählt die indische Regierung stolz auf ihrer Website. Nach den USA und China ist es das Land mit den meisten Unicorns, also jungen, ultraerfolgreichen Unternehmen mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde Dollar. Laut CB Insights gibt es in Indien derzeit 71 Unicorns, 31 stammen aus Bengaluru, Indiens Gründer-Metropole mit internationaler Strahlkraft.
Die Zwölf-Millionen-Stadt in Südindien wächst seit Jahren unaufhörlich, die Dichte an klugen Köpfen ist hoch, die Mieten sind teuer. Viele, die hierherkommen, träumen vom Erfolg als Gründer. Sie suchen Ideengeber, Geschäftspartner oder Investoren. In Bengaluru ist ein unternehmerisches Umfeld entstanden, von dem die Leute sagen, es könne es mit dem Silicon Valley aufnehmen.
Dazu haben auch Modis umfassende Wirtschaftsreformen beigetragen. Mit dem Programm «Startup India» fördert der Premierminister die Branche etwa mit Steuererleichterungen. Zudem wurde in den vergangenen Jahren das digitale Zahlungssystem UPI eingeführt, viele Inder haben jetzt erstmals ein Bankkonto. Für Startups ist das wichtig, weil sie digitale Geschäftsmodelle verfolgen, die mit Papiergeld wenig anfangen können.
Modi modernisiert das Wirtschaftssystem, die Gründer füllen es mit Unternehmen, die Investoren geben das Geld. Bei Wirtschaftsleuten ist Modi beliebt. Als bei den Wahlen im Juni die Umfragen einen Sieg Modis prophezeiten, sprang Indiens wichtigster Aktienindex Nifty 50 um 3,3 Prozent nach oben – auf seinen bis dato höchsten Wert.
Heute gehört Indien zu den am schnellsten wachsenden Wirtschaftsnationen der Welt, seit dem Jahr 2000 ist sein Bruttoinlandprodukt durchschnittlich mehr als 6 Prozent pro Jahr gewachsen. Indien ist die fünftgrösste Volkswirtschaft der Welt, 2011 war es noch die zehntgrösste. Bis 2027 könnte es nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds an Japan und Deutschland vorbei auf Platz 3 rücken.
Investoren haben Angst, etwas zu verpassen
Im Ausland weckt das Begehrlichkeiten. Und es schürt die Angst, etwas zu verpassen. Wie damals beim Aufstieg Chinas. Wer frühzeitig in das Land investiert hatte, konnte gigantische Renditen erzielen.
Und so steigen die Investitionen ausländischer Firmen in Indien seit Jahren. 2022 waren sie vierzehnmal höher als zu Beginn des Jahrtausends, seit Modis Amtsantritt im Jahr 2014 sind die Zahlungen um 44 Prozent gestiegen.
Auch über 330 Schweizer Unternehmen haben laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in Indien investiert, nach Angaben der Schweizer Nationalbank bis 2022 rund 8,1 Milliarden Franken.
«Indien ist eine grosse Chance für uns, wir müssen den Moment nun nutzen», sagt Philippe Reich. Der Präsident der Schweizerisch-Indischen Handelskammer setzt sich für starke Beziehungen der Schweiz zu Indien ein. Er ist Experte für internationales Handelsrecht und hat dazu beigetragen, dass die Schweiz und die anderen Efta-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen im Frühjahr ein Freihandelsabkommen mit Indien abschliessen konnten. Sie sind die ersten Staaten in Europa. Für Reich ist es ein Wettbewerbsvorteil. Er sagt: «Indien ist die neue Wachstumslokomotive der Welt.»
Das Freihandelsabkommen der Schweiz mit Indien ist eine Wette darauf, dass Indiens Wirtschaft einmal ganz gross werden wird. Doch ohne Gold gehen zurzeit erst 0,7 Prozent der Schweizer Exporte nach Indien. Das Land trägt bloss 3 Prozent zur weltweiten Wirtschaftsleistung bei, bei China sind es 18 Prozent. Dabei haben beide Länder fast gleich viele Einwohner: 1,4 Milliarden.
Um in der Eisenbahn-Metaphorik von Handelskammer-Präsident Reich zu bleiben: Indien ist tatsächlich eine Lokomotive, eine mit ganz viel Dampf im Kessel. Sie rauscht über die Schienen, doch vorne am Horizont sind die Bahnarbeiter noch dabei, die Gleise zu verlegen. Kann der Zug weiterrasen, oder wird er bald abbremsen müssen, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen?
Indiens Wirtschaft steht vor grossen Herausforderungen
Modi ist ein Redner, der nicht müde wird, sich als Heilsbringer für Indien darzustellen. Ohne ihn wäre die Wirtschaft schwächer, ohne ihn ginge es den Menschen schlechter. Was im Land gut läuft, schreibt Modi sich selbst zu. Doch an dieser Erzählung zweifeln immer mehr Inder, bei der Parlamentswahl dieses Jahr verlor Modis Partei Bharatiya Janata Party (BJP) die absolute Mehrheit, die sie von 2014 an innehatte.
Indien steht vor gewaltigen strukturellen Herausforderungen. Denn Startups machen noch lange keine Wirtschaft gross. Als Land befindet es sich irgendwo zwischen Industrie- und Entwicklungsland. Und hier beginnt das Problem.
Auf der einen Seite bleibt Indien in weiten Teilen ein kleinbäuerlich geprägter Agrarstaat. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft, doch der wenig produktive Sektor trägt nur rund 16 Prozent zum Bruttoinlandprodukt bei. Die meisten Beschäftigten in der Landwirtschaft haben weder Geld noch Perspektiven.
Auf der anderen Seite hat es Indien im Zuge der Outsourcing-Bestrebungen westlicher Firmen geschafft, einen beachtlichen Dienstleistungssektor aufzubauen. Mittlerweile arbeitet in Indien etwa jeder dritte Erwerbstätige in der Branche.
Insbesondere der IT-Sektor hat Indien international viel Anerkennung gebracht. Doch die IT-Branche bot 2022 gerade einmal 5,1 Millionen Menschen eine Arbeitsstelle, eine verschwindend geringe Zahl bei über 875 Millionen Indern im erwerbsfähigen Alter.
Das ist symptomatisch für Indien. Es gibt viel zu wenig Arbeitsplätze, besonders für junge Leute. Jeder zweite Inder ist jünger als 28 Jahre, laut dem Think-Tank Centre for Monitoring Indian Economy lag die Jugendarbeitslosigkeit vergangenes Jahr bei 45,4 Prozent. Indiens offizielle Arbeitslosenstatistik ist wenig aussagekräftig, ein Grossteil der Bevölkerung verdingt sich im informellen Sektor. Zum Überleben reicht Indiens improvisierte Schattenwirtschaft aber kaum. Was dem Land helfen könnte, sind zusätzliche Fabriken.
Die Breite der Bevölkerung braucht Wohlstand
Neben dem Dienstleistungssektor schafft auch die Industrie massenweise Arbeitsplätze, auch für Geringqualifizierte. Diese befreien die Menschen aus der Armut, der Konsum steigt, es entstehen neue Absatzmärkte. Viele Industrieländer sind in den letzten 200 Jahren diesen Weg gegangen. Zuletzt war diese Entwicklung in China zu beobachten. Jetzt haben viele Chinesen einen gewissen Wohlstand erreicht. Jobs verlagern sich in den Dienstleistungssektor, das Land löst sich von seinem Fokus auf die Industrie, der Wohlstand steigt weiter.
Modi weiss, dass er diesen Prozess nicht einfach überspringen kann. Mit allerlei Reformen versucht er ihn daher anzustossen, wobei er ganz unten beginnen musste. So führte er 2017 überhaupt erst eine einheitliche Mehrwertsteuer für Indien ein, um die Voraussetzungen für den Aufbau einer indischen Industrie zu schaffen: einen funktionierenden Binnenmarkt.
Zuvor erhob jeder Bundesstaat eigene Abgaben. Wenn ein LKW über Indiens Strassen fuhr, stand er an jeder inländischen Grenze im Stau, um zur Kasse gebeten zu werden. Ein absurdes System.
Doch nur wenn es auch genügend Strassen, Schienen und Häfen gibt, kann die Industrie florieren. Modi baut daher die Infrastruktur des Landes massiv aus. Allein dieses Fiskaljahr will der Staat mehr als 130 Milliarden Dollar investieren. Seit Modis Amtsantritt haben sich die Ausgaben der Zentralregierung für Infrastruktur mehr als verdreifacht, das Netz der Autobahnen wuchs um 60 Prozent, es gibt mehr als doppelt so viele Flughäfen.
Es ist eine gigantische Infrastrukturoffensive, doch in dem riesigen Land bleibt noch viel zu tun. Noch immer sind viele Verkehrswege überlastet, nicht alle Landesteile sind erschlossen. Modis Reformen haben nicht den Wandel gebracht, den er so gerne verkündet. Das zeigt sich auch an den wirtschaftlichen Zahlen.
Auch vor Modi investierte die Regierung in die Infrastruktur, auch vor Modi wuchs die Wirtschaft. Mit ihm gehen die Entwicklungen bloss weiter. Beispiel Industrie: Seit 2008 sinkt der Anteil des Sektors an der Wirtschaftsleistung, die Industrie wächst weniger stark als die gesamte Wirtschaft. Auch die Landwirtschaft wird weniger wichtig, die Bedeutung des Dienstleistungssektors nimmt hingegen zu. Modi hat diesen Prozess weder sichtbar beschleunigt noch verlangsamt.
Was sich verändert hat, ist die Kommunikation. Modi schafft Reform- und Investitionspakete, die er laut bewirbt. Er formuliert eingängige Visionen wie «Indien 2047», spätestens hundert Jahre nach der Unabhängigkeit soll Indien eine Industrienation sein. Doch es gibt da einen Haken: Nicht alles, was Modi tut, dient diesem Plan auch.
So hat er beispielsweise das Bildungswesen völlig vernachlässigt. Bildung geniesst einen hohen Stellenwert in der indischen Gesellschaft, fast jedes Kind geht zur Schule. Doch Indien hat Schulen, die so schlecht sind, dass das Land bei der Pisa-Studie im Jahr 2009 weltweit den vorletzten Platz belegte. Seitdem hat es lieber nicht mehr teilgenommen. Modi hat das nicht geändert.
Jeder vierte indische Erwachsene ist Analphabet. Bei den jungen Leuten kann zwar fast jeder lesen und schreiben. Doch deren Fähigkeiten lassen sich kaum mit dem Niveau von Schweizer Jugendlichen vergleichen. Das System verspielt das Potenzial der jungen Menschen.
Nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung gibt es Schulen und Universitäten auf internationalem Niveau. Diese bringen jene Absolventen hervor, die das Bild des Landes verändern. Es sind die jungen Menschen, die als Fachkräfte ins Ausland gehen, die für die indischen Abteilungen internationaler Unternehmen arbeiten oder die in Indiens Startup-Metropole Bengaluru ein Unternehmen gründen.
Der Westen sieht die Geschichten des Aufstiegs
Modis Erzählung von sich selbst als dem Garanten für Indiens wirtschaftliche Zukunft ist brüchig. Auch Julian Zix sieht das so. Der Startup-Experte vernetzt mit dem deutsch-indischen Projekt Ginsep (German Indian Startup Exchange Program) die deutsche mit der indischen Gründer-Szene, unterstützt wird er vom deutschen Bundeswirtschaftsministerium. Bisher konnte er über 70 jungen Unternehmen helfen, den Markteintritt im jeweils anderen Land zu schaffen.
Zix sagt: «Indiens erfolgreiche Startups gibt es nicht wegen Modi, auch wenn er das gerne für sich beansprucht.» Wer erfolgreich werden möchte, verlasse sich nicht auf die Regierung. Modis Startup-Programm fördere eine Vielzahl an Konzepten, wirklich weltverändernde Ideen entstünden dabei kaum. Es ermutige jedoch Indiens junge Menschen, ein Unternehmen zu gründen.
Der Gründer-Förderer Zix sagt auch: «Wollen wir in Europa wirtschaftlich stark bleiben, müssen wir nach Indien schauen.» Er spricht vom «Entrepreneurial Spirit» der Inder. Man scheitere so lange, bis man erfolgreich sei. Es sei etwas, was sich Deutsche oder Schweizer von den Indern abschauen könnten. Zix sagt: «Überall in Indien funktioniert etwas nicht, die Menschen wachsen damit auf, eine Lösung zu finden.»
Das übertragen sie jetzt in Geschäftsmodelle. Das heisst auch: Viele Startups werden scheitern. Aber die jungen Gründer werden es weiter probieren. So lange, bis es klappt. Vielleicht ist es gerade das, was die Gewinnaussicht dieses Volkes ist.
Es gibt Tausende von Aufstiegsgeschichten in diesem Land, viele Inder beflügelt das, auf den eigenen Wohlstand zu hoffen. Sie glauben an Indiens Zukunft, für den Westen klingt es wie ein Versprechen.