Gesperrte Strassen, keine Kunden: Viele Gewerbetreibende im Seefeld leiden unter dem Grossanlass. Andere packen jetzt so richtig an.
Die Dufourstrasse im Seefeld ist bis Sonntag nur für Materialwagen und Betreuer befahrbar. Caspar Ruetz und seine Frau Doris (rechtes Bild) lassen sich von den Einschränkungen der Rad-WM nicht beirren.
Montagmorgen im Seefeld in Zürich, eine neue Woche beginnt. Die Trams fahren wie gewohnt, vom Bellevue zum Bahnhof Tiefenbrunnen, und auf dem Stadelhoferplatz spielen sich die üblichen Szenen ab: aussteigen, einsteigen, weiterfahren bis zur nächsten Station, wo einen der graue Alltag nach einem sonnigen Wochenende wieder verschluckt. Passanten ziehen wortlos ihrer Arbeit entgegen. Alles wie immer.
Auch an der Station Feldeggstrasse: Fussgänger, Trams, Autofahrer teilen sich den Asphalt. Alles wie immer, so scheint es zumindest, auch hier.
Doch der Eindruck täuscht. Es sind Velo-WM, das edle Quartier mit den vielen Boutiquen, Strassencafés und Restaurants ist von dem Grossanlass besonders betroffen. Die Bellerivestrasse wird zur Rennstrecke, und für das Viertel am rechten Seeufer besonders einschneidend: Die Dufourstrasse ist für den Individualverkehr ebenfalls komplett gesperrt. Neun Tage lang. Der Tross der Profis und Jungprofis braucht schliesslich Platz.
Am Montagmorgen parkieren hier Mannschaftswagen, Servicewagen, Fahrzeuge des internationalen Radverbandes UCI. Auf den Trottoirs oder mitten auf der Strasse pedalen Athleten an Ort und Stelle vor sich hin. Ein Pole, ein Österreicher zum Beispiel, ein junger Mann aus Taiwan. Sie wärmen sich auf fürs Einzelzeitfahren der Junioren, das um kurz nach 9 Uhr beim Hotel Eden au Lac an der Ecke Kreuzstrasse/Bellerivestrasse gestartet wird.
Ab Mittwoch wird das Verkehrsregime in Zürich noch strenger. Ein junger Athlet bereitet sich auf seinen Einsatz im Einzelzeitfahren vor (Bild rechts).
Zürich–Feldmeilen–Zürich. Der Sieger wird die 24,9 Kilometer lange Strecke in etwas mehr als 28 Minuten bewältigen. Es gewinnt ein Franzose vor zwei Belgiern – eine Randnotiz bei diesen Titelkämpfen, an denen über fünfzig Rennen ausgetragen werden.
Auch der Trupp der Motorradfahrer, die an der Färberstrasse auf ihren Einsatz warten, spielt an diesem Montag eine Nebenrolle. Die Männer und die wenigen Frauen auf den motorisierten Maschinen fahren den Einzelzeitfahrern voraus und halten ihnen so den Weg frei. Sie dürfen den Athleten aber keinen Windschatten bieten und müssen daher immer mindestens hundert Meter Abstand halten zu ihnen. Die Töffpiloten haben Freude an ihrem Job, das sieht man.
«Wir hatten eine einzige Kundin heute»
Für viele Geschäfte hingegen, die sich an der Dufourstrasse oder in ihrer unmittelbaren Nähe befinden, sind die Rad-WM keine gute Zeit. Für den Schlüsseldienstspezialisten Hirt etwa, der seinen Sitz genau zwischen Dufour- und Bellerivestrasse hat. Die Servicemonteure des Unternehmens müssen schnell überall hinkommen in der Stadt. Die meisten Aufträge treffen kurzfristig ein, die Schlüsseldienst- ist auch eine Notfallbranche.
Was tun, wenn Zu- und Abfahrt zur Zentrale gesperrt sind?
Rolf Hirt, der Inhaber der Firma, kennt die Antwort. «Ich muss zumachen», sagte er vor ein paar Wochen an einer Veranstaltung, an der die Stadt den Gewerbetreibenden des Quartiers das Verkehrsregime während der Rad-WM zu erläutern versuchte. Und so kam es auch. Das Schlüsseldienstunternehmen hat diese Woche geschlossen. Nichts geht mehr wegen der Velo-WM.
Das gilt auch für das Blumengeschäft von Martin Grossenbacher auf der anderen Seite der Kreuzung an der Dufourstrasse. Man sehe sich gezwungen, Betriebsferien zu machen, steht auf einem Aushang an der Glastür geschrieben. Er bedaure es, dass man mit der Stadt und dem Veranstalter der WM keine alternative Lösung gefunden habe, lässt Grossenbacher seine Kunden in dem Schreiben wissen. Keine Zufahrt, kein Lieferservice: Der Blumenladen hat mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie der Schlüsselservice.
Und selbst mit dem Tram vor der Tür ist es schwierig, Geschäfte zu machen: Die Modeboutique Stereo an der Seefeldstrasse bekommt die Folgen der Rad-WM ebenfalls zu spüren. Die Strasse vor dem Geschäft ist zwar nicht gesperrt, es gibt sogar Parkplätze. Aber viele Leute meiden das Seefeld offenbar trotzdem. «Wir hatten eine einzige Kundin heute», sagt eine Verkäuferin am Montagabend. Die Boutique hatte die Flaute erwartet und die Öffnungszeiten diese Woche verkürzt. Sie sollte recht behalten.
Auch im Coiffeursalon von Valentino an der Seefeldstrasse ist wenig los. Sieben Sessel, sieben Spiegel, heller Marmorboden: In dem glänzenden Beauty-Tempel ist alles leer. Funkelnde Lampen warten darauf, die Haare von Valentino-Besuchern zum Glänzen zu bringen. Die einzige Kundin am Montagmittag sitzt hinten auf einem erhöhten Sessel. Sie hat den Salon ganz für sich allein.
Gute Vorbereitung ist alles an diesem Montag im Seefeld in Zürich.
Viele Gewerbetreibende im Seefeld ärgern sich über die Einschränkungen. An der erwähnten Informationsveranstaltung hatte der Vertreter der Stadt «individuelle Lösungen» in Aussicht gestellt. «Das ist unser Job», sagte der Mann. Das hat offensichtlich nicht überall funktioniert.
«Wir nehmen’s, wie’s kommt»
Caspar Ruetz hingegen ist guter Dinge. Der 61-Jährige besitzt ein kleines Gemüse- und Früchtegeschäft an der Mainaustrasse («Saisonal»). Sein wichtigstes Produkt: Spargeln aus Deutschland. Damit beliefert er im Frühling über hundert Restaurants in der Region und in St. Moritz. Jetzt, im Herbst, bietet sein Laden Tomaten an, Artischocken, Auberginen, Mangos, Quitten, Percoche (eine Kreuzung aus Pfirsich und Aprikose) aus Apulien, Sizilien, der Provence . . .
«Die sollten Sie probieren! So etwas finden Sie nicht in der Migros!» Ruetz kommt aus dem Erzählen fast nicht mehr heraus. Mitten in der Nacht ist er zum Engros-Markt nach Altstetten gefahren, da er befürchtet hatte, an irgendeiner Absperrung hängenzubleiben. Doch alles ging gut. Das Verkehrschaos blieb aus, die Ware, die er haben wollte, gelangte rechtzeitig ins Seefeld.
Ruetz macht es umgekehrt. Während andere Zwangsferien nehmen, gönnt er sich an den Velo-WM eine Extrarunde: Sein Laden hat diese Woche auch am Montag und am Dienstag geöffnet statt nur mittwochs bis samstags. Ruetz sagt: «Man kann nicht alles nur scheisse finden. Meine Frau und ich machen das Beste aus der Situation.» Manche seiner Kunden hätten sich Sorgen gemacht, ob er auch zumachen würde wegen der Rad-WM. Aber nichts da, im Gegenteil. Seine (Stamm-)Kunden haben davon per Newsletter erfahren.
«Saisonal» liefert auch, zum Beispiel frische Eier an ein Restaurant beim Helvetiaplatz, per Lastenvelo. In die Pedale tritt Ruetz’ Sohn. Das geht am schnellsten und ist zuverlässig.
Und ab Mittwoch, wenn noch mehr Strassen im Seefeld und am Limmatquai gesperrt sein werden?
Ruetz sagt: «Wir nehmen’s, wie’s kommt.» Auch dann werde er früh aufstehen. Denn: «Man darf den Kopf nicht in den Sand stecken.» Sein jüngster Newsletter sei jedenfalls «huere guet» angekommen bei der Kundschaft – beziehungsweise der Nachbarschaft im Seefeld. Das freut den Unternehmer ganz besonders. Er weiss: Sein Laden ist so etwas wie ein Treffpunkt in dem Quartier, Rad-WM hin oder her.
Die Velo-WM als Chance: Nicht alle Gewerbetreibenden sehen schwarz. Sie improvisieren lieber.