Berühmt wurde er durch den Song «Der Goldene Reiter». Sein Weg führte über Grusel-Rock bis an den Rand der Politik. Eine Begegnung mit dem letzten Star der Neuen Deutschen Welle.
Er öffnet die Tür, und man denkt: Der Weihnachtsmann hat sich als Gangsta-Rapper verkleidet. Oder ist es vielleicht umgekehrt? Das Erscheinungsbild ist jedenfalls verwirrend. Ist das vielleicht typisch für den Veteranen des Pop-Betriebs?
Joachim Witt ist 75 Jahre alt. Und auch wenn das keiner mehr so richtig wahrhaben will: Der Sänger hat mit einem einzigen Song deutsche Musikgeschichte geschrieben! Verdrängen lässt es sich nicht. Dafür war «Der Goldene Reiter», erschienen 1980, einfach zu nervig, zu bizarr. Das Stück klemmt bis heute schräg im kollektiven Gedächtnis der Boomer-Generation. Ein peinlicher Gassenhauer, eine geniale Provokation, je nach Perspektive.
Witt also mit weissem Rauschebart und Zopffrisur, auf dem Kopf eine schwarze Baseball-Kappe mit Joachim-Witt-Schriftzug. Schwarzes Shirt, schwarze Hose, schwarze Sneakers. Er weiss, wie man Eindruck macht. «Kommen Sie herein», sagt er. «Wollen Sie einen Kaffee?» Und dann steht man schon im Esszimmer der grosszügigen Altbauwohnung von Herrn und Frau Witt im feinen Hamburger Stadtteil Uhlenhorst.
Alles war furchtbar
Juliane Witt bringt Getränke und nimmt Platz am Tisch, wo ihr Mann schwarz und majestätisch bereits Stellung bezogen hat. Er ist auch im Sitzen gross. Und weil seine Frau, Jahrgang 1988, klein und drahtig ist wie eine Olympionikin, verstärkt sich die Wirkung noch einmal: Joachim Witt, ein Monument.
«Der Goldene Reiter» handelt von Schizophrenie, von Klinikaufenhalten und psychotischen Zuständen. Wenn man sich alte Videos ansieht und dann einen Mitschnitt der Sendung «Spielbude» von 1980 findet, in der Witt den Song vor Kindern singt, die gerade mal die 5. Klasse erreicht haben mögen, fragt man sich: Musste da nicht mindestens ein Redaktor oder gar ein Programmchef gefeuert werden? Aber anscheinend ging das damals: Die mentale Entgleisung war Heranwachsenden als Thema zumutbar. Hauptsache, der Sound stimmte.
Und der Sound war heiter und hüpfend, ein unbeschwertes Geschrammel, das die Kritik als Post-Punk qualifizierte und die Plattenlabels als Neue Deutsche Wellte unter die Leute brachten. Witt sagt: «Deutschland war furchtbar in den achtziger Jahren. Der Konservatismus, die Politik, alles furchtbar. Ich dachte, wir müssen ein Statement setzen, auch politisch und moralisch.»
Inwiefern ein Song über «lebensbedrohliche Schizophrenie» und die Inkompetenz von «Behandlungszentren» eine politisch-moralische Wende einleiten könnte, darüber würde man gerne reden. Aber Joachim Witt sagt: «Wissen Sie, ich habe sehr feine Antennen für Gerechtigkeit, für Fairness. Mir ist es wichtig, dass die Benachteiligten auf dieser Welt andere Rechte bekommen, als es bisher der Fall war.»
Frau Witt sagt vorläufig nichts, schaut aber sehr konzentriert auf ihren Mann, und auch wohlwollend. Er macht das gut, scheint ihr Blick zu sagen, lassen wir ihn reden. Sie ist ja nicht nur die Lebensgefährtin des Stars, sondern auch seine Pressefachkraft und Tourmanagerin. Eine Museumswärterin des BRD-Pops und zugleich der Coach für dessen Modernisierung.
«Die Neue Deutsche Welle war ein Ausrufezeichen», sagt Joachim Witt. «Und da war auch eine gewisse Verzweiflung mit drin.» Auch das erschliesst sich einem nicht unmittelbar: Warum sollten Songs wie «Ich will Spass» und «Da Da Da» ein Unbehagen an der Kultur zum Ausdruck gebracht haben? Aber dass Witt gerne Ausrufezeichen setzt, Pop-ästhetisch gesprochen, das begreift man sofort, wenn man sich die Alben anhört, die auf die Neue Deutsche Welle folgten.
Raunen statt quengeln
Witt «erfand sich neu» – wie man so sagt, wenn jemand das Geschäftsmodell ändern muss, um nicht pleitezugehen. Zu seinem Genre wird ab den späten neunziger Jahren «Gothic», eine düster wummernde Spielart des Rock. Die Texte sind kein Quengeln mehr, sondern ein Raunen. Inhaltlich kreist das lyrische Ich ums Verlorensein in einer erkalteten Gesellschaft. Früher sagte man Weltschmerz dazu, heute heisst diese Gemütslage Fatalismus.
Juliane Witt, gebürtig aus Gera in Thüringen, hat diese Mischung aus Trotz, Resignation und vagem Revolte-Bedürfnis «abgeholt», wie sie sagt. Sie war zwei Jahre alt, als die Mauer fiel. Als Teenager konnte sie mit den im Wochentakt lancierten Boy-Bands nichts anfangen, aber mit den dräuenden Klängen von Joachim Witt schon. «Ich hatte keine Ahnung, wer er war», sagt sie. «Meine Eltern kannten ihn noch aus den Achtzigern. Sie haben mich Anfang der nuller Jahre zu einem Konzert mitgenommen. Von da an war ich Fan.»
Vertont Joachim Witt, die gerontokratische Instanz des 80er-Jahre-Pops, das Lebensgefühl ostdeutscher Millennials, deren soziales Koordinatensystem zu Beginn der 1990er Jahre auseinanderbricht? Juliane Witt sagt: «Das ist eben so meine Welt.» Joachim Witt sagt: «Ja, ein bisschen Drama muss sein.» Juliane Witt sagt: «Aber nur in der Kunst. Im richtigen Leben brauch ich das nicht mehr.»
Das Feuilleton hat aus Witts pessimistischer Lyrik ganz andere Töne herausgehört. Er ist daran nicht unschuldig. Wer seine Alben «Bayreuth» und «Rübezahl» nennt und die Massen beschwört, die man «ins Licht» zu führen habe, belastet die eigene Ästhetik mit einer riskanten Ikonografie. Rammstein liess man die giftige Semantik durchgehen – durch die ironische Überzeichnung sicherte sich die Band gegen Faschismus-Vorwürfe ab. Witt traf es schlimmer: Er wurde zum Schreckgespenst der «Neuen Deutschen Härte», quasi der national-chauvinistischen Spielart des Schlagers. Ein Pop-Teutone, der angeblich überall nach Zielgruppen fischte, auch am rechten Rand.
Man spricht das an, und Frau Witt wirkt jetzt ein bisschen unruhig. Wird das jetzt wieder eines dieser lästigen Interviews, als deren Fazit jemand schreibt, hier versuche einer «mit rollendem R die Leute bei Friedhofslaune zu halten»? Aber dann sagt Joachim Witt, dass er sich neuerdings für Sahra Wagenknecht und ihr neu gegründetes Bündnis einsetze. Und weil Sahra Wagenknecht nun alles Mögliche ist, aber keine Rechtsradikale, schaut Frau Witt wieder etwas entspannter drein.
«Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich überhaupt eine Affinität zu einer Partei verspüre», sagt Witt. Sahra Wagenknecht sei eine «positiv konnotierte Autoritätsfigur» und eine «charismatische Persönlichkeit». Sie konzentriere sich auf das, was die Menschen verbinde, nicht auf das, was sie trenne. «Über den Details verliert man das grosse Ganze aus dem Blick», sagt Joachim Witt. «Und wir müssen dieses Blockdenken überwinden.»
Ob Wagenknechts Bündnis tatsächlich für einen Ausgleich im politischen Klima sorgen wird oder nicht eher für eine Verschärfung der eh schon angespannten Lage, danach will man fragen, aber da steht Joachim Witt auf und zieht Schallplatten aus dem Regal. «Das sind meine Vorbilder, Otis Redding und Marvin Gaye. Die Phrasierung von ‹Herbergsvater› ist von Redding abgeschaut.»
Kurz ruft man sich Otis Redding ins Gedächtnis, aber was der afroamerikanische Soul der Bürgerrechtsbewegung mit einem Song zu tun hat, dessen Refrain aus der Zeile «Ich bin euer Herbergsvater» besteht, das kann man jetzt so schnell nicht ermitteln. Das wird einen noch lange beschäftigen, sehr lange.
Zwei passen zusammen
Witt legt weiter Schallplatten auf den Tisch, Motown, New Wave, David Bowie. Hat er vielleicht auch eine «Siegfried»-Einspielung im Schrank oder den «Ritt der Walküre»? «Wagner? Nein, den höre ich nicht», sagt Joachim Witt, und Frau Witt schüttelt zur Bestätigung den Kopf: «Wir hören eher was zum Chillen. Dieser eine Grieche, wie heisst der doch gleich?» Aber Joachim Witt weiss auch nicht, wie dieser Grieche heisst.
Zuletzt sagt man dann, dass das doch schön sei, wenn sich zwei Menschen über Generationen hinweg so gut verstehen – in politischer, vor allem aber in musikalischer Hinsicht. Und Juliane Witt sagt: «Wenn einer Schlager-Fan ist und der andere Heavy Metal hört, das geht gar nicht.» Joachim Witt sagt: «Nein, das geht dann irgendwann schief.» Und dann lächeln beide wie zwei Teenager, die gerade erkannt haben, wie gut sie zueinander passen und dass ihnen der Rest der Welt gestohlen bleiben kann.