So hat man dieses Werk noch nie gehört: Christof Loy verpasst der unvollendeten letzten Oper Puccinis einen neuen Schluss. Die Musik dazu stammt aus «Manon Lescaut». Doch bei dem gewagten Experiment in Basel knirscht es erheblich.
Aber meine Liebe, sie stirbt nicht: «Ma l’amor mio – non muor», singt Miren Urbieta-Vega im leeren, weissen Raum, ehe der Dirigent José Miguel Pérez-Sierra den Klang des Sinfonieorchesters Basel noch zweimal an- und wieder abschwellen lässt. Dann stirbt diese Frau, die eigentlich die Prinzessin Turandot ist; hier aber singt sie die letzte Arie der Manon Lescaut, umgeben von der lebensfeindlichen amerikanischen Wüste. Das ist nicht nur geografisch eine andere Welt als das finstere Märchen-China der «Turandot», sondern auch musikalisch und inhaltlich. Aber der Regisseur Christof Loy denkt Puccinis letzte, unvollendet gebliebene Oper am Theater Basel vom Ende her.
Und so setzt er an die Stelle der üblicherweise gespielten Vervollständigung von Franco Alfano, der anhand von Puccinis Skizzen ein grosses Liebesduett zwischen Turandot und Calaf komponierte und das Fragment bombastisch schliessen liess, den vierten Akt aus dessen früher Oper «Manon Lescaut». Obwohl dieses gewagte Konzept an etlichen Stellen knirscht, entfaltet der mit Ovationen gefeierte Abend eine hohe Intensität. Auch deshalb, weil Loys Laborversuch über die Liebe durch das Orchester und durch die ungemein präsenten Sänger mit starken Emotionen aufgeladen wird.
Loy gibt dem Werk zudem einen intimen Rahmen: Er stellt dem spektakulären Beginn der «Turandot» mit den wuchtigen, bitonalen Akkordschlägen und dem hämmernden Xylofon einen stummen Prolog voran. Dazu erklingt Puccinis 1890 komponierter Quartettsatz «Crisantemi», hier mit Streichorchester, in dem bereits die musikalischen Motive des «Manon Lescaut»-Schlusses vorweggenommen werden. Turandot sitzt dabei als Kind an einem Tisch im elterlichen Salon, der mit chinesischen Seidentapeten ausgekleidet ist (Bühne und Kostüme: Herbert Murauer); dort erfährt sie von der traumatischen Vorgeschichte, nämlich der Schändung ihrer Ahnin durch einen Mann, die alles Folgende motiviert.
Irritierende Details
Als die eigentliche Opernmusik einsetzt, ist Turandot erwachsen geworden. Miren Urbieta-Vega schaut sich das Spiel zunächst an, ehe sie Teil davon wird und nun aus Rache für ihre Ahnin alle Freier töten lässt, die die von ihr gestellten drei Rätsel nicht lösen können. Das Konzept wirkt zunächst stimmig. Aber beim Praxistest am Premierenabend zeigen sich auch seine Grenzen.
Dass Christof Loy etwa im ersten Akt, wohl um den Fokus auf die handelnden Figuren zu schärfen, den Opernchor unsichtbar auf den Zuschauerrängen platziert, sorgt für akustische Probleme. Zum einen mischt sich der Klang schlecht, zum anderen entstehen rhythmische Verschiebungen. Das ist besonders bedauerlich, weil der Dirigent José Miguel Pérez-Sierra die gesamte Bandbreite von Puccinis Musik auffächert – vom wunderbar schwebenden, luftigen Streicherklang zu Beginn bis zum wuchtigen, gut ausbalancierten Orchestertutti bei den vielen Massenszenen – die aber in Basel zunächst keine sein dürfen. Wie präzise und homogen der Chor (Einstudierung: Michael Clark) singen kann, merkt man erst bei der grossen Rätsel-Szene im zweiten Akt, wenn er sich erstmals auf der Bühne präsentiert.
Auch andere szenische Details irritieren. Etwa wenn Calaf die Schönheit Turandots besingt, die Prinzessin aber gar nicht sieht. Oder wenn sein Vater Timur (mit kräftigem Bassbariton: Sam Carl) in einem weissen Kasten über dem Salon mit der Sklavin Liù unentwegt pantomimisch leiden muss. Die Ausgrenzung, mit der sich die beiden in Turandots Welt konfrontiert sehen, kann man sicher weniger plakativ darstellen.
Vor allem aber wirkt der letzte Akt eben doch angeklebt. Er bleibt zwangsläufig ohne jede Verbindung zur «Turandot»-Musik – die Alfano-Fassung hat dagegen viele motivische Bezüge und endet mit dem bekannten «Nessun dorma»-Thema. Auch das aus der «Manon» entliehene Liebespaar hat eine andere Vorgeschichte: Die plötzliche Nähe von Calaf / Des Grieux zu Turandot/Manon erschliesst sich nicht. Dabei war die angeblich fehlende Glaubwürdigkeit der Alfano-Fassung, bei der aus der grausamen Prinzessin recht unvermittelt eine leidenschaftlich Liebende wird, gerade der Anstoss für Loy, eine eigene Version mit zusätzlicher Musik Puccinis zu entwickeln.
Plädoyer für Versöhnung
Immerhin führt der Regisseur die Protagonisten am Ende zusammen und bezieht dabei auch die wichtige Dritte im Bunde ein: die Sklavin Liù, die ihr Leben und ihre Liebe zu Calaf opfert, um ihn vor der Rache der Turandot zu schützen. Nach ihrem Suizid liegt Liù im angefügten «Manon»-Akt in Calafs Armen. Und auch Turandot legt sich im Sterben zu ihr – ein utopisches Sinnbild der Versöhnung, um die es Loy in seiner Lesart zentral geht.
Mané Galoyan schenkt der Liù Wärme, Intensität und ein wunderbares Legato. Mit Miren Urbieta-Vega ist auch die Partie der Turandot lyrisch besetzt, obwohl sie für einen hochdramatischen Sopran angelegt ist. Doch die spanische Sopranistin besitzt genügend Tiefe und Volumen, um auch die angsteinflössenden Seiten dieser rachsüchtigen Frau zu zeigen. Vor allem aber kann sie sängerisch und darstellerisch vermitteln, wie bei dieser kühlen Herrscherin allmählich das emotionale Korsett aufbricht.
Schliesslich singt ihr Rodrigo Porras Garulo seine berühmte Arie «Nessun dorma» als Calaf direkt ins Gesicht. Und sein Tenorschmelz lässt die Eisige für einen Moment tatsächlich weich werden, bevor sie aus Angst vor den eigenen Gefühlen das Weite sucht. Porras Garulo muss auch bei den exponierten Passagen nicht forcieren und kann sich dabei auf die einfühlsame Sängerbegleitung durch das Sinfonieorchester Basel und Pérez-Sierra stützen.
Am Ende lassen sich alle von Liùs Liebestod berühren. Sogar die drei sinistren Minister Ping, Pang und Pong (David Oller, Ronan Caillet und Lucas van Lierop), die als perfekt aufeinander abgestimmtes Trio im Sinne der Commedia-dell’Arte-Vorlage von Carlo Gozzi zunächst Witz und Leichtigkeit ins Geschehen bringen, später aber zu einer brutalen Foltertruppe mutieren. Im letzten Akt zeigen jedoch auch sie Mitgefühl: Einer nach dem anderen breitet traurig sein Jackett über die Tote. Mit Rache und Gewalt, so lehrt Christof Loy in dieser «Turandot», kommt man nie zum Ziel.