Der Slowene ist der schnellste Velofahrer der Geschichte. Er komplettiert das erste Giro-Tour-Double seit 1998 und erinnert zunehmend an andere Sportlegenden. Zweifel sind unvermeidbar.
Nach dem Giro d’Italia auch die Tour de France zu gewinnen, ist bereits eindrücklich genug. Aber es kommt noch etwas Verblüffendes hinzu: Tadej Pogacar hatte noch nicht einmal ein perfekt harmonisierendes Team hinter sich. Weder auf noch neben der Strasse liefen die Dinge in seiner Mannschaft UAE wie geplant.
Am Col du Galibier sollte der junge Helfer Juan Ayuso Tempoarbeit übernehmen, aber der Spanier befand sich zu weit hinten in der Gruppe, und sein Teamkollege Joao Almeida verwarf genervt die Arme. Das war nur vermeintlich eine Lappalie. Tage später, nachdem Ayuso das Rennen wegen Covid verlassen hatte, sagte UAE-Chef Mauro Gianetti der Website «Tuttobiciweb», was am Galibier passiert sei, hinterlasse nachhaltige Spuren. Der Vorfall könne Ayusos Karriere auf Jahre hinaus beeinträchtigen. Mit Sicherheit werde er die Vuelta nicht bestreiten.
Dass die Atmosphäre bei UAE vergiftet ist, belegen auch die Äusserungen eines mutmasslichen Insiders mit dem Pseudonym «Mou», der in den sozialen Medien seit Tagen Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er veröffentlichte angebliche Trainingsdaten Pogacars, was annehmen liess, dass er zumindest zeitweise dem inneren Kreis des Teams angehörte. «Mou» unterstellt dem ehemaligen Trainer des Velostars, Iñigo San Millán, ebenso Inkompetenz wie dem Manager Joxean Fernandez Matxin. Manches stimme, das Meiste sei falsch, sagte Pogacar an einer Pressekonferenz.
Die Absicht des Informanten bleibt offen: Er könnte von Rachegelüsten getrieben sein, denkbar ist aber auch, dass er auf etwas ungelenke Art versucht, Pogacars phänomenalen Leistungssprung plausibler erscheinen zu lassen. Den neuen Trainer des 25-Jährigen, Javier Sola, glorifiziert der mysteriöse «Mou» geradezu.
Auch der hart kritisierte Ex-Coach San Millán steht weiterhin bei UAE unter Vertrag, wenngleich er sich häufig in den USA aufhält. Es scheint möglich, dass sich Pogacar auf ihn bezog, als er vor dem Rennen «eine gewisse Enttäuschung und negative Energie» in der Vorsaison beklagte: «Ich sah, wer da war, um mir zu helfen, und wer es nicht war.»
Fest steht: Beeinträchtigen Nebenschauplätze die Konzentration, wächst die Gefahr haarsträubender Fehler. Im Aufstieg nach Le Lioran versäumten es die Betreuer von UAE, Pogacar ausreichend zu verpflegen. Der Slowene musste an einem neutralen Begleitfahrzeug um ein Gel bitten und wurde vom Rivalen Jonas Vingegaard eingeholt. Im Endspurt blieb Pogacar entkräftet in einem untypisch kleinen Gang und verlor.
Ein derartiges Malheur hat anderen Fahrern in der Vergangenheit den Sieg gekostet. Man denke an Jan Ullrichs Hungerast, als er 1998 einbrach und Marco Pantani ziehen lassen musste, aber auch an das Energiedefizit von Pogacar selbst 2022 am Col du Granon.
Es geht auch anders. Auf ihrem jeweiligen Zenit bewiesen die Mannschaften Sky und Jumbo-Visma zuletzt, dass selbst im chaotischen Radsport mit akribischer Planung vermeidbare Missgeschicke weitgehend ausgeschlossen werden können. Von einem derartigen Perfektionismus war UAE auch 2024 weit entfernt.
In den Bergen so erfolgreich wie zuletzt Gino Bartali
Ausfallende Helfer, unkonzentrierte Betreuer, umherschwirrende Gerüchte: an Pogacar, der im Mai bereits den Giro d’Italia gewonnen hatte, prallte alles ab. Auch im abschliessenden Zeitfahren am Sonntag von Monaco nach Nizza war er eine Klasse für sich, sicherte sich den sechsten Tageserfolg im laufenden Rennen und den dritten Gesamtsieg nach 2020 und 2021.
Dank seinem Giro-Tour-Double zieht Pogacar mit einigen der grössten Legenden des Radsports gleich. Fausto Coppi gelang das Kunststück 1949 und 1952. Es folgten Jacques Anquetil (1964), Eddy Merckx (1970/1972/1974), Bernard Hinault (1982 und 1985), Stephen Roche (1987), Miguel Indurain (1992 und 1993), Marco Pantani (1998) – und dann trotz etlicher Versuche 26 Jahre lang niemand mehr. Pogacar hat den Bann gebrochen.
Aber selbst diese Statistik erfasst nur zum Teil, was der Slowene an der Frankreichrundfahrt vollbrachte. Er gewann fünf Bergetappen, und wer wissen möchte, wann jemand das weltgrösste Radrennen derart dominierte, muss noch weiter zurückgehen: Zuletzt triumphierte Gino Bartali 1948 fünfmal im selben Jahr im Gebirge.
Damit nicht genug. An den grossen Anstiegen, welche die Tour de France in diesem Jahr befuhr, hiessen die Rekordhalter bisher Pantani, Indurain oder Tony Rominger. Pogacar verschob ihre Marken nicht etwa um einige Sekunden, er pulverisierte sie. Im entscheidenden Abschnitt des Galibier verbesserte der Slowene die Bestzeit um 1:33 Minuten, im Aufstieg nach Pla d’Adet um 1:45 Minuten, hinauf zum Plateau de Beille um 3:44 Minuten, auf dem Weg zum Wintersportort Isola 2000 trotz einer etwas längeren Strecke um 3:36 Minuten und am Col de la Couillole um 2:35 Minuten.
Während all dieser geschichtsträchtigen Auftritte wirkte Pogacar von aussen betrachtet locker, souverän, sogar zu Scherzen bereit. Andere Tour-Favoriten mögen unter dem Druck leiden und jede Ablenkung vermeiden. Der Slowene nimmt sich einen Bidon, wenn er seine Partnerin Urska Zigart am Strassenrand sieht, um sie vom Velo aus nass zu spritzen, als sei er ein Schulbub auf Klassenfahrt.
him 💛 #TDF2024 pic.twitter.com/YUFl0hczDA
— Lukáš Ronald Lukács (@lucasaganronald) July 17, 2024
Passende Vergleiche lassen sich am ehesten in anderen Sportarten finden. Seine Chuzpe, Weltklasseleistungen mit Albernheiten zu kombinieren, erinnert an den Sprinter Usain Bolt, den Doppel-Olympiasieger von 2008, 2012 und 2016. Und die Entschlossenheit, Grenzen zu verschieben, an den Golfer Tiger Woods, der 2001 alle vier Major-Titel hielt.
Lance Armstrong rät zu mehr Zurückhaltung
Die Saison könnte noch grösser werden. Als nächstes bestreitet Pogacar das olympische Strassenrennen. Mindestens so gut liegt ihm der WM-Kurs in Zürich. Dass er dazwischen an der Spanienrundfahrt antritt, schliesst er selbst aus – allerdings nur «zu 99 Prozent». Alle drei Grand Tours im selben Jahr zu gewinnen, gelang noch niemandem. Es wäre ein Alleinstellungsmerkmal wie der «Golden Slam» der Tennisspielerin Steffi Graf 1988.
Begleitet werden historische Leistungen von Verdächtigungen, das ist gerade im Radsport unvermeidbar. Der ehemalige Trainer Antoine Vayer unterstellt Pogacar explizit, dass er dope, er sagt der «NZZ am Sonntag»: «Je grösser der Betrug, desto grösser die Lügen.»
In diesem Zusammenhang ist interessant, was der grösste Betrüger und Lügner der Szene, Lance Armstrong, zum Thema zu sagen hat. Der Amerikaner hält die Art und Weise, wie Pogacar die Konkurrenz auf dem Weg nach Isola 2000 demütigte, für einen schweren Fehler. «Gib ihnen keinen Grund, dich zu hassen», empfiehlt er dem Slowenen in seinem Podcast «The Move». «Gib ihnen keinen Grund, dich zu hinterfragen.»
Pogacar erweckt bisher nicht den Eindruck, als beschäftigten ihn derartige Überlegungen. Auch wenn er schneller Velo fährt als alle anderen vor ihm.