Die Wirtschaft stottert, und Xi Jinping spricht über die Bedeutung des Marxismus. Das zeigt die Spannung, der China ausgesetzt ist. Nun mussten sich die Parteioberen am dritten Plenum der Partei äussern.
Wie in den USA hängt in China vieles vom Präsidenten ab. Die grundlegende Ausrichtung der Politik wird in China allerdings nicht von der Regierung und dem Parlament bestimmt, sondern vom Zentralkomitee (ZK) der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) und vom Politbüro, dessen Vorsitzender und Generalsekretär Staatspräsident Xi Jinping ist.
Vom 15. bis 18. Juli haben sich 199 ZK-Mitglieder und 165 Stellvertreter zu ihrem dritten Plenum getroffen, das traditionell den wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs der nächsten fünf bis zehn Jahre vorgeben soll.
Das Treffen ist diesmal von besonderer Bedeutung. Angesichts zunehmender wirtschaftlicher Probleme wird in China wieder verstärkt darum gerungen, wie viele Freiheiten und Reformen und wie viel Öffnung unter «Xis Gedanken zum Sozialismus chinesischer Prägung für eine neue Ära» erwünscht sind und wie sehr sich diese dem marxistischen Streben nach umfassender Kontrolle, Propaganda und Ideologie unterzuordnen haben.
An Aufschwung gewöhnt
Zu den Eckwerten der Debatte gehört, dass sich der wirtschaftliche Wohlstand im Reich der Mitte seit Anfang des Jahrhunderts bewundernswert vermehrt hat. Breite Schichten der Bevölkerung haben sich daran gewöhnt und erwarten, dass es weiter aufwärtsgeht. Die Partei legitimiert ihren unbedingten Alleinherrschaftsanspruch nicht zuletzt mit diesem Wirtschaftswunder, auch wenn Xi selbst immer mehr Gewicht legt auf die Bedeutung eines wiedererstarkten China.
Gemessen am kaufkraftbereinigten Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf hat sich der Wohlstand des Durchschnittschinesen seit der Jahrtausendwende mehr als verfünffacht. In den zehn Jahren unter Xi nahm er um gut 70 Prozent zu.
Der Wohlstand hat nebst den grossen Städten und Industriezentren an der Küste verstärkt auch mittelgrosse und kleinere Städte sowie das Hinterland im Westen des Landes erfasst. China ist von der billigen Werkbank der Welt zu einer sich rasant modernisierenden Wirtschaft geworden, die nicht mehr nur kopiert und produziert, sondern selbst innovativ ist und in vielen Tech-Bereichen mit der weltweiten Spitze konkurriert.
Entscheidend dafür war nicht nur eine zentral gelenkte Industriepolitik, wie dies der Westen gerne unterstellt, sondern waren mindestens ebenso ein harter (marktwirtschaftlicher) Wettbewerb zwischen privaten und staatlichen Firmen und Regionen, ein stark leistungsorientiertes, umfassendes Bildungswesen, die internationale Öffnung (inklusive akademischen Austauschs) und der forcierte Ausbau der Infrastruktur. All dies hat eine bemerkenswerte unternehmerische Energie freigesetzt.
Am Ursprung dieser Entwicklung steht der Reformer Deng Xiaoping, der nach den Wirren von Maos Kulturrevolution nicht viel von Ideologie hielt und die Chinesen dazu aufforderte, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen, sich beim Überqueren eines Flusses von Stein zu Stein zu tasten und schnell reich zu werden.
Xi Jinping hingegen setzt andere Akzente. Er, der vor seinem Aufstieg an die Spitze des Parteiapparats die zentrale Parteischule geleitet hat, setzt wieder auf grosse Ziele, fordert ein «ausgeglichenes, qualitatives Wachstum» und pocht auf nationale Sicherheit, die Durchsetzung marxistischer Leitlinien und zentrale Kontrolle.
Fünf Probleme drücken auf das Wachstum
Die damit verbundene Einschränkung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Freiheiten hat Probleme stärker zutage treten lassen. Mit vergleichsweise enttäuschenden 4,7 Prozent im zweiten Quartal hat das Wirtschaftswachstum das offizielle Ziel von fünf Prozent verpasst. Die Zeiten des ungestümen chinesischen Wirtschaftswunders scheinen vorerst vorbei zu sein.
Dazu beigetragen hat erstens Xis Null-Covid-Strategie, die China in der Pandemie vom Rest der Welt isoliert hat und das Land und seine lokalen Verwaltungen teuer zu stehen gekommen ist. Viele lokale Körperschaften kämpfen nun mit hohen Schulden, und die jungen Menschen mit einer besonders hohen Jugendarbeitslosigkeit.
Zweitens hat Xi in seiner Überzeugung, die Wirtschaft müsse von der Partei gelenkt werden, die grossen unabhängigen Tech-Firmen eingeschränkt und wieder stärker unter die Obhut der Partei gezwungen. Drittens unterstrich Xi die Maxime, dass Wohnungen nicht der Spekulation dienen sollen, indem er den Immobiliensektor einschränkte. Das führte zur Zahlungsunfähigkeit riesiger privater Immobilienentwickler wie Evergrande und brachte die Immobilienblase zum Platzen. Weil die Chinesen den Grossteil ihrer Ersparnisse in Immobilien angelegt haben, verloren damit breite Bevölkerungsschichten plötzlich substanzielle Anteile ihres Vermögens. Einige Finanzinstitute und Vermögensverwaltungsgesellschaften haben nun mit Krediten zu kämpfen, die nicht mehr ordnungsgemäss bedient werden.
Viertens führte all dies zu einem ausgeprägten Vertrauensverlust, der die Konsumneigung bremst. Das konterkariert den Umbau des chinesischen Wirtschaftsmodells hin zu einem stärker konsumorientierten Wachstum.
Fünftens hat der Handels- und Technologiekrieg mit den USA den chinesischen Exportsektor stark in Mitleidenschaft gezogen und Wirtschaft und Politik die eigene Verletzlichkeit und Abhängigkeit vor Augen geführt. Zwar haben Erfolge in boomenden Sektoren wie der Elektromobilität, der nachhaltigen Energieproduktion oder den digitalen Dienstleistungen dem Export zuletzt wieder Auftrieb verliehen, doch prompt reagieren viele Absatzmärkte mit Protektionismus.
Dass die chinesische Regierung nun gewaltige Anstrengungen unternimmt, um die technologische Eigenständigkeit zu erhöhen, wirkt folgerichtig. Aber dazu braucht es viel Innovation. Das ist nicht bloss durch staatliche Förderung von sogenannten strategischen Unternehmen zu bewerkstelligen, sondern bedingt mehr Freiheit und Wettbewerb – am besten im offenen Austausch mit dem Ausland.
Damit China wirtschaftlich nicht ins Stocken gerät, müssten zudem die Folgen der Immobilienkrise rasch bereinigt und wo nötig betroffene Finanzinstitute rekapitalisiert werden. Die finanzschwachen Regionen und Gemeinden brauchen statt Zentralisierung mehr eigenständige Einnahmequellen und Kompetenzen. Das Wirtschaftswachstum stützen sollte der inländische Konsum, wozu eine Stärkung der Kaufkraft und ein Umbau des bisher stark von den Arbeitgebern abhängigen Sozialsystems und der Gesundheitsversorgung nötig wären.
Kurzum, eine gesunde Wirtschaft braucht freie Märkte, Wettbewerb, Eigenverantwortung, Leistungsanreize und ein vernünftiges Mass an sozialer Absicherung.
Marxistische Disziplinierung und Kontrolle
Doch Xi Jinping hält bis jetzt mehr von Marx als vom freien Markt.
Man kann Xis rasanten Aufstieg als Ausdruck dessen interpretieren, dass sich in der KPC vor gut zehn Jahren die Befürchtung durchgesetzt hat, dass ein ungestümes Wirtschaftswachstum, die Korruption und die Verwestlichung der chinesischen Eliten den Führungsanspruch der Partei gefährden würden – und damit die Privilegien ihrer Kader. Nur mit einer Rückkehr zu (linker) Ideologie und mit verstärkter Kontrolle lasse sich ein Schicksal vermeiden, wie es den Kommunisten in der Sowjetunion widerfahren ist.
Xi, der Sohn eines bei Mao in Ungnade gefallenen Reformers setzte nach seinem Machtantritt sofort auf eine ideologische Disziplinierung und Antikorruptionskampagne, die ihm bei seiner Machtkonsolidierung gute Dienste leistete. Er forderte obligatorische ideologische Unterweisungen an Schulen und Universitäten und verschärfte die Propaganda und Kontrolle der zulässigen Meinungsäusserung im öffentlichen Raum. Parteimitglieder müssen inzwischen regelmässig digital beweisen, dass sie Xis neueste Gedanken ausgiebig studiert haben.
Xi sieht im westlichen Individualismus und in dem Drang nach Selbstverwirklichung eine dekadente Gefahr. Zur «Erneuerung Chinas» propagiert er eine Modernisierung durch seinen «Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften». Dieser setzt auf eine Mischung aus kaiserlich-meritokratischen Traditionen und dem marxistisch-leninistischen «demokratischen Zentralismus».
Letzterer setzt auf zentrale Führung und Kontrolle von oben. Demokratisch ist er nur insofern, als die Parteigremien von unteren Parteiversammlungen gewählt werden und diesen rechenschaftspflichtig sind. Faktisch können aber die oberen Institutionen ihre Wahlbehörden disziplinieren, was die Parteiführung zur alles bestimmenden Autokratie macht. Typisch für Xis Rückkehr zu marxistisch-leninistischen Führungsstrukturen sind zudem der starke Personenkult, den seine Vorgänger abgeschafft hatten.
In den Augen der Parteikader, die ihn portiert haben, dürfte Xi bisher geliefert haben. Die Partei hält Gesellschaft und Wirtschaft fest im Griff. Antikorruptionskampagne und Personenkult haben Xi in der breiten Bevölkerung zu Anerkennung verholfen; unpopulär ist er vor allem in Teilen der Elite.
Doch Xis Autokratie hemmt den kreativen Wettbewerb. In der Bürokratie regiert die Angst, Ärger von oben auf sich zu ziehen. Das bremst die Bereitschaft zu Experimenten und die Eigeninitiative. Nun kommen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die dadurch ausgelösten sozialen Spannungen hinzu.
Es ist sicher kein Zufall, dass die zentrale Parteizeitschrift «Qiushi» just zum Plenum einen Artikel mit 26 als wegweisend bezeichneten Zitaten aus Reden von Xi Jinping unter dem Titel «Wir müssen auf Selbstvertrauen und Eigenständigkeit insistieren» veröffentlicht hat.
In einer Studiensitzung des Politbüros hielt Xi 2023 fest: «Wir müssen unerschütterlich am Marxismus festhalten, der die Grundlage für den Aufbau der Partei und des Landes bildet, und den Marxismus ohne Abstriche weiterentwickeln, ihn im fruchtbaren historischen und kulturellen Boden unseres Landes und unserer Nation verwurzeln (…).»
Damit aber gerät Xi in zunehmenden systemischen Gegensatz zu den wirtschaftlichen Realitäten und auch zu den Interessen von breiten Teilen der Bevölkerung.
Ein widersprüchlicher Kompromiss
Nun mussten sich die Parteioberen dazu äussern. Das am Donnerstag veröffentlichte Schlusscommuniqué des Plenums bleibt erwartungsgemäss vage. Es fordert dazu auf, Xis neue Ideen und Vorschläge zu studieren, und stellt fest, man sei mit einer komplexen internationalen und inländischen Situation konfrontiert.
Gefordert wird, angesichts der «neuen Erwartungen der Menschen» Reformen bewusster und prominenter anzupacken. Alle wesentlichen Reformfelder werden genannt. Versprochen wird eine «zentralisierte und vereinheitliche Führung zur Vertiefung der Reformen» – ein Widerspruch in sich. Gleichzeitig wird deutlich, dass sich die Parteikader vor sozialen Spannungen fürchten und einen Verlust von Stabilität und Kontrolle mit allen Mitteln verhindern wollen.
Der Not gehorchende wirtschaftliche Reformen und Öffnung einerseits, der Primat nationaler Sicherheit und die strikte ideologische Steuerung andererseits, so scheint der Kompromiss vorerst zu lauten. Das kommt einer Fortsetzung des bisherigen Kurses nahe und wird die inhärenten Widersprüche zwischen Markt und Marx kaum auflösen können. Wie viel Markt der Kompromiss dann tatsächlich beinhaltet und wie viel Marx, wird sich erst nach Veröffentlichung konkreter wirtschaftspolitischer Beschlüsse weisen.
Sicher ist: Je eher China wirtschaftlich mit dem Westen vernetzt Tritt fasst, umso unwahrscheinlicher wird eine Flucht in kriegerisch-nationalistische Abenteuer. Und je mehr sich auch international im Verhältnis mit China wieder wirtschaftliche Vernunft statt populistischer Konfrontation durchsetzt, umso weniger wird China künftig Marx noch brauchen.