Das Engagement des erfolgreichen Tuchel wird von Kritikern als Missverständnis hingestellt. Doch die Probleme der Bayern liegen tiefer.
Wie lange noch? Das ist gegenwärtig die Frage, die die Diskussion um den FC Bayern München prägt. Am Sonntagabend verloren die Bayern das dritte Pflichtspiel in Serie; nach dem 0:3 im Spitzenkampf der Bundesliga gegen Bayer Leverkusen und dem 0:1 gegen Lazio Rom in der Champions League unterlagen sie dem VfL Bochum 2:3. Der Trainer Thomas Tuchel hatte Mühe, zu erklären, woran es diesmal lag. Und da die Mechanismen des Geschäfts in München noch schneller greifen als andernorts, war die Frage unvermeidlich: Wann wird Thomas Tuchel abgelöst?
Wer die Geschehnisse auf dem Feld und abseits davon beobachtete, für den ist durchaus vorstellbar, dass es nun rasch geht. Zwar hatte der Trainer recht, als er anmerkte, dass seine Mannschaft überlegen gewesen sei und sie dieses Spiel eigentlich hätte gewinnen müssen. Aber es gehört eben zur Dynamik einer Krise, dass Dinge nicht gelingen, die sonst leicht von der Hand gehen.
Vorstandschef Dreesen hält nichts von Treueschwüren
Sich aus dieser Situation zu befreien, zählt zu den schwierigsten Aufgaben, die ein Trainer zu bewältigen hat. Und Tuchel ist nicht in einer ähnlich komfortablen Situation, wie es der charismatische Jürgen Klopp während seiner Karriere immer wieder gewesen ist, dem sowohl in Dortmund als auch in Liverpool der Rauswurf nicht angedroht wurde, als es nicht gut lief. Tuchel weiss also genau, dass die Zeit, um die Schwierigkeiten zu beheben, eigentlich schon verstrichen ist.
Ein Bekenntnis wie jenes von Jan-Christian Dreesen, dem Vorstandschef der Bayern, wonach Tuchel in der kommenden Woche «selbstverständlich» noch der Trainer der Bayern sei, mag durchaus aufrichtig gemeint sein. Dass es sich als eines von kurzer Halbwertszeit erweisen könnte, war beiden Protagonisten bewusst. Dreesen erklärte in einer für die Branche ungewöhnlichen Offenheit, dass er im Prinzip nichts «von diesen monströsen Trainer-Unterstützungs-Bekundungen» halte. Schliesslich seien solche «Treueschwüre meistens nach einer Woche schon wieder vorbei». Tuchel wusste den Auftritt des CEO entsprechend einzuschätzen: «Dass das hilft, wage ich zu bezweifeln.»
Dabei ist die Frage legitim, ob es allein das Problem des Trainers ist, der fachlich nicht bloss in Deutschland, sondern auch international zu den besten Kräften zählt. Tuchels durchaus segensreiche Wirkungen sind in Dortmund, bei Paris Saint-Germain und auch beim FC Chelsea bezeugt. Mit PSG unterlag er den Bayern nur hauchdünn 0:1 im Final der Champions League 2020; mit Chelsea gewann er die Trophäe ein Jahr später auf Anhieb.
Es sind durchaus schwierige Milieus, geprägt von den Ambitionen eitler Financiers, deren Einmischungen der als heikel geltende Tuchel als schwere Übergriffe empfunden haben dürfte. Nur: Beide Mannschaften schnitten nie besser ab als unter dem Deutschen.
Dass seine bisweilen idiosynkratische Art im eher rustikalen bayrischen Milieu ein wenig schräg wirkt, ist oft angemerkt worden, weswegen manche Kritiker nun glauben, das Team und der Trainer würden partout nicht zusammenpassen. Niemand formulierte dies deutlicher als der TV-Experte Dietmar Hamann, der Tuchel zum «grössten Missverständnis» seit der Verpflichtung Jürgen Klinsmanns im Jahr 2008 bezeichnete. Eine solche Polemik wird dem Coach indes nicht gerecht. Sie verstellt zudem den Blick auf einige Probleme, die die Bayern schon länger plagen.
Kimmich und Goretzka werden ihren Ansprüchen nicht gerecht
Am Sonntagabend in Bochum verliess der selbsternannte Führungsspieler Joshua Kimmich das Spielfeld und geriet dabei mit Tuchels Assistenten Zsolt Löw aneinander. Kimmich ist ein Spieler mit hohen Ansprüchen – an sich selbst, aber auch an sein Milieu. Er hält sie bloss nicht immer ein. Seine beste Zeit liegt schon einige Jahre zurück, obschon er erst 28 Jahre alt ist. Gemeinsam mit seinem Mittelfeld-Kollegen Leon Goretzka verkörpert Kimmich das Zentrum der Bayern-Achse auch im Nationalteam.
Die Probleme von Auswahlmannschaft und Klubteam sind die gleichen. Beide Profis sind mittlerweile in einem grotesken Masse überschätzt, was sich vor allem aus dem Jahr des Champions-League-Sieges speist. Nur: Damals, 2020, waren nicht sie die prägenden Figuren. Es waren andere, die das Bayern-Spiel prägten: vor allem der Goalie Manuel Neuer, der auch in Bochum seine Leistung erbrachte, der Verteidiger David Alaba, der Mittelfeldspieler Thiago und der Stürmer Thomas Müller.
Von diesen prägenden Figuren ist neben Neuer nur noch Müller im Team. Thiago wechselte zum FC Liverpool, Alaba stabilisiert inzwischen bei Real Madrid die Abwehr, was die Bayern besonders schmerzen dürfte, da sich ihre Investitionen von einer Viertelmilliarde Euro in die Defensive in den vergangenen Jahren bisher nicht ausbezahlt haben. In Bochum flog der Innenverteidiger Dayot Upamecano wie bereits gegen Lazio vom Platz.
Neu sind die Probleme der Bayern nicht. Das Anspruchsdenken ihrer bisweilen lautstark auftretenden Protagonisten verträgt sich längst nicht mehr mit deren Leistungen. Auch Julian Nagelsmann, der Vorgänger Tuchels, hatte seine Mühe mit dem Kader. Zwar lässt sich zu Recht anmerken, dass Nagelsmann in einem bisweilen jugendlich anmutenden Überschwang allerlei Fehler beging und bisweilen etwas lax bei der Sache war. Doch bereits Carlo Ancelotti und Niko Kovac kamen in München nicht zurecht.
Einzig Hansi Flick kam in München blendend klar
Einzig der anfangs nur interimistisch engagierte Hansi Flick kam in seinen anderthalb Jahren in München blendend klar und gewann das Triple – ein Erfolg, der sich auch durch den unter seinem Vorgänger Kovac entstandenen Verdruss und die einzigartigen Umstände erklären lässt: Die Covid-19-Pandemie verschaffte den Bayern wegen des nur kurz unterbrochenen Wettbewerbes in Deutschland einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Konkurrenten. Die Leistungen von Goretzka und Kimmich wurden für Flick erst zum Problem in der Nationalmannschaft, nachdem er diese übernommen hatte.
Eine Klubführung, der an stabilen Verhältnissen gelegen ist, sollte sich daher fragen, wie es um Teile des kickenden Personals bestellt ist, bevor es in routinierter Manier den Trainer vor die Tür setzt. Daran, dass sich dies im Falle von Thomas Tuchel vermeiden lässt, glaubt kaum jemand, der mit den Münchner Verhältnissen vertraut ist. Ebenso wenig dürfte verwundern, dass nun Rufe nach Hansi Flick laut werden. Der Trainer ist nach seinem Scheitern an der WM 2022 mit dem deutschen Nationalteam verfügbar. Zwar hat Flicks Ruf infolge der Ereignisse in Katar gelitten. Doch als Platzhalter dürfte er in München problemlos vermittelbar sein.