Sonntag, September 29

Der neue Schwerpunkt Philosophie/Pädagogik/Psychologie widmet sich den grossen Fragen des Lebens – aus unterschiedlichen Perspektiven. Ein Schulbesuch in Aussersihl.

«Psychologie kommt aus dem Griechischen und bedeutet die Lehre der Seele. Doch was genau ist die Seele?», fragt die Lehrerin ihre Schülerinnen. «Mensch minus Körper», antwortet eine der Jugendlichen. «Die Persönlichkeit des Menschen. Das Denken, Empfinden und Wahrnehmen», sagt eine andere.

Es ist der dritte Schultag nach den Sommerferien. Die Teenager besuchen die dritte Klasse des Langzeitgymnasiums der Kantonsschule Wiedikon, dies am soeben eröffneten Standort der Mittelschule in Aussersihl. Sie haben sich für das Maturprofil Philosophie/Pädagogik/Psychologie (PPP) entschieden. Es ist eine Premiere: Der Schwerpunkt PPP wird in diesem Semester erstmals an den Zürcher Gymnasien angeboten.

An diesem Mittwochmorgen stehen für die reine Mädchenklasse in Aussersihl die ersten vier Lektionen PPP auf dem Stundenplan: zwei Lektionen Psychologie und Pädagogik und zwei Lektionen Philosophie.

Am Anfang der Psychologie/Pädagogik-Lektion verteilt die Lehrerin Arbeitsblätter mit Anweisungen. Die erste Aufgabe: «Zeige ein Bild von deinem Handy, und beschreib, was darauf zu sehen ist.» Eine Jugendliche zeigt den anderen ein Bild von einem Hund. «Das war unser Hund. Er ist diesen Sommer verstorben», sagt sie. Danach versuchen die anderen zu erraten, wie sie sich in diesem Moment gefühlt hat. «Traurig», sagen sie einstimmig. Es ist eine leichte Übung.

«Es geht auch darum, sich kennenzulernen», sagt die Lehrerin. Sie will von ihren Schülerinnen wissen: «Was formt unsere Persönlichkeit? Was macht sie aus?» Sie sammelt die Antworten der Mädchen an der Wandtafel: «Familie», «Freunde», «Genetik», «Temperament» steht da. Auf der letzten Seite der Unterlagen ist ein Modell abgebildet, das zeigen soll, was eine Persönlichkeit psychologisch ausmacht. Das hätte die Lehrerin eigentlich noch erklären wollen. Aber bevor sie dazu kommt, beendet der Gong die Doppellektion.

Andere Kantone waren schneller

Anders als andere Kantone hat Zürich lange darauf verzichtet, das Maturprofil PPP an seinen Gymnasien anzubieten. Es bestehe kein Bedarf für das Modul. Die Mittelschulen seien für Allgemeinbildung zuständig, Pädagogik und Psychologie gehörten hier nicht dazu. So argumentierten die Bildungsverantwortlichen in den neunziger Jahren.

Es gab mehrere Vorurteile. PPP galt als einfach, als «soft», ähnlich wie bildnerisches Gestalten und Musik. Man wollte den Maturanden lieber «etwas Anständiges» beibringen. Wirtschaft und Recht zum Beispiel, oder ein Fach aus dem Mint-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik). «Darum waren Zürcher Kantonsschulen zunächst skeptisch», sagt Niklaus Schatzmann, der Leiter des Mittelschul- und Berufsbildungsamts des Kantons.

Das hat sich geändert. Heute, da viele Schülerinnen und Schüler überlastet sind, über zu viel Druck klagen und sich für gesellschaftliche Themen und das eigene Empfinden interessieren, sind psychologische und philosophische Fragen wichtiger als früher. Viele Jugendliche wollen sich damit auseinandersetzen, auch im Unterricht.

Das Mittelschulamt geht davon aus, dass 10 bis 15 Prozent der Zürcher Gymnasiasten den neuen Schwerpunkt mit Philosophie, Psychologie und Pädagogik wählen werden. PPP wird interdisziplinär unterrichtet. «Die Welt ist komplexer geworden», sagt Schatzmann. Dem trage der neue Schwerpunkt Rechnung. «Die Jugendlichen müssen verschiedene Perspektiven einnehmen. Das hilft ihnen, das grosse Ganze zu verstehen.»

Dialektik lernen

Michel Borner, der Philosophielehrer der Klasse und Prorektor der Kantonsschule Wiedikon, sagt: «Wir wollen Themen wie Verschwörungstheorien aus psychologischer, pädagogischer und philosophischer Ansicht beleuchten und verschiedene Fragen beantworten: Welcher Argumente bedienen sich Verschwörungstheoretiker? Mit was für Tricks arbeiten sie? Was kann man tun, um Kinder und Jugendliche davor zu schützen?»

Wie das im Unterricht konkret aussehen kann, zeigt sich in der zweiten Doppellektion dieses Vormittags. Im Philosophieunterricht diskutiert die Klasse über Abtreibung. Zuerst lesen die Schülerinnen, was im Strafgesetzbuch über strafbaren und straflosen Schwangerschaftsabbruch steht. Wann ist eine Abtreibung legal und wann nicht?

Dann wird es philosophisch: Der Lehrer Michel Borner teilt die Klasse in zwei Gruppen ein. Die eine muss für, die andere gegen Abtreibung argumentieren. Es ist eine moralische Frage, keine juristische. «Es geht darum, die Methodik der Philosophie zu lernen», sagt Borner zu den Schülerinnen. Dialektik, die Kunst der Gesprächsführung: Pro und Contra sollen sich gegenseitig infrage stellen und am Ende idealerweise zu einer höheren Erkenntnis führen.

Mädchen unter sich

Borners PPP-Klasse besuchen zwanzig Mädchen. Jungs gibt es keine. In der Parallelklasse hat es ein paar. Aber warum wohl sind sie in der Minderheit?

Eine Schülerin hat dazu eine klare Antwort: «Die Jungs in unserem Alter sind sehr unreif. Ich glaube, dass sie nicht unmännlich erscheinen wollen. Darum wählen sie kein PPP. Und sie haben alle ein bisschen das Gleiche gewählt, um zusammenzubleiben», sagt sie.

Und warum hat sie diesen Schwerpunkt gewählt?

«Mich interessiert der Mensch, seine Emotionen und sein Empfinden», sagt die 14-Jährige. Sie wolle andere Menschen verstehen können. Und: «Ich finde es schön, dass das Fach nahe am Leben ist. Mathematik zum Beispiel ist mir zu abstrakt. Ich kann im Alltag nichts damit anfangen.»

Ihre Erwartung an den Unterricht?

Die grossen Fragen des Lebens zu beantworten.

Und dann?

Studien zeigen, dass PPP-Maturanden weniger «soft» sind, als ihnen manchmal unterstellt wird. Laut Bundesamt für Statistik studieren 70 Prozent der Gymnasiasten mit diesem Schwerpunkt später an einer Universität oder an einer der beiden ETH – mehr als jene, die bildnerisches Gestalten (59 Prozent) oder Musik (58 Prozent) gewählt hatten. 17 Prozent wechseln an eine pädagogische Hochschule, 8 Prozent studieren mit diesem Maturprofil an einer Fachhochschule.

Exit mobile version