Sonntag, September 29

Wenn die künstliche Intelligenz Routinearbeiten übernimmt, bleiben für die Menschen die anspruchsvollen Aufgaben. Forscher haben Zweifel, dass dieser «High-Flying-Modus» ohne Pause durchzuhalten ist.

Besprechungen, die sich ständig wiederholen. Sitzungsmarathons, an denen man dabei sein muss, ohne selbst dazu beizutragen. Checklisten abarbeiten, an deren Sinn man zweifelt. Und Umfragen ausfüllen, die nie jemand lesen wird: Solche Tätigkeiten lassen bei der Arbeit schnell ein Gefühl von Sinnlosigkeit, Ohnmacht und Langeweile aufkommen.

Man ist zwar noch physisch anwesend, doch die Motivation sackt ab. Das ist weder gut für die Mitarbeitenden noch für das Unternehmen.

Viele fühlen sich desillusioniert

Die meisten Menschen kennen solche Erfahrungen – auch wenn sie nicht ihrem Grundgefühl entsprechen. 77 Prozent der Beschäftigten geben im Schweizer HR-Barometer (einem Kooperationsprojekt der Universität Luzern, der ETH Zürich und der Universität Zürich) an, dass sie sich nie, fast nie oder nur selten bei der Arbeit langweilen. 18 Prozent fühlen sich manchmal gelangweilt. Das sieht nach einem positiven Resultat aus.

Bedenklich ist aber, dass sich rund die Hälfte der Beschäftigten (51 Prozent) zumindest teilweise von ihrer Arbeit entfremdet fühlt. Sie empfinden die Arbeit als Bürde, sind desillusioniert und distanzieren sich von ihrer Tätigkeit und ihrem Arbeitsumfeld.

Positiv wiederum geben fast drei Viertel (71 Prozent) der Befragten an, voll und ganz oder eher in ihrer Arbeit aufzugehen. Sie haben das Gefühl, energiegeladen und vital bei der Arbeit zu sein. Fachleute bezeichnen diesen Zustand als «Thriving» («Gedeihen, Aufblühen»).

Wie passen die Aussagen zusammen?

Man sollte das Thriving und die Langeweile nicht als Gegenpole betrachten, sagt Anja Feierabend, Dozentin an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Beide Wahrnehmungen würden nebeneinander existieren.

Die meisten Arbeitnehmer erleben Phasen mit hoher Motivation, sie blühen bei interessanten Projekten auf. Dann wieder gibt es Phasen, in denen Routine und Langeweile vorherrschen.

Letztere wird es allerdings mittelfristig weniger geben, denn diesen Teil übernimmt die künstliche Intelligenz. Darin ist sie gut, schnell und zuverlässig. Für den Menschen bleibt damit mehr Zeit für Kreativität und Tätigkeiten, die menschliche Anteilnahme verlangen.

«Manchmal brauchen wir die Langeweile»

Übersehen wird im Jubel darüber aber, dass es für viele Menschen gut ist, beides zu erleben. «Manchmal brauchen wir die Langeweile», meint die Studienleiterin Anja Feierabend. Wenn neue Technologien die Routine übernehmen, bleiben den Menschen die anspruchsvollen High-Level-Aufgaben. «Wir können das, aber nur für kurze Phasen. Danach braucht es wieder Erholung. Andernfalls kann es schnell passieren, dass wir und unser Gehirn mit der Arbeitslast nicht mehr fertig werden.»

Dabei ortet die Wissenschafterin eine deutliche Veränderung über die Zeit. Der Stresslevel bei der Arbeit sei höher geworden, die Geschwindigkeit in der Arbeitswelt habe zugenommen. Zusammen mit den vielfältigen Unsicherheiten in der Arbeitswelt, aber auch anderen Lebensbereichen führe das vermehrt zu psychischen Belastungen.

Gleichzeitig ist das Bewusstsein dafür gestiegen, wie wichtig es ist, eine Balance zwischen der Arbeit und dem Privatleben zu finden. Was zuweilen naserümpfend als Dolce-Vita-Lifestyle diskreditiert wird, spiegelt sich in feinen Veränderungen in den Wertvorstellungen der Menschen.

So hat die Freizeitorientierung in der Schweiz in den vergangenen zehn Jahren laut dem HR-Barometer tatsächlich zugenommen. Die Erwerbstätigkeit und die Familie nehmen in ihrer Bedeutung für die Menschen zwar immer noch die beiden Toppositionen ein. Dabei hat allerdings der Stellenwert der Arbeit leicht abgenommen, während derjenige der Freizeit leicht zugenommen hat. «Viele Menschen fokussieren sich nicht mehr ausschliesslich auf die Arbeit, sondern nehmen sich bewusst Zeit für Familie und Freizeit», stellt Feierabend fest.

Davon, eine vergnügungssüchtige Spassgesellschaft zu sein, ist die Schweiz dennoch weit entfernt. Generell hat die Arbeit für die meisten Arbeitnehmer eine hohe Wichtigkeit; für die Älteren sogar noch mehr als für die Jüngeren.

Mögliche Gründe dafür sind, dass ältere Menschen bereits länger ihre Karriere verfolgen und die Arbeit über die Jahre zu einem wichtigen Teil ihrer Identität geworden ist. Sie haben den Beruf gefunden, der zu ihnen passt, während Jüngere eher noch auf der Suche sind. Gleichzeitig ist die intensive Familienphase mit kleinen Kindern irgendwann abgeschlossen, die Kinder ziehen aus, und man kann sich wieder stärker auf die Arbeit konzentrieren.

Das Barometer zeige, dass viele Ältere sehr interessiert an der Arbeit seien, meint Feierabend. Diese Erkenntnis ist durchaus von politischer Bedeutung. Wenn man mit 65 Jahren aufhören muss zu arbeiten, ergibt sich daraus ein grosses brachliegendes Potenzial von Menschen, die der Arbeit eigentlich einen hohen Stellenwert zumessen und im Erwerbsprozess integriert bleiben könnten.

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