Ehe John Slettvoll in den 1980er Jahren das «Grande Lugano» erschuf, coachte er Skelleftea. Vor dem Gastspiel des schwedischen Spitzenklubs im Final der Champions Hockey League bei Genf/Servette erinnert Slettvoll sich an sein famoses Schaffen.
Es ist 41 Jahre her, seit Sie in der Schweiz gelandet sind. Wie kam das?
John Slettvoll: Ich war Trainer bei Skelleftea. Der Samstag war unser einziger freier Tag, ich wollte also ausschlafen. Um 9 Uhr hat das Telefon geklingelt, ich habe den Anruf eher mürrisch entgegengenommen. Es war Geo Mantegazza. Der wollte mich besuchen kommen. Ich habe ihm gesagt: Das ist relativ kompliziert, man muss nach Stockholm fliegen und dann einen Inlandflug nehmen. Aber er hat einfach gesagt: «I come with my own plane.» Und ich dachte: Oh. Ja, na dann. Er ist dann tatsächlich hergekommen, wir haben uns lange unterhalten. Eine Woche später flog ich nach Lugano, um mir vor Ort ein Bild zu machen. Ich war schon 1962 und 1965 einmal dort, auf Durchreise, und hatte einen Kaffee am Wasser genossen. Aber ich hätte mir nicht gedacht, dass da Eishockey gespielt wird. Unter Palmen.
Mantegazza hat Ihnen beim Mittagessen ein Spielvideo gezeigt.
Ja. Wir haben uns das erste Drittel angeschaut und dann gegessen. Danach fragte er, ob ich mehr sehen wolle. Ich sagte: Das reicht. Es war Hawaii-Hockey ohne Systematik und kollektives Denken.
Aber den Job haben Sie trotzdem angenommen.
Ich war beeindruckt von der Professionalität der Gespräche. Aber ich hatte Respekt vor der Aufgabe, weil ich wusste: Das braucht Zeit. Bei Skelleftea hatten wir keine Profis. Ich hatte Spieler, die den ganzen Tag über als Lastwagenfahrer gearbeitet haben. Und dann mit dem LKW ins Training kamen. Ich selbst hatte als Lehrer gearbeitet, unter anderem mit schwererziehbaren Kindern. In Lugano habe ich Mantegazza gefragt, wie viele Spieler arbeiteten. Es waren zwei oder drei. Das hat mir ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Unser Wochenplan umfasste sieben Trainings, üblich waren in der Schweiz nur drei.
Gab es keinen Aufstand der Spieler?
Glücklicherweise waren viele intelligente und lernbegierige Spieler dabei. Es waren bestimmt nicht alle begeistert. Aber sie haben mitgezogen, auch wenn sie erstaunt waren, als ich am Mittag vor den Spielen ein Warm-up durchführen wollte, davon hatte in der Schweiz noch nie jemand etwas gehört. Wir kriegten dafür jahrelang kein Eis, weil die Eiskunstläufer zu dieser Zeit trainierten. Da haben wir uns halt im Fussballstadion warm gemacht.
Wie lange hat der Transformationsprozess gedauert?
Das ging schon nicht von heute auf morgen. Aber das war bei Skelleftea nicht anders. Ich wäre dort im ersten Jahr beinahe entlassen worden.
Wieso?
Wir waren lange schlecht, Letzter sogar. Auch dort habe ich die Taktik komplett umgekrempelt. Ich wurde in der Zeitung persönlich angegriffen, es hiess, dieser verdammte John Slettvoll wolle die DNA von Skelleftea zerstören. Ich sei ein Theoretiker und an der Bande «ein toter Fisch». Das war eine echte Hexenjagd. Ich hatte vorher beim Lokalrivalen Björklöven gespielt und war deshalb eine Reizfigur. Das erste Jahr war unangenehm. Aber wir haben die Kurve gekriegt, weil wir uns nicht beirren liessen.
Und in Lugano?
Ich stand vor einem grossen Rätsel: Wie schaffe ich, dass die Jungs meine Spielidee verstehen? Meine Familie ist in den ersten Jahren in Schweden geblieben. Als mich meine Frau einmal besuchen kam, nahm sie eine VHS-Kassette vom Spiel Skelleftea gegen Timra mit. Da war uns eine taktische Meisterleistung gelungen. Das war der Durchbruch, da hat es bei den Jungs «Klick» gemacht. Ihnen dämmerte, dass man auch so Eishockey spielen kann. Das war ein Glücksfall. Denn das Umfeld in Lugano ist anspruchsvoll. Wenn man mehr als zwei Mal in Folge verliert, gibt es schon eine gewisse Nervosität.
Von 1986 bis 1990 wurde Lugano in fünf Jahren vier Mal Meister. Was hat das ausgelöst?
Das war anfangs eine ziemliche Sensation. Ich bin für meine hohen Ziele zuerst ausgelacht worden. Als ich 1987 sagte, ich wolle im Europacup den Final erreichen, sagten die Journalisten: «Jetzt spinnt er.» Aber man muss Ambitionen haben. Sich vorstellen, wie man den Pokal in die Höhe streckt. Sonst erreicht man nichts.
Kriegt John Slettvoll heute noch in der ganzen Stadt Gratispizzen und Kaffees?
Wo denken Sie hin? Ich habe den Personenkult nie gesucht, er ist mir unangenehm. Ich bin nicht Eishockeycoach geworden, um Popularität zu erlangen. Aber ich komme immer einmal wieder zurück. Und freue mich, wenn man sich an diese Zeit erinnert. Ich rede gerne darüber. Auch wenn ich klar sagen muss: Das Leben spielt sich nicht in der Vergangenheit ab. Ich schaue nach vorne.
In der Zeitung «Sport» stand, Sie würden «sozialistisches Eishockey» spielen lassen. Stimmt das?
So ein Unsinn. Es hiess manchmal auch, ich sei ein Diktator. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ich habe immer gesagt: Ich bin kein Trainer, sondern ein Spieler, der aufgehört hat. Ich fragte mich immer: «John, hättest du das als Spieler akzeptiert?», und wenn die Antwort Nein war, habe ich es gelassen. Es war mir immer wichtig, die Spieler einzubeziehen. Sie sollten sich ihre eigenen Überlegungen machen, auch taktisch. Und diese teilen.
Fast so wichtig wie der Gewinn von Titeln war der Sieg in den Derbys gegen Ambri-Piotta. Wie lange hat es gedauert, bis Sie diese Rivalität verstanden haben?
Ich habe mich damit ein bisschen schwergetan. Wissen Sie, ich habe nicht viel übrig für Patriotismus, auch im Lokalen nicht. Und es stört mich, wenn der Sport in Geiselhaft genommen wird, um Hass zu propagieren. Darum habe ich immer betont, dass die Derbys nicht wichtiger sind als andere Spiele, es gab ja nicht mehr als die normalen zwei Punkte für einen Sieg. Aber ich habe bald verstanden, wie wichtig diese Spiele den Leuten sind. Dass man entweder für Ambri oder für Lugano ist, aber nie neutral. Das ist schon eine ordentliche Rivalität.
Die sich 1987 in der Valascia in einer legendären Schlacht mit 219 Strafminuten entlud.
Ambri hatte um die zehn Kanadier im Kader, die teilweise sehr dreckig gespielt haben. Antisin und McCourt zum Beispiel. Da wurde manchmal mutwillig versucht, unsere Spieler zu verletzen, allen voran Kent Johansson. Da haben wir gesagt: Das akzeptieren wir nicht mehr. Unsere Spieler wurden auch zu wenig geschützt. Ich habe einmal einen Schiedsrichter gefragt, wie er das verantworten könne. Der hat mir gesagt: Wir getrauen uns nicht, strenger zu pfeifen, sonst ist vor der Valascia wieder unser Auto demoliert. Also mussten wir selbst etwas unternehmen. Das haben wir getan. Mats Waltin musste mich zurückhalten, damit ich nicht auch handgreiflich wurde. Aber danach war Ruhe. Und die Schiedsrichter haben für den Rest der Saison perfekt gepfiffen.
Für den Anhang Ambris waren Sie ein rotes Tuch. Mussten Sie in der Valascia nie um ihre Gesundheit fürchten?
Nach der Schlägerei von 1987 riet man mir, über einen Hinterausgang zu verschwinden. Aber ich sagte: Ich bin durch den Haupteingang eingetreten, und ich gehe auch dort wieder hinaus. Das ging dann schon. Einmal musste ich einen am Kragen packen, der meine Schulter berührt hat. Sonst wurde viel geflucht, aber insgesamt war das harmlos.
Mit dem damaligen Ambri-Coach Roland von Mentlen fetzten Sie sich immer wieder leidenschaftlich.
Na ja, wie gesagt, alles hat seine Grenzen. Ich hätte am Tag nach dem Derby zu einem Streitgespräch mit ihm ins Studio des Tessiner Fernsehens gehen sollen, aber ich habe mich geweigert.
Mit der Begründung, dass man «mit einem Vakuum keine Diskussionen führen kann».
Das habe ich wohl gesagt. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe nichts gegen Ambri, ich habe grossen Respekt davor, dass dort heute immer noch Profi-Eishockey gespielt wird. Mit McCourt habe ich mich an einer WM einmal noch ausgesprochen, ein netter Typ! Er hat mir gestanden, dass sie jeweils versuchten, Johansson aus dem Spiel zu nehmen. Es ist ein Wunder, dass er nie einen Knochenbruch erlitten hat.
Apropos WM: 1992 wurden Sie über Nacht Schweizer Nationaltrainer.
Ja, die Olympischen Spiele in Méribel liefen nicht gut für die Schweiz. Da haben Sie mich angerufen, ob ich das Team für die WM übernehmen könnte. Das hat mich gefreut, es war eine Anerkennung für die Arbeit, die ich in Lugano geleistet hatte. Aber überrascht hat es mich schon.
Wieso?
Ich habe mich in jener Saison im September ziemlich intensiv mit dem damaligen Verbandspräsidenten René Fasel gestritten. Es sollte einen neuen Modus geben, in dem das schlechter klassierte Team in den Play-offs zuerst zu Hause spielen kann. Absurd, das System hätte Leistung und harte Arbeit nicht belohnt. Wir haben uns dann am TV duelliert, im «Time out» auf SF 1. Danach wurde die Idee beerdigt. Mitte der 1990er Jahre habe ich auch gegen die Abschaffung des Abstiegs gekämpft. Das wäre verheerend gewesen. Man darf den Leuten in der zweiten Liga nicht ihre Träume rauben.
Mit Ihnen erreichte die Schweiz an der WM sensationell den 4. Platz.
Das war ein gutes Turnier, ja, wir erreichten unter anderem gegen Russland und Kanada ein Remis. Leider sind wir ein Jahr später dann aus der A-Gruppe abgestiegen.
1992 wurden Sie auch ein erstes Mal in Lugano entlassen, 2009 verabschiedeten Sie sich zum letzten Mal. Dazwischen gab es auch eine Phase, in der Sie sechs Jahre lang nicht coachten. Wieso nicht?
2001 trainierte ich meinen Stammklub Björklöven. Danach fällte ich den Entscheid, dass die Familie für mich oberste Priorität hat. Es ist ein anspruchsvoller Job, Eishockeycoach zu sein. Du bist viel unterwegs und sehr angespannt. Ich habe mir damals viele Gedanken gemacht und zu meiner Frau gesagt: Was, wenn einer von uns zweien krank wird? Und wir nur für den Job gelebt haben? Das hätte ich mir nicht verzeihen können. Wir stammen beide aus einfachen Familien und haben als Erwachsene nichts anderes gemacht, als zu arbeiten. Also haben wir beide eine Pause eingelegt, um mehr Zeit füreinander zu haben. Das hat sich absolut gelohnt. Aber es war schwer, loszulassen. Coach zu sein, ist wie eine Droge. Klar, hatte ich da Entzugserscheinungen. Aber sie wurden mit den Jahren weniger. Auch das Telefon klingelte seltener. So ist das eben, alles ist vergänglich. 2006 habe ich dann einen Anruf aus Bozen gekriegt. Ich bin da hin, aber nach wenigen Wochen habe ich aufgegeben. Die Infrastruktur war nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
Stattdessen kehrten Sie ein Jahr später nach Lugano zurück. Und verliessen den Klub kurz danach im Streit wieder. War das Comeback ein Fehler?
Nein. Wir haben gegen Basel die Liga gehalten und waren in der Saison darauf in den Top-4 klassiert. Aber einige Dinge sind nicht so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt hatte. So ist das Leben. Ich bereue keine meiner Entscheidungen. Einmal hatte ich eine Anfrage aus der American Hockey League. Aber mit der Familie wäre das unmöglich gewesen, so wichtig ist mir die Karriere nicht.
Wie beobachten Sie das Eishockey heute?
Ich besuche sicher neun von zehn Heimspielen von Björklöven. Und gehe mit meinen Neffen ab und zu selbst aufs Eis. Ich bin sehr interessiert an den Entwicklungen. Das Tempo heute ist enorm, ich staune immer wieder.
Am Dienstag trifft ihr alter Klub Skelleftea im Final der Champions Hockey League auf Genf/Servette. Wie beurteilen Sie die Ausgangslage?
Skelleftea macht sehr viel sehr gut. Sie investieren einiges in den Nachwuchs, schon bei den 12- oder 13-Jährigen. Und profitieren davon, dass in Schweden sonst niemand diese Strategie so konsequent umsetzt. Ein bisschen kann man die Spielweise mit jener von Ajax Amsterdam in den 1970er Jahren vergleichen, diesem «Voetbal Totaal»: hoher Rhythmus, schnelle Gegenangriffe, der Teamgedanke im Vordergrund. Der Nummer-1-Goalie war lange verletzt, vielleicht gibt es da ein kleines Fragezeichen. Aber es ist eine starke Mannschaft, ich freue mich auf das Spiel.
Slettvoll prägte Lugano mehr als ein Jahrzehnt
nbr. John Slettvoll wechselte 1983 nach Lugano und prägte den Klub während mehr als einem Jahrzehnt, zu seinem Vermächtnis gehören vier Meistertitel. Er war in Lugano Trainer und kurz auch Sportchef, später coachte er auch das Schweizer Nationalteam, Herisau und zuletzt 2009/10 die Rapperswil-Jona Lakers. Heute lebt Slettvoll, 79, in Umea, wo er lange eine Kolumne in der Lokalzeitung schrieb. Slettvolls Ex-Klub Skelleftea AIK trifft am Dienstag (19.30 Uhr) im Final der Champions Hockey League auf den Schweizer Meister Genf/Servette.