Der russische Schriftsteller Michail Schischkin kam vor fast dreissig Jahren freiwillig in die Schweiz. Heute könnte er nicht mehr in seine Heimat zurückkehren. Ein Gespräch über die Schweiz, Russland und den Krieg.
Herr Schischkin, Sie sind 1995 in die Schweiz gekommen. Was waren Ihre Eindrücke von diesem Land?
Bei meinem ersten Besuch habe ich das Land wie eine Postkarten-Schweiz erlebt. Hier zu leben, schien mir ein Horror zu sein. Als Autor brauche ich russische Geschichten, russische Spannung. Worüber soll ich in der Schweiz schreiben? Dass ein Tram Verspätung hat? Ich dachte, es ist absolut unmöglich, hier zu leben.
Sie waren wegen Ihrer damaligen Frau in die Schweiz gezogen.
Genau. Ich hatte meine Frau in Moskau kennengelernt. Sie hatte in Zürich Slawistik studiert und wollte mich ins Deutsche übersetzen. So kamen wir zusammen; später haben wir dann in Moskau geheiratet. Irgendwann wurde Franziska schwanger, und sie hatte genug von der russischen Exotik: kein Geld, keine Grossmutter, keine normale Infrastruktur. Also sind wir im Herbst 1995 in die Schweiz gekommen, und kurz darauf kam unser Sohn Konstantin auf die Welt.
Wie fühlten Sie sich dann?
Wie auf einem anderen Planeten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich hier Geld verdienen sollte. Wenn du zu Hause bist, siehst du alle unsichtbaren Drähte, die die Welt zusammenhalten. Du weisst, diesen Draht musst du ziehen, und den anderen darfst du auf keinen Fall berühren. Aber wenn man auf einem anderen Planeten ist, sieht man diese Drähte nicht. Man macht einen Fauxpas nach dem anderen. Vor allem drehte sich alles ums Geld.
Womit haben Sie es verdient?
Ich habe angefangen, Russisch zu unterrichten. Aber natürlich gab es mehr russische Lehrer als Schüler in diesem Land. Ich war absolut verzweifelt. Wir lebten in Seuzach, und ich habe den Tag damit verbracht, einen Job zu finden. Einmal fuhr ich von Zürich zurück nach Seuzach und dachte mir: Seit einem halben Jahr versuche ich erfolglos, eine feste Stelle zu finden, ich gebe mein Bestes, aber es nützt nichts – also muss mir ein russischer Gott helfen, und zwar sofort.
Und hat er geholfen?
Mir gegenüber sass ein Herr mit einer Zeitung, die er liegenliess, als er aus dem Zug ausstieg. Ich schlug sie auf und sah gleich das Inserat einer Firma aus Meggen, die Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen suchte. Ich habe mich beworben und den Job sofort bekommen und zwei Jahre dort gearbeitet.
Wie war das?
Ich wollte immer, mein ganzes Leben lang, anders sein. In der Schweiz aber wollte ich am Anfang wie alle anderen sein: Ich wollte einen Job haben, und sei es der langweiligste Job der Welt, ich wollte am Abend todmüde in der S-Bahn sitzen. Und so war ich zwei Jahre lang wie alle anderen. Das hat mir dann gereicht. Ich habe also angefangen, an meinem Roman zu arbeiten. Irgendwann haben mich die Kollegen im Büro verpfiffen, weil ich mich immer wieder in der Toilette eingeschlossen und auf meinem Notebook geschrieben habe. Sozusagen gleichzeitig erschien meine erste Publikation in der Schweiz und bei der NZZ – es ging um Lenin und ein Konto, das dieser in der Schweiz eröffnet hatte. Das wiederum führte dazu, dass mich mein Boss zu sich zitierte und fragte: Sind Sie Schischkin, der Schriftsteller? Ich bejahte und wurde sofort entlassen.
Wieso?
Wer braucht einen Schriftsteller, der auf der Toilette etwas schreibt?
Wie ging es weiter?
Ich habe mich selbständig gemacht als Dolmetscher und unter anderem mein Geld im Bundesamt für Flüchtlinge verdient. Ich war oft in Kreuzlingen, um die Interviews von Flüchtlingen zu übersetzen. Für mich war gleich klar: Darüber muss ich schreiben. Ich habe mich immer mit einem Soldaten der Literatur verglichen. Ein Soldat muss einen Eid abgeben: Ich bin bereit, mein Leben zu geben. Dafür bekomme ich Stiefel, Essen, eine Übernachtungsmöglichkeit, Munition – ich muss an nichts denken. Ich habe mir also gesagt, dass ich das, was ich mache, ernst nehme. Und irgendwie war ich mir sicher, dass ich auch in der Schweiz, wo nichts passiert, meine Geschichten finden würde. Als Dolmetscher im Asylbereich war ich im Mittelpunkt der russischen Spannung. Schreckliche russische Geschichten kamen zu mir. Wäre ich in Russland gewesen, hätte ich damit nichts zu tun haben wollen. Russland ist voll von diesen Geschichten, da will man nur noch das Fenster zumachen. So kam «Das Venushaar» zustande, mein zweiter in der Schweiz geschriebener Roman.
Wie hat die Behörde auf Ihren Roman reagiert?
Ich habe nach der Veröffentlichung nie mehr einen Auftrag bekommen. Niemand will einen Schriftsteller als Dolmetscher. Ein Dolmetscher muss unsichtbar sein – ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Seit dieser Zeit bin ich nur noch freiberuflicher Schriftsteller. Mal ging es, weil ich grosse Preise bekam. Mal ging es nicht, und ich musste Sozialhilfe beantragen.
Wie hat sich das angefühlt?
Das war sehr erniedrigend. Zumindest in meinen Augen bin ich ein grosser Schriftsteller. Was ich mache, ist wichtig für die Literatur. Für die Frau auf dem Sozialamt war ich hingegen ein Typ, der nicht arbeiten und einfach Sozialgeld beziehen will. Ich musste Dutzende Bewerbungen schreiben. Schliesslich war ich froh, als ich wieder meine Einnahmen durch die Bücher hatte.
Am Anfang hatten Sie die Postkartenschweiz gesehen. Wie sehen Sie das Land heute?
Als ich in die Schweiz kam, war mir klar, dass dies eine russische kulturelle Wüste ist. In der Wüste kann man nicht leben. Ich musste diese Wüste für mich kolonisieren. Ich habe gelesen, was die Russen hier gemacht haben. Was war mit Bunin, mit Gogol, mit Rachmaninow? So bin ich auf die Idee gekommen, das Buch «Die russische Schweiz» zu schreiben. Das hat mir geholfen, dieses Land für mich lebendig zu machen. Ich habe festgestellt, dass das Land voll von russischer Kultur ist. Ich habe die Schweiz für mich kolonisiert.
Ironischerweise scheinen Sie in der Schweiz aber vor allem russischen Stoff gefunden zu haben.
Ich bin auf die Geschichten der Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion gestossen. Ein Schriftsteller ist jemand, der alles um sich herum frisst. Was ist um ihn herum? Leute, vor allem die Familie, Eltern, Kinder, Geschichte, Vergangenheit. Ich glaube auch, dass ein Schriftsteller weggehen muss. Ich habe das immer mit einem Haus ohne Spiegel verglichen. Wer in einem Haus ohne Spiegel lebt, kann nicht verstehen, wer er ist. Deshalb muss man weg.
Wie hat sich das in Ihrer Literatur gezeigt? Sind Sie ein anderer Schriftsteller geworden?
Total. Ich hätte in Russland andere Texte geschrieben. Die Schweiz war für mich sehr wichtig. Der Bruch mit der lebendigen russischen Sprache hat mir geholfen, meine Sprache zu finden. Ich vergleiche die lebendige Sprache immer mit einem Zug, sie verändert sich so schnell. Als Schriftsteller musst du im Zug sein, egal ob du dich als Lokführer fühlst oder ob du Wodka im Speisewagen trinkst oder schwarzfährst. Ich stieg in einer kleinen Station aus, und der Zug fuhr weiter. Sollte ich dem Zug hinterherrennen? Das ging nicht.
Was haben Sie dann gemacht?
Es ist schön, mit der lebendigen Sprache zu arbeiten, aber morgen ist die Sprache, die heute so cool klingt, schon veraltet, verdorrt und faul. Deshalb muss ein Schriftsteller seine eigene Sprache erfinden, eine Sprache, die immer frisch sein wird, auch nach seinem Tod. Dass ich in der Schweiz war und aus dem Zug aussteigen musste, hat mir geholfen, schneller auf diesen Gedanken zu kommen. Ich habe hier meine Sprache erfunden.
Wie hat sich Ihr Bild von Russland verändert – jenseits von der Sprache?
Eigentlich überhaupt nicht. Sie werden über das Land, in dem Sie aufgewachsen und in die Schule gegangen sind, nie etwas Neues erfahren. Ich habe von Russland nie ein neues Bild bekommen. Für mich war schon in den 1990er Jahren alles klar. 1991 gab es nach dem gescheiterten Putsch eine Euphorie, ich hatte so viel Hoffnung, dass Russland nun anders sein und zurück zur Zivilisation und zur Weltkultur finden würde. Was passierte? Die Russen hatten die Möglichkeit, ein neues Haus zu bauen. Stattdessen errichteten sie noch einmal die alte Baracke.
Wann haben Sie gemerkt, dass sich Russland so entwickeln würde?
Das war beim ersten Tschetschenien-Krieg, 1994. Von da an war alles klar. Wir waren wieder in der Diktatur, in einem Update der Sowjetunion.
War es ein Glück, dass Sie Russland 1995 noch aus nichtpolitischen Gründen verlassen konnten?
Wäre ich damals nicht gegangen, hätte ich es später gemacht. Man kann in Russland nicht bleiben, wenn man schöpferisch ist. Man hat als Russe drei Möglichkeiten: Man kann patriotische Lieder singen, man kann schweigen oder emigrieren. Für mich war damals klar: Im 21. Jahrhundert gibt es keine Grenzen mehr, als Schriftsteller muss man reisen und überall leben. Wichtig ist nicht, wo du lebst, sondern was du schreibst. Und bei dieser Meinung bin ich geblieben. Ich verliess Russland freiwillig, das war 1995 kein Exil. Aber heute bin ich ein russischer Emigrant. Denn nachdem ich weggegangen war, wanderte Russland zurück ins Mittelalter.
Könnten Sie zurzeit zurück nach Russland reisen?
Nein, für das, was ich sage, werden Menschen in Russland zu grossen Strafen verurteilt. Wenn ich nach Russland reisen würde und mich so benehmen würde wie in der Sowjetunion, hätte ich keine Probleme: ruhig auf der Datscha sitzen, verbotene Bücher lesen, mit anderen leise über Politik reden. Das wäre auch jetzt möglich. Aber ich bin anders geworden. Ich würde heute eine öffentliche Lesung machen, ich würde da alles sagen, was ich denke – über Putin und den Krieg. Und dies hätte schlimme Folgen für mich und meine Familie.
Werden Ihre Bücher in Russland noch verlegt?
Ich habe meinem Verlag gekündigt. Ich publiziere nicht in einem Verlag, der Z-Autoren wie Prilepin herausgibt. Ab und zu sagen mir Leute, sie würden meine Bücher immer noch in russischen Buchhandlungen sehen. Vielleicht publiziert mich mein alter Verlag also weiter, ich weiss es nicht. Und ich weiss auch nicht, wer das Geld für meine Bücher kriegt.
Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie ein politischer Emigrant sind?
Das war 2014. Mein offener Brief im Frühjahr 2013 war sehr wichtig. Da habe ich mich in aller Klarheit von Putins Russland losgelöst. Davor wurde ich oft von russischen Institutionen eingeladen: als der grosse russische lebende Klassiker. Am Anfang habe ich mich gefreut, aber dann habe ich realisiert, dass wir Autoren missbraucht werden. Man logierte in teuren Hotels, gab Lesungen, aber im Hintergrund hing – bildlich gesprochen – immer das Porträt von Putin. Das wollte ich nicht mehr. Als ich meinen offenen Brief veröffentlichte, fuhren Walzen über mich, von allen Seiten.
Warum von allen Seiten?
Patrioten und Liberale fanden gleichermassen, ich hätte es ja leicht, aus der bequemen Schweiz zu räsonieren. Nach diesem Brief bin ich zu einem Scheissliteraten geworden. Wenn ich einen Text in der NZZ publiziert habe, bekam ich immer einen Brief von der russischen Botschaft im Stil von: «Wie können Sie bloss diesen russophoben Unsinn veröffentlichen?» Vor meinem offenen Brief hat mich die russische Botschaft wie einen General behandelt und ständig eingeladen.
Wann waren Sie das letzte Mal in Russland?
Im Oktober 2014, an einer grossen Buchmesse in Krasnojarsk. Alles war wunderschön, aber nicht ein Wort fiel über den Krieg gegen die Ukraine. Ich glaube, ich war der Einzige, der darüber auf der Bühne gesprochen hat. Dieses Schweigen war so erniedrigend. Die Russen leben immer noch in diesem Schweigen. Ich habe mir gesagt, dass ich nicht mehr zurückgehe.
Fühlen Sie sich gefährdet hier in der Schweiz?
Wir sind im Krieg. Ich fühle mich wie ein Kämpfer in diesem Krieg. Für mich ist das der Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei. Früher war es nur gefährlich an der Frontlinie. Heute ist die Frontlinie überall. Ich habe aus Deutschland eine E-Mail bekommen: «Schischkin ist ein Verräter, Tod den Verrätern.» Was soll ich tun? Aufhören, schweigen? Was ist dann der Sinn meines Lebens? Schweigen ist das, was das Regime von den Untertanen verlangt. Puschkin schreibt in der berühmten Schlusszeile von «Boris Godunow»: «Das Volk schweigt.» Nur das Wort kann diesem Schweigen entgegengestellt werden.
Sie empfinden angesichts des Kriegs in der Ukraine eine Scham, in russischer Sprache zu schreiben.
Dieser Krieg hat meine Sprache zur Sprache der Mörder und Kriegsverbrecher gemacht. Ich habe eine Mission. Ich muss der ganzen Welt zeigen, dass Russisch auch Teil der Weltkultur ist, dass das Russische nicht nur etwas von Putin Verseuchtes ist. Ich verteidige die Würde meiner Sprache. Ich versuche der Welt zu erklären: Die russischen Soldaten haben ihre Verbrechen in Butscha nicht begangen, weil sie zu viel Tolstoi und Tschechow gelesen haben. Die Kultur ist der Hauptfeind des russischen Staates. Und gleichzeitig hat die Kultur immer gegen das Regime gekämpft. Das Regime benutzt die Sprache für diesen Krieg. Die Sprache gehört aber mir, nicht Putin.
Hat sich denn die Situation der russischen Sprache verändert? Es war doch schon die Sprache Stalins.
Ich vergleiche die Situation mit derjenigen der russischen Emigration vor hundert Jahren. Die grossen europäischen Städte waren voll von russischen Emigranten. Und die haben laut gesprochen, sie haben sich nicht dafür geschämt. Jetzt, nach dem 24. Februar 2022, hört man kaum noch Russisch in der Strasse. Denn die Russen schämen sich, laut zu sprechen. Vor hundert Jahren haben diese emigrierten Russen zuerst im Bürgerkrieg gekämpft und verloren, sie haben versucht, die russische Kultur und Sprache zu verteidigen. Sie mussten sich nicht schämen. Jetzt haben wir eine andere Situation. Wir Russen im Westen haben gegen die Invasion demonstriert. Ich habe in Zürich auf dem Sechseläutenplatz vor 40 000 Menschen gesprochen. Aber das ändert nichts daran, dass die allermeisten Russen schweigen oder die Invasion in der Ukraine bejubeln. Dieses Gefühl, dass die russische Bevölkerung diesen Krieg unterstützt, das ist so beschämend, das macht den Unterschied.
Was ist Ihre Erklärung dafür?
Es gibt zwischen der westlichen Welt und der russischen Bevölkerung eine Zivilisationslücke. Im Westen haben wir den Schritt vom Stammesbewusstsein zum individuellen Bewusstsein nach der Reformation und in der Aufklärung gemacht. Die Mehrheit in Russland lebt in der Vergangenheit, in dem alten Stammesbewusstsein. Unser Stamm ist immer gut, denken sie, die anderen sind unsere Feinde, sie wollen uns vernichten.
Das heisst, Russland braucht eine Aufklärung.
Genau, aber dies verhindert das Regime in Russland. In der Schule wird einem nicht das kritische Denken beigebracht. Es werden Patrioten erzogen. Wie soll man diesen Menschen die Aufklärung und die Kultur vermitteln, wenn der Staat das verhindert?
Ist die Bevölkerung Opfer des Regimes, oder sind die Russen Mittäter?
Es gibt keine klare Antwort darauf. Jeder, der individuell oder anders denkt, wurde in Russland eliminiert oder musste emigrieren. Und da blieben nur Leute, die schweigen, oder die, die sich mit diesem Stamm identifizieren. Wenn man diese Leute jetzt fragen würde, warum sie diesen Krieg angefangen haben, dann würden sie antworten: «Wir? Wir haben nichts damit zu tun. Das war die Obrigkeit, das war die Macht.» – Es ist wie der Dinosaurier und das Ei. Die Bevölkerung gebärt dieses System und dieses die Bevölkerung.
Mit dem Tod Alexei Nawalnys ist die Opposition in Russland fürs Erste vollends erlahmt.
Das Regime hat ihn – und damit das Symbol für eine friedliche Umwälzung in Russland – ermordet. Daher bin ich sehr pessimistisch geworden. Sicher ist, mit Gewalt wird man in Russland nie eine demokratische Gesellschaft aufbauen können. Mit der Gewalt wird man nur wieder eine weitere Diktatur errichten. Nawalny hat das verstanden.
Sie haben die Mission, im Ausland die russische Sprache zu verteidigen. Aber was können Sie gegen die Zivilisationslücke in Russland tun?
Solange wir dieses Regime haben, ist es kompliziert, an diese Leute zu kommen. Und erst recht kompliziert wird es dadurch, dass wir im Krieg sind. Den Leuten, die mit mir auf dieser Seite der Frontlinie sind, muss ich nichts erklären. Und die Leute hinter der Frontlinie – die manchmal durch Familien geht – werden auf mich sowieso nicht hören. Denn ich bin ein Verräter. Sie sind im Krieg gegen die ganze Welt. Sie verteidigen ihre «Kultur», sie verteidigen ihren Puschkin, es wird ihnen gesagt, dass sie Puschkin verteidigen, indem sie dort die Zivilbevölkerung ermorden.
Als Schriftsteller seien Sie machtlos, sagen Sie. Sind es letztlich auch die Länder, die der Ukraine Waffen liefern?
Wer kann dieses System zum Scheitern bringen? In Deutschland waren es die Alliierten. Wer kann Russland besiegen? Ich hatte vor zwei Jahren die Hoffnung, die Ukraine werde diesen Krieg gewinnen, und das würde zum Sturz des Regimes in Russland führen. Jetzt sehen wir, dass diese Hoffnung gestorben ist. Von einer militärischen Niederlage kann man nicht reden, denn der Westen will diese Niederlage Russlands nicht. Er liefert keine Waffen für den Sieg. Alle wollen jetzt den Krieg einfrieren. Nur Selenski will den Krieg weiterführen. Ob mit oder ohne Selenski wird der Konflikt eingefroren, in diesem Jahr oder im nächsten Jahr oder in fünf Jahren. Das wird nur das Regime in Russland stärken. Denn der Westen fürchtet die militärische Niederlage Russlands, die zu Chaos führen würde, was man gerade bei einer Atommacht nicht will.
Sie haben gesagt, die Frontlinie verlaufe bisweilen mitten durch Familien. Auch Ihr Bruder ist ein Anhänger von Putin, haben Sie einmal geschrieben.
Ich glaube nicht, dass er ein Anhänger von Putin ist. Aber 2014 haben er und seine Familie nach der Krim-Annexion mitgejubelt. Das ist dieses Mantra: Wir Russen sind jetzt wieder stark. Die Identifizierung mit dem Stamm und mit der Stärke des Staats. Genauso war es mit meinem Vater, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg – er war bei der Marine – immer mit diesem Sieg über Nazideutschland identifiziert hat. Er meinte, er habe Osteuropa vom Faschismus befreit. Ich konnte ihm nicht erklären, dass er diesen Leuten einen anderen Faschismus gebracht hat. Und was haben die Russen nach diesem grossen Sieg 1945 bekommen? Nichts, sie waren noch mehr Sklaven als zuvor. Für viele Leute war es darum wichtig, sich mit der Grösse dieses Staates zu identifizieren, so wie Sklaven stolz sind auf den Reichtum ihres Besitzers. Und genau so ist es auch jetzt wieder passiert.
Aber es gibt doch auch in Russlands schweigender Mehrheit einen Teil, der aufgeklärt ist und nicht einfach von dieser Zivilisationslücke abgehängt wurde. Da können Sie die Schuldfrage der Menschen doch nicht vollkommen ausklammern.
Klar, in Russland gibt es viele Menschen, die gegen den Krieg sind. Die versuchten vielleicht am Anfang zu protestieren. Jetzt haben sie Angst und schweigen darum. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es die Nürnberger Prozesse gegen die Kriegsverbrecher. Das brauchen wir auch. Aber wer wird diese Nürnberger Prozesse durchführen? Damals gab es die Alliierten, wer aber soll Russland heute besiegen? Niemand. Werden diese Kriegsverbrecher sich selber ins Gefängnis bringen? Nein. Es wird auch die Aufarbeitung der Verbrechen nicht geben. Für mich persönlich ist es absolut klar: Wer den Krieg unterstützt, ist ein Mittäter. Als der Krieg anfing, haben alle Museumsdirektoren, alle Universitätsrektoren, alle Theater- oder Filmregisseure, alle führenden Kulturschaffenden offiziell mit ihrer Unterschrift unter einem offenen Brief diesen Krieg unterstützt. Diese Leute sind Kriegsverbrecher.
Fühlen Sie sich mittlerweile auch als Schweizer? Sie sind ja eingebürgert worden.
Für mich ist das sehr wichtig. Denn ich lebe in einer demokratischen Gesellschaft. Das gibt mir die Freiheit, am Leben dieses Landes und der Gesellschaft teilzuhaben. In einer Diktatur ist das nicht möglich. Von hier aus habe ich immer gegen das russische Regime gekämpft – vor der Olympiade, vor der Fussball-WM, nach der Krim-Annexion. Ich kam mir vor, als würde ich gegen eine Mauer laufen. Dann kommt der 24. Februar. Das Erste, was ich höre vom Bundesrat: Wir sind neutral, wir werden uns den Sanktionen der EU gegen Russland nicht anschliessen. Ich war so wütend. Also rannte ich weiter gegen die Mauer an und sagte am 25. Februar in der «Arena» des Schweizer Fernsehens: Liebe Schweiz, die Neutralität ist Geschichte, wir können uns diesen Luxus nicht mehr leisten. Wir müssen die Ukraine mit allen möglichen Mitteln unterstützen. So funktioniert Demokratie. Nach ein paar Tagen sagte der Bundespräsident: Ja, wir werden den Boykott übernehmen. Es kam mir wie mein kleiner Sieg gegen den Krieg vor, meine fünf Kopeken, wie die Russen sagen.
Ein Russe im Schweizer Exil
rbl. · Michail Schischkin wurde 1961 in Moskau geboren, wo er Anglistik und Germanistik studierte. Er hat mehrere Romane und essayistische Werke veröffentlicht und wurde mit den wichtigsten russischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Seit 1995 lebt er in der Schweiz. 2013 hat er einen offenen Brief veröffentlicht und darin Wladimir Putins Regime als kriminell und korrupt bezeichnet. Seit Russlands Aggressionen gegen die Ukraine gehört Schischkin zu den prominentesten russischen Kritikern Putins im Exil.