Im Jahr 2040 könnte die Schweiz die Marke von 10 Millionen Einwohnern überschreiten. Das rasante Wachstum beunruhigt zwei Drittel der Schweizer. Darüber wurde am NZZ-Podium diskutiert.
Die 10-Millionen-Schweiz wird immer realistischer. Bis zur Marke fehlen noch rund eine Million Einwohner. Zwei Dritteln der Schweizerinnen und Schweizer bereitet das rasante Wachstum Unbehagen, wie eine Umfrage («Chancenbarometer 2024») kürzlich zeigte. Wie ist der Zuwachs zu stemmen, und was bedeutet er für unsere Lebensqualität?
Dass die Meinungen darüber bisweilen weit auseinandergehen, zeigte das NZZ-Podium am Mittwochabend. Es debattierten der Wirtschaftswissenschafter Christoph Schaltegger, Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE), und der Schriftsteller Peter Stamm. Moderiert wurde die Veranstaltung von Daniel Fritzsche, Ressortleiter der NZZ.
Es gebe in der Schweiz eine seltsame Ambivalenz, sagte der Schriftsteller Peter Stamm in seinem Impulsreferat. Einerseits werde über die tiefe Geburtenrate der Schweizerinnen geklagt, den fehlenden Nachwuchs, den Fachkräftemangel, die Überalterung. Andererseits fürchteten viele, dass bald kein Platz mehr da sei für alle.
Die Angst vor der Überbevölkerung sei schon immer vor allem eine Angst vor den Ausländerinnen und Ausländern gewesen, argumentierte Stamm mit Blick auf die SVP-Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz». Allerdings lebe der grösste Teil der Ausländergemeinschaft nicht nur auf kleinerem Raum als Schweizerinnen und Schweizer. Sie verrichteten auch die Arbeit, die sonst keiner machen wolle, für wenig Geld. «Wer pflegt unsere Kranken, wer putzt unsere Häuser, wer tippt unsere Sachen in der Migros?»
Der Dichtestress sei nicht von absoluten Zahlen abhängig, sagte Stamm. Die Gründe für die gefühlte Überbevölkerung seien vielfältig. Das Gefühl von zu wenig Platz hätten wir auf der Autobahn und im Intercity zwischen Bern und Zürich oder bei der Wohnungssuche in grossen Städten. Es sei eine Sache der Wahrnehmung: «Unser Land mag klein sein, aber wenn man es zu Fuss und abseits der Wege erkundet, ist es fast unendlich gross.»
Der Bund bereitet sich vor
Tatsächlich leben 95 Prozent der Schweizer Bevölkerung auf nur 5 Prozent der Landesfläche, der Rest der Schweiz ist dünn oder gar nicht besiedelt, wie der Moderator Fritzsche bemerkte.
Dass diese Fläche nicht stärker genutzt werde, sei politisch gewollt, sagte die oberste Raumplanerin Maria Lezzi. In der Abstimmung über die Änderung des Raumplanungsgesetzes 2013 habe man beschlossen, das Kulturland zu schützen und sinnvoll zu nutzen, der Zersiedelung entgegenzuwirken.
Nur sei die Aufgabe nicht immer gemacht worden, sagt Lezzi. Es sei nun an den Kantonen und Gemeinden, aber auch den privaten Investoren, beschleunigt zu bauen und zu realisieren. «Ohne dass die knappe Ressource Boden einfach freigegeben wird für unendlich viele flache Häuser.»
Ein Problem seien die vielen Einsprachen und Beschwerden, sagte Lezzi. Um Wachstumsschmerzen, Wohnungsknappheit und hohen Mieten entgegenzuwirken, würden verschiedene Vorschläge geprüft. Etwa vereinfachte Verfahren, ein Vorkaufsrecht der Gemeinden, um mehr gemeinnützige Wohnungen zur Verfügung zu stellen, oder Anreize zur Verkleinerung der Wohnfläche.
Der Bund arbeite mit verschiedenen Szenarien und sei grösstenteils auf die 10-Millionen-Schweiz vorbereitet, die zwischen 2030 und 2050 Wirklichkeit werden könnte. Trotzdem sei es nicht so, dass man sich nun ausruhen könne.
Ausbau oder Begrenzung
Mengenwachstum bedeute Dichtestress, widersprach der Ökonom Christoph Schaltegger den beiden. Das Chancenbarometer zeige, dass mit steigender Zuwanderung die Lebensqualität für die Bevölkerung abnehme. Die Leute hätten unterschiedliche Bedürfnisse. Es könne nicht verlangt werden, dass sie sich wegen des Zuwachses einschränkten, sagte der Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern.
Statt die Infrastruktur also dem Mengenwachstum anzupassen und noch mehr zu bauen, müsse die Politik dieses regulieren, sagte Schaltegger. Es sei nicht sinnvoll, dass alle in die Schweiz kämen. Das würde das Land überfordern. «Man kann nicht jeden reinlassen, das versteht jeder Türsteher in einem interessanten Klub.» Die Vorstellung, wir könnten Wachstum bewältigen, indem wir das Angebot grösser machten, sei ein Trugschluss.
Ein Grund, weshalb Menschen gerne in die Schweiz kämen, sei die attraktive Infrastruktur eines funktionierenden Staates, sagte Schaltegger. Der Mechanismus sei wie bei einem schönen Haus: «Wenn Sie die Türe offen lassen, kommt halt jeder.» Die Politik müsse das ernst nehmen und die Besucherschar in effizienter Weise steuern. Wer zur Abnützung dieses Hauses beitrage, wer Stau verursache, zusätzliche Infrastruktur verlange, solle diese Kosten mittragen. Schaltegger könnte sich eine Art Migrations- oder Eintrittsgebühr vorstellen, um die Zuwanderer mit Kostenwahrheit zu konfrontieren.
Dann kämen nicht nur weniger, sondern auch die Richtigen, sagte Schaltegger. Eine kluge Wirtschaftsmigration führe schliesslich dazu, dass Talente zu uns kämen: «Wenn wir unter einer Käseglocke sitzen, sind wir irgendwann nicht mehr innovativ, sondern leben von dem bereits Erarbeiteten, der Fortschritt erlahmt.»