Eine Netflix-Serie beschert Lungern einen unerwarteten Tourismusboom. Nachdem Gäste aus Asien blonde Kinder belästigt haben und in Gärten eingedrungen sind, reagiert die Gemeinde.
Plakativer als die Gemeinde Lungern kann man das Problem Overtourism nicht auf den Punkt bringen. Sie hat ein Stoppschild geschaffen, das das Betreten von Grundstücken, unerwünschtes Fotografieren und das Starten von Drohnen verhindern soll. Die von solchen Auswüchsen betroffenen Einwohner können die Schilder seit einigen Tagen auf der Gemeindekanzlei abholen.
Die Adressaten dieser Botschaft muss man in dem Dorf mit seinen heimeligen Holzhäusern nicht lange suchen. Mehrere Autos mit AI-Kennzeichen manövrieren an diesem Sommermorgen im Zentrum. Es ist ein Krampf, denn die Parkplätze sind eng. «AI steht inzwischen in Lungern für Gefahr», kommentiert die Betreiberin des Kiosks nebenan, die dem Geschehen kopfschüttelnd zuschaut.
Verstörende Zwischenfälle
Das seien Mietwagen, klärt sie den Journalisten auf. Deren ausländische Fahrer behinderten mit ihrer langsamen und unsicheren Fahrweise die Einheimischen und sorgten für brenzlige Situationen. «Die halten sich sowieso nicht an die Fahrverbote», fügt sie hinzu. Aus den Fahrzeugen steigen tatsächlich asiatische Touristen aus. Unter ihnen sind auffallend viele junge Paare. Sie haben nur ein Ziel: so schnell wie möglich hinunter zum Lungernsee.
Dieses Schauspiel, so die Kioskbetreiberin, wiederhole sich seit drei Jahren praktisch in einer Endlosschleife. Am Anfang seien vor allem Reisebusse gekommen. Jetzt seien es überwiegend Individualreisende, die ausser mit dem Auto auch mit der Bahn anreisten. Die Frau ist erleichtert, dass die Gemeinde nun mit den Stoppschildern auf die Flut reagiert hat. «Die Auswüchse haben mittlerweile ein solches Ausmass angenommen, dass dem ein Riegel geschoben werden muss.»
Blonde Kinder werden gestreichelt
Eines der Schilder, die inzwischen durch die Medien gegangen sind, prangt an der Badeanstalt Lungern. Aufgehängt hat es der Geschäftsführer Beat Gallmann. Er ist sich bewusst, dass die Tafel rechtlich nicht bindend ist, sah sich aber zum Handeln veranlasst. Denn die Badi ist einer der Hotspots, wo Touristen unbedingt ein Selfie machen wollen. Von dort aus bietet sich ein herrlicher Blick auf den still daliegenden See und die Bergwelt.
Gallmann gibt sich zurückhaltend und will nicht in den Chor derer einstimmen, die alle Touristen verfluchen. «Die meisten verhalten sich anständig», sagt er. Aber es gebe immer wieder Besucher, die sich nicht an elementare Anstandsregeln hielten. So würden manche Besucher Kinder durch den Zaun fotografieren.
Ausserdem kommen die Störungen aus der Luft, seien doch Drohnen zu einer wahren Plage geworden. Die Touristen starteten die Geräte bei der erhöht über dem Dorf gelegenen Kirche. «Mit ihren surrenden Geräten fliegen sie dann über die Badi und andere Grundstücke rund um den See und stören unsere Ruhe», sagt Gallmann. «Das ist ein Eingriff in die Privatsphäre, den wir unbedingt unterbinden müssen.»
Es waren Hilferufe wie dieser, die die Einwohnergemeinde zu der Stoppschilder-Aktion veranlasst haben. Die Aufregung darüber findet die Gemeindepräsidentin Bernadette Kaufmann-Durrer etwas übertrieben. «Ich verstehe nicht, warum ausgerechnet Lungern jetzt so im Fokus der Medien steht», sagt sie. Bisher hätten nur sechs Einwohner von Lungern eine solche Tafel auf der Gemeindekanzlei abgeholt. Von einem Massenphänomen könne also keine Rede sein.
Gemeindepräsidentin Bernadette Kaufmann-Durrer will dafür sorgen, dass die Touristen die Privatsphäre der Dorfbewohner respektieren.
Anfang Mai wurde in Lungern der Tourismusverein aufgelöst, und die Einwohnergemeinde hat die Aufgabe übernommen, Lungern Tourismus neu zu organisieren. Daher ist es laut Kaufmann-Durrer nun Aufgabe der Gemeinde, sich auch um die negativen Seiten, die durch die zunehmende Anzahl Touristen entstehen, zu kümmern. Aufgrund von Warnsignalen aus der Bevölkerung habe man jetzt schnell handeln müssen.
«Wenn asiatische Touristen auf dem Pausenplatz Kinder berühren, durch Fenster von Privathäusern filmen und durch private Gärten wandern, müssen wir einschreiten», sagt die Gemeindepräsidentin. Sie verstehe, wenn Eltern und Lehrer sich Sorgen machten und Privatpersonen dadurch gestört würden.
Dabei handelt es sich um Einzelfälle, die für grosses Aufsehen sorgen und die Bevölkerung verstören. Asiatische Touristen sind laut Experten in der Regel höflich und zurückhaltend. Bei älteren, weniger gebildeten und weniger weit gereisten Menschen kann es vorkommen, dass sie sich seltsam, unpassend oder sogar ausfallend verhalten. So haben einige eine Faszination für westeuropäische Kinder, insbesondere für solche mit grossen Augen und blonden Haaren.
Das Problem in Lungern ist also nicht die Masse der Touristen, sondern deren ungebührliches Verhalten. «Wenn man sich in einem anderen Kulturkreis bewegt, dann wird auch erwartet, dass man sich anpasst», sagt Kaufmann-Durrer.
Doch warum ist ausgerechnet das beschauliche Dorf mit seinen rund 2100 Einwohnern zu einem touristischen Hotspot mit diesen unerwünschten Nebenwirkungen geworden? Die Lungerer hatten das Pech, dass «ihr» See und die traumhafte Umgebung 2019 den Machern des südkoreanischen TV-Dramas «Crash Landing on You» (sinngemäss «Bruchlandung auf dir») ausserordentlich gut gefielen. Die Drehorte im Berner Oberland und im Kanton Obwalden wurden zu regelrechten Pilgerstätten für die Fans der 16-teiligen Liebeskomödie.
Happy End lockt Touristen an
In Lungern führten sie zu einer touristischen Bruchlandung. Im Weiler Bürglen direkt über dem smaragdgrünen See macht der Hauptdarsteller Hyun Bin, der in Südkorea so bekannt ist wie George Clooney bei uns, einen Heiratsantrag. Der Ort ist leicht zu finden. Es ist das Haus, vor dem sich heute vor allem koreanische Liebespaare in Hochzeitskleidern fotografieren lassen. Da die Liebesgeschichte zwischen einem nordkoreanischen Offizier und einer südkoreanischen Geschäftsfrau in viele Sprachen übersetzt wurde, reisst der Strom der Touristen nicht ab und wird immer multinationaler.
«Wir haben bewusst nie Werbung für Lungern in Zusammenhang mit dieser Serie gemacht», sagt Kaufmann, die 2019 eher zufällig von den Filmaufnahmen erfahren hatte. Im Berner Oberland, das durch den Brünigpass von Lungern getrennt ist, ging man offensiver mit der neuen Berühmtheit um. Mit Folgen, die inzwischen in der ganzen Schweiz bekannt sind. Für ein Selfie auf der Schiffsanlegestelle in Iseltwald, die in «Crash Landing on You» ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, müssen Besucher inzwischen fünf Franken bezahlen.
Ähnliche Pläne wie in Iseltwald hat man in der Gemeinde Lungern nicht. Hier sind bis jetzt alle einschlägigen Selfie-Punkte frei zugänglich. Die Gemeinde erarbeitet nun in Zusammenarbeit mit verschiedenen Fachgremien und Schweiz Tourismus eine Strategie, wie der Fremdenverkehr für Lungern erträglich organisiert werden kann. «Die Schilder sind nur ein erster Schritt, um etwas Ruhe in die Problematik zu bringen», sagt Kaufmann. «Offensichtlich haben die wenigen Tafeln an einschlägigen Orten bereits markant zu einer Verbesserung der Situation geführt.»
Die Gemeinde kann aber nicht einfach Fahrverbote verhängen, wie es einige Anwohner gerne hätten. Oft handelt es sich um Privatstrassen, weshalb Absprachen mit den Anliegern nötig sind. An der Hinterseestrasse habe ein Fahrverbot für grosse Entlastung gesorgt.
In der Badi von Lungern wurden Kinder fotografiert. Mit Hinweisschildern will man dies nun verhindern.
Doch diese Verbotsschilder haben nur eine begrenzte Wirkung und halten manche Mietwagenfahrer nicht davon ab, die enge Strasse dennoch zu befahren. Bernadette Kaufmann-Durrer kennt das Problem aus eigener Erfahrung. Sie hat sich auch schon hinter das Steuer von völlig überforderten Autofahrern mit AI-Kennzeichen gesetzt, deren Fahrer sich weder vorwärts noch rückwärts trauten.
Nicht alles ist schlecht. Ein Problem, das praktisch alle vom Massentourismus geplagten Orte haben, hat Lungern in den Griff bekommen: die nervigen Rollkoffer. Das zeigt ein Augenschein auf dem Bahnhof. Gleich am Ausgang weist ein Schild die Ankommenden darauf hin, dass sie ihren Rollkoffer für fünf Franken im nahe gelegenen Hotel Emma’s deponieren können. Die meisten nehmen dieses Angebot gerne an, denn der Weg hinunter zum See ist steil und lang. Mit dieser Massnahme zeigt Lungern, dass Tourismuslenkung zumindest im Kleinen funktionieren kann.
Das «Emma’s» und der Volg sind aber fast die einzigen Betriebe, die bis jetzt von dem Tourismusboom profitieren. Die letzten drei Jahre haben nicht gereicht, um dem Dorf insgesamt zu einem Aufschwung zu verhelfen. Lungern, seit 2012 durch einen Tunnel vom Durchgangsverkehr befreit, wirkt verschlafen. Die letzte Bäckerei, in der gelegentlich Touristen eine Kleinigkeit einkaufen, schliesst Ende September. Der bisherige Besitzer hat keinen Nachfolger gefunden.
Das einst stolze Hotel Löwen an der Brünigstrasse ist seit 2020 geschlossen und macht einen verwahrlosten Eindruck. Nachdem die Pläne eines indischen Besitzers, im grossen Stil Gruppentouristen zu beherbergen, gescheitert sind, ruhen die Hoffnungen nun auf einem neuen Investor. Für Touristen auf den Spuren von «Crash Landing on You» dürfte die Wiedereröffnung zu spät kommen. Bis dahin wird sich der Hype um die TV-Serie gelegt haben.
Bernadette Kaufmann-Durrer ist optimistisch, dass Lungern die Probleme mit den Selfie-Touristen in den Griff bekommen wird. Vor einigen Jahrzehnten sei Lungern schon ein beliebter Ferienort gewesen. «Damals gab es Familien, die im Sommer im Keller wohnten, um ihre Wohnung an Touristen zu vermieten», sagt sie. Eine Art frühes Airbnb, das aus Existenzgründen so praktiziert wurde.
Schweiz Tourismus soll helfen
Die gegenwärtige Aufregung bringt den Gemeinderat auch deshalb nicht aus der Ruhe, weil er vor einigen Jahren eine viel grössere Tourismuskrise erfolgreich gemeistert hat. 2013 legte das Bundesamt für Verkehr alle Bahnen des Skigebiets Lungern-Schönbüel wegen Sicherheitsmängeln still. Dies, nachdem ein Mast wegen zu viel Schnee umgeknickt war.
Das Ende des kleinen Skigebiets bescherte der kleinen Gemeinde finanzielle Verpflichtungen in Millionenhöhe. Dank dem grosszügigen Engagement eines Obwaldner Unternehmers wurde die Turrenbahn neu gebaut, und auf dem Turren entstand ein sehr schönes Gästehaus mit einem Restaurant in wunderbarer Berglandschaft und einmaliger Aussicht. «Früher als andere ehemalige Skigebiete haben wir so den Einstieg in den sanften Tourismus geschafft», sagt Kaufmann. Der Betrieb ist auch im Winter geöffnet und bietet die Möglichkeit für sanften Wintertourismus.
Die Gemeindepräsidentin hofft, dass Lungern einen kreativen Weg findet, den sogenannten Overtourism für die Bevölkerung und die Besucher von Lungern erträglich zu gestalten. Man müsse einvernehmliche Lösungen suchen, betont sie. Weltweit stünden kleine und grosse Orte plötzlich vor ähnlichen Problemen und müssten handeln. «In Skandinavien sind wir Mitteleuropäer die Massentouristen, hier sind es vor allem Asiaten und Menschen aus dem arabischen Raum», sagt sie.
Inzwischen hat Kaufmann-Durrer Kontakt aufgenommen mit Martin Nydegger, dem Direktor von Schweiz Tourismus. Nydegger hat zugesagt, den Hotspot Lungern in den nächsten Tagen zu besuchen. Er will sich mit den Tourismusverantwortlichen aus der Region treffen. Die Gemeindepräsidentin ist dankbar, von der Marketingorganisation unterstützt zu werden. «Gemeinsam wollen wir die Touristenströme so lenken, dass es für das beschauliche Dorf Lungern verkraftbar ist und die Bevölkerung in ihrer Privatsphäre nicht gestört wird», sagt sie.