Brasiliens Arme verlieren massenhaft Geld bei Online-Wetten. Auf das perfide Geschäftsmodell der digitalen Wettplattformen sind die wenigsten vorbereitet.
Online-Wetten haben Brasilien wie ein Fieber erfasst: Rund 20 Milliarden Real, umgerechnet 3,7 Milliarden Dollar, setzen die Brasilianerinnen und Brasilianer nach Angaben des Banco Central derzeit monatlich auf digitalen Wettplattformen. 24 Millionen Menschen haben 2024 mindestens einmal digital Geld gesetzt. Das entspricht einem Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung. Die meisten Spielerinnen und Spieler sind zwischen 20 und 30 Jahre alt.
Vielen gemeinsam ist, dass sie arm sind. Laut einer Studie des Instituts Locomotiva, das die Konsumgewohnheiten der ärmsten Einkommensschichten untersucht, wettet von den Familien, die zwischen 230 und 1600 Dollar im Monat zur Verfügung haben, fast jeder vierte Geringverdiener mindestens einmal im Monat. Rund 86 Prozent sind verschuldet.
Ein Viertel der landesweit ausgezahlten Sozialhilfe Bolsa Familia landet inzwischen jeden Monat auf den Konten digitaler Wettanbieter. Und dort bleibt es auch: Nur ein Drittel der ärmeren Spieler zögen ihre Gewinne ab und konsumierten sie ausserhalb des Wettgeschäfts, hat Locomotiva herausgefunden.
Brasilien ist der drittgrösste digitale Wettmarkt weltweit
Nach den USA und Grossbritannien ist Brasilien laut der Unternehmensberatung PwC bereits der drittgrösste Online-Wettmarkt der Welt. Der englische Begriff «bets» für Online-Wetten ist mittlerweile in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Für das Image der Branche ist das nützlich: «Glücksspiel» wird in Brasilien mit «Pechspiel» übersetzt.
Inzwischen hat die Wettsucht reale wirtschaftliche Auswirkungen: Trotz soliden Wachstumsraten, hoher Beschäftigung und deutlichen Lohnerhöhungen seit 2022 haben die unteren Einkommensschichten laut PwC noch nicht wieder die relative Kaufkraft erreicht, die sie vor der Pandemie hatten. Einzelhändler, Modehändler, Möbelhersteller, Hersteller persönlicher Konsumgüter, Banken – sie alle kämpfen mit stagnierenden oder einbrechenden Umsätzen.
Die Kostenwelle, die durch die grassierende Spielsucht auf die öffentlichen Gesundheitssysteme zurollt, wird erst mittelfristig spürbar. In den Kliniken soll die Zahl der Hilfesuchenden rapide ansteigen. Der Verband der Glücksspiel- und Lotteriebetreiber (ANJL) hat nun mitgeteilt, in einem freiwilligen Pilotprojekt 21 000 Spielsüchtigen eine Therapie anbieten zu wollen.
Erst 2018 wurde der digitale Wettmarkt in Brasilien legalisiert. Doch die Regierungen haben es versäumt, den Sektor zu regulieren. So konnte ein Wildwuchs an digitalen Plattformen entstehen. Es gibt mehrere Gründe, warum in Brasilien innerhalb kurzer Zeit ein Wettfieber ausgebrochen ist.
Das Geschäftsmodell der Wettplattformen ist erstens genau auf die armen Brasilianer zugeschnitten. Ziel ist es, ihnen in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld aus der Tasche zu ziehen.
Brasilianer sind traditionell wettbegeistert
Das funktioniert zweitens, weil die Brasilianer traditionell sehr wettbegeistert sind. Das «jogo do bicho», die landesweite illegale Tierlotterie, gibt es seit 1892. «Rifas», privat organisierte Nachbarschaftslotterien, bei denen man vom Lebensmittelkorb bis zum Motorrad alles gewinnen kann, sind seit je beliebt. Auch die von internationalen Konzernen in Brasilien organisierten «consórcios» (etwa «Konsortialkäufe»), also für geschlossene Teilnehmergruppen organisierte Verkaufsmodelle etwa beim Auto- oder Hauskauf, integrieren Elemente von Glücksspielen.
Im Gegensatz zu den traditionellen Formen des Glücksspiels sind die digitalen Wetten jedoch intransparent, intensiv und spontan. Fast jeder Brasilianer besitzt ein Smartphone und nutzt es täglich mehrere Stunden. Algorithmen sorgen dafür, dass potenzielle Spieler immer wieder in die digitale Wettwelt hineingezogen werden. Sie müssen nicht Tage oder Wochen auf das Ergebnis ihrer Wette warten. Belohnung und Enttäuschung sind nur einen Klick entfernt und sofort wiederholbar. Experten vergleichen die Spielsucht mit Crack – so schnell und brutal werden Menschen in das Wett-Labyrinth hineingezogen.
Hinzu kommt: Wegen der hohen Renditen in der Branche sind die Unternehmen bereit, viele Millionen ins Marketing zu stecken: Sie engagieren für viel Geld Pop-Stars, Influencerinnen, Fussballvereine und ihre besten Spieler, Rodeo-Stars, ja sogar Influencer-Kinder, die mit ihren vermeintlichen Gewinnen werben.
Die Wetten wurden so schnell populär. Aber auch auf dem Finanzmarkt spielen sie eine immer grössere Rolle: Laut einer Umfrage der Associação Brasileira das Entidades dos Mercados Financeiro e de Capitais (Anbima) glaubt ein Fünftel der Teilnehmer an digitalen Wetten in Brasilien tatsächlich, dass sie «investieren» – und nicht hochriskant «spielen».
Die «bets» sind eine perfekte Maschine für die Geldwäsche
Abgeordnete, Senatoren, Gouverneure und hohe Richter werden ausserdem von «Bets»-Betreibern und Eigentümern mit luxuriösen Einladungen und möglicherweise illegalen Beteiligungen umworben.
Gerade erst wurde der Musiker Gusttavo Lima, einer der führenden Pop-Stars Brasiliens, kurzzeitig festgenommen: unter anderem wegen des Verdachts der Geldwäsche und der Beteiligung an einem Glücksspielunternehmen, das umgerechnet 500 Millionen Dollar umgesetzt haben soll. Beim Flug mit seiner Gulfstream zur Geburtstagsfeier auf einer Jacht vor Mykonos waren ein Bundesrichter und ein Gouverneur dabei – neben einem Glücksspiel-Unternehmerehepaar, das die Mitfluggelegenheit genutzt haben soll, um sich vor der drohenden Festnahme ins Ausland abzusetzen.
Da die meisten Anbieter ihren Sitz im Ausland haben, unterliegen sie nicht den brasilianischen Transparenzvorschriften. Ihre Kontrolle ist schwierig. Das macht den Sektor für das organisierte Verbrechen attraktiv. Die «bets» sind damit eine perfekte Maschine für die Geldwäsche.
Das gilt auch für legale Anbieter in Brasilien, die ihre Gewinne versteuern. Sie eignen sich ebenfalls zum Waschen illegaler Einnahmen, etwa aus dem Drogenhandel. Die Kontrolle ist aufwendig. Einmal versteuert, sind die Gewinne legal.
Angesichts des enormen Schadens will die Regierung nun gegensteuern und illegale Wettbüros verbieten und schliessen. Ab Januar sollen Lizenzen für Anbieter vergeben werden. Bis vor kurzem brüstete sich die Lobby im Kongress, aber auch die Regierung noch mit den Steuermehreinnahmen, die sie durch das digitale Wetten erzielten. Nun sind sie angesichts des öffentlichen Drucks verstummt. Vor allem die Regierung versucht sich nun in Schadensbegrenzung.
Doch die Branche lässt sich nicht beirren: Nach einer Prognose des Branchendienstleisters Regulus Partners werden die Umsätze der digitalen Wettindustrie in Brasilien bis 2030 jährlich um 18 Prozent wachsen. Für die legalen Lizenzen ab Januar haben sich 98 Unternehmen beworben. Sie betreiben 200 Wettplattformen. Das Phänomen der «bets» wird Brasilien also noch länger beschäftigen.