Nach seiner erfolgreichen Rettungsmission versucht Marco Schällibaum seine Mannschaft starkzureden. Aber er räumt ein, dass der Rekordmeister vor der nächsten schwierigen Saison steht.
Marco Schällibaum, wie geht es Ihnen?
Ist das eine Fangfrage?
Überhaupt nicht. Es geht darum, wie Sie den sehr emotionalen Schlusspunkt der Saison 2023/24 verdaut haben mit der Rettung in letzter Minute gegen Thun und Ihrer anschliessenden Schelte des Boulevards.
Das war ein sehr aufwühlender Tag. Es ist für uns alle um sehr, sehr viel gegangen. Ich habe das Versprechen am Anfang gegeben, dass ich alles dafür geben werde, dass das Team in der Super League bleibt. Ich wollte dieses Versprechen erfüllen. An der ersten Mannschaft hängen viele Arbeitsplätze, das darf man nicht vergessen. Ich habe den Spielern gesagt, dass sie zu Helden werden können. Und so ist es gekommen. Es ist kein Meistertitel, kein Cup-Sieg. Aber emotional war es sehr ähnlich. Die Erleichterung war gewaltig. Und was das Interview angeht: Ich bin absolut respektvoll geblieben. Alles muss man sich nicht bieten lassen.
Cheftrainer Marco Schällibaum freut sich auf den Saisonauftakt. 🔵⚪
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— Grasshopper Club Zürich (@gc_zuerich) July 18, 2024
Sie ärgerten sich darüber, dass der «Blick» einen potenziellen Nachfolger für die neue Saison ins Spiel brachte.
Ja, da wurde gezielt versucht, Unruhe zu stiften. Das hat Energie gekostet. Aber GC ist immer noch da. Und ich auch, wie man sieht.
War die Vertragsverlängerung nach dem Ligaerhalt Formsache?
Sie war bestimmt nicht sonderlich kompliziert. Ich wollte bleiben. Und die Verantwortlichen haben gesehen, was ich kann. Da haben wir uns schnell gefunden.
Sie haben diese Helden-Analogie erwähnt. Wie müssen wir uns das vorstellen: Haben Sie vor dem Rückspiel in Thun mit Filmschnipseln von Superhelden gearbeitet?
Nein. Mit Bildern. Ich will nicht zu viel verraten, aber ich habe für jeden unserer Spieler einen Superhelden gefunden. Giotto Morandi war James Bond, ein anderer war Hulk. Und so weiter. Und nachdem wir es geschafft hatten, legte ich das letzte Bild vor die Kabinentür. Da kommen mir fast die Tränen, sorry. Aber es ist einfach eine besondere Mannschaft mit einem einzigartigen Teamgeist und einer Arbeitsmoral, die nicht alltäglich ist. Ich habe echte Kämpfer in diesem Team.
Wie sehr ging Ihnen die Furcht vor dem Abstieg an die Nieren? Der Eishockeycoach Kevin Schläpfer, im Baselbiet früher quasi Ihr Nachbar, hat einst gesagt, er habe während der Liga-Qualifikation kaum schlafen können.
So schlimm war es bei mir nicht. Im Nachhinein sagt es sich natürlich leicht, aber ich hatte ein tiefes Vertrauen, dass wir es schaffen. Für mich war der Schlüsselmoment das 1:1 in der 97. Minute im Heimspiel. Von da an lag der Druck wieder auf dem FC Thun. Das hat uns schon ausgezeichnet: diese Mentalität, die Weigerung, aufzugeben. So lebe ich mein Leben, es freut mich, dass es auf die Mannschaft abgefärbt hat.
Wie viel von der aus dem verhinderten Abstieg gewonnenen Energie kann GC in die neue Saison mitnehmen?
Klar zehren wir davon. Solche Situationen schmieden deinen Charakter. Und jeder wird alles dafür unternehmen, dass wir nicht noch einmal eine solche Extremsituation durchmachen müssen. Aber wir wissen, dass uns wieder eine schwierige Saison bevorsteht.
Das Kader ist bisher nur marginal verstärkt worden, die amerikanischen Besitzer versprachen bei ihrer Ankunft aber Investitionen. Wie geht das zusammen?
Wir haben die Spieler, die wir haben. Defensiv sind wir solid, aber es ist kein Geheimnis, dass wir vorne qualitativ noch zulegen müssen. Das ist kein Affront an die Spieler, die bereits da sind. Die sind gut. Aber sie zeigen es bisher zu oft nur im Training und nicht in den Spielen. Die Super-League-Saison beginnt sehr früh, das hilft uns nicht. Die Realität ist, dass wir für umworbene Spieler heute nicht die erste Wahl sind. Wir spielen in der Schweiz und in dieser Saison nicht europäisch, so ist das nun mal. Aber ich weiss, dass unser Sportchef Stephan Schwarz Tag und Nacht daran arbeitet, das Kader zu verstärken. Es geht darum, nicht blind zu investieren, nur damit man neue Spieler geholt hat. Sondern die richtigen Transfers zu machen. Die Mittel sind ja vorhanden. Aber eben, man wird, denke ich, nicht Milliardär, indem man das Geld zum Fenster rauswirft.
Sie haben in Yverdon mit amerikanischen Teambesitzern zusammengearbeitet und tun dies jetzt bei GC erneut. Gibt es Parallelen?
Ich sehe vor allem Unterschiede. Unsere Präsidentin Stacy Johns ist extra aus Los Angeles für einen Tag ans Spiel nach Thun geflogen. Das zeigt doch, dass den Verantwortlichen etwas an diesem Klub liegt. Ich spüre jedenfalls die Unterstützung.
Sie erlebten als Spieler in den frühen 1980er Jahren ein anderes GC. Eines, das sich nicht im Entferntesten mit dem Abstieg beschäftigen musste. Was ist von diesem Vermächtnis geblieben?
Wir haben damals innert drei Jahren vier Titel geholt. GC war das Mass aller Dinge, wir hatten sechs, sieben, acht Nationalspieler im Kader. Heute tragen wir zwei Sterne auf der Brust, wer kann das schon von sich sagen? GC ist der Rekordmeister, diese Tradition gilt es zu respektieren. Aber man muss auch sagen: So schön die alten Erfolge auch sind, heute können wir uns nichts davon kaufen. Wir müssen realistisch sein. Es geht darum, dass jeder hier seinen Beitrag leistet, damit GC morgen wieder glänzen kann.
Inwiefern hat Sie das GC von damals geprägt?
Es war für mich eine Lebensschule. Ich war sehr jung. Und konnte von Leuten wie Roger Berbig oder Roger Wehrli viel lernen. Zum Beispiel, was es braucht, um in diesem Geschäft erfolgreich zu sein. Wie viel man investieren muss. Wie man ein Teamplayer wird. Es war eine lehrreiche Zeit. Aber sie liegt mittlerweile vierzig Jahre zurück. Kürzlich habe ich mit den Jungs gegessen, die 1978 Real Madrid aus dem Europacup rausgeworfen haben. Claudio Sulser, Raimondo Ponte und so weiter. Es ist schön und wichtig, sich an die Geschichte zu erinnern. Aber eben: Heute bringt uns das keine Punkte.
Ist die Historie des Klubs heute eher eine Last? Weil zu viele Leute der Vergangenheit nachhängen? Das GC der letzten zwanzig Jahre scheint mit dem Klub von einst nicht mehr viel gemeinsam zu haben.
Zwanzig Jahre? Der letzte Titel liegt mit dem Cup-Sieg von 2013 elf Jahre zurück. Das ist ein Fakt. Aber es ist sicher so, dass der Druck bei GC grösser ist als anderswo und das dem Rekordmeister-Status geschuldet ist. Ich empfinde das als positiv. Wie gesagt: Ich denke, jede Mannschaft hätte gerne zwei Sterne auf dem Trikot. Was wir heute brauchen, ist Demut. Wir wissen, dass der Weg zurück an die Spitze lang ist.
Sie reden selbst von einer «schwierigen Saison». Was für ein Abschneiden wäre für Sie denn zufriedenstellend?
Wenn wir nichts mit dem Abstieg zu tun haben, ist es gut. Ich will mich nicht zu einer Platzierung äussern, aber wir werden eine bessere Saison als die letzte spielen. Klar wollen wir nach oben, jeder will das. Aber wir wissen, dass es viele talentierte Mannschaften in dieser Liga gibt.
Bevor Sie 2023 Yverdon in die Super League führten, mussten Sie vierzehn Jahre lang auf ein Engagement als Cheftrainer in dieser Liga warten. Was bedeutet es Ihnen, zurück zu sein?
Ich bin stolz, in der Super League zu coachen. Und besonders, das bei GC tun zu können. Es gibt viele gute Trainer und wenige Jobs. Ich habe mir das erarbeitet.
Kann es sein, dass GC die letzte Station Ihrer Karriere sein wird?
Ich weiss schon, worauf Sie abzielen. Peter Zeidler ist nicht mehr in St. Gallen, jetzt bin ich der älteste Sack der Liga. So ist der Lauf der Dinge. Aber ich bin hochmotiviert und freue mich jeden Morgen, zur Arbeit gehen zu können. Solange das so bleibt, will ich weitermachen.
Vor elf Jahren betreuten Sie Montreal in der Major League Soccer. Gab es nach diesem Engagement noch andere Möglichkeiten, im Ausland zu coachen?
Schon. Aber es muss ja doch irgendwie stimmen. Ich hätte nach China gehen können, aber ich glaube, das hätte mich nach zwei Monaten gekillt. Es muss nicht Sonne, Strand und Liegestuhl sein. Aber man ist ja doch ein Mensch und will sich halbwegs wohlfühlen.