Der grosse Regisseur und Intendant ist im Februar 2023 verstorben. Postum sind seine Erinnerungen erschienen. Sie zeugen vom erfüllten Leben des Künstlers, der oft auch in Zürich inszenierte.
In Zürich hat er sich wohlgefühlt. Die Stadt habe ihn gefangen genommen, schreibt der Regisseur Jürgen Flimm in «Mit Herz und Mund und Tat und Leben», seinen postum erschienenen Erinnerungen. Zürich war nicht mehr Deutschland und noch nicht Italien, eine «Zwischenwelt».
Die alten Viertel bargen für ihn eigentümliche Geheimnisse, hier fühlte er sich den Exilanten aus vergangenen Jahrhunderten nahe: Lenin, Büchner, Lenz. Und er war gerne im Café Odeon oder im Cabaret Voltaire: «Verrückte Orte, voll mit verrückten Geistern aus dem Dadaland.» Im «Sternengrill» am Bellevue liess er sich Bratwürste und Burritos schmecken, in der «Kronenhalle» ass er Geschnetzeltes mit Rösti. Am Ende versuchte er sich auch in Zürcher Dialekt: «Jawohl, s’ischt guet gsi in Züri am See.»
Der Bühnenkünstler Jürgen Flimm hat in Zürich auch inszeniert, zunächst am Neumarkttheater. Im Opernhaus hat er später bei insgesamt sechzehn Produktionen mit Dirigenten wie Levine, Muti, Barenboim und vor allem Nikolaus Harnoncourt zusammengearbeitet. Mit ihm sei er hier auf «langwierige, aufregende Entdeckungsreisen durch die Musikgeschichte» gegangen.
Multitasking für die Bühne
Zürich war nur eine Station im 81 Jahre währenden Leben Jürgen Flimms. Als er im Februar 2023 starb, da lag eine einzigartige Karriere auf den Bühnen dieser ganzen Welt hinter ihm, ein Weg, der ihn aus der Provinz in die grössten Häuser, zu den bedeutendsten Festivals des Theaters geführt hatte.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt schien nichts mehr ohne ihn zu gehen, da düste er wie ein Kulturmanager zwischen New York und Hamburg, Mailand und Berlin hin und her, rastlos inszenierend. Gleichzeitig lehrte er an Universitäten und entdeckte als Intendant neue Talente. Nicolas Stemann zum Beispiel. Den jetzigen Co-Intendanten am Zürcher Schauspielhaus fand er «aufmüpfig und begabt».
Auch wenn sich die administrativen Aufgaben in der zweiten Hälfte seines Lebens häuften, sah sich Jürgen Flimm am liebsten als einfachen Theatermacher. In seinen Erinnerungen denkt er an die Anfänge zurück, als er, der Sohn eines Theaterarztes, infiziert wurde vom Metier, «fiebrig» in den Vorstellungen hockte. Vernarrt ins Theater, hatte der Junge keinen grösseren Wunsch, als selber einmal mitzutun.
Für Oma, Tanten, Nachbarn bastelte er sich auf dem Dachboden sein eigenes Kleintheater und mit «Tri tra trallerla begann die rührende, kleine Show mit meinen besten Freunden, den Puppen». Von Brecht übernahm er dann die Maxime, dass das Vergnügen die nobelste Funktion des Theaters bleiben müsse. Man brauche nicht viel: ein Brett, «das ein wenig höher ist als der Rest der Welt, darauf steht eine Person, die spricht, singt oder tanzt». Davor sitzt eine andere Person, die lacht, schaut, klatscht, jubelt oder sich ärgert.
Sender und Empfänger also, meint Jürgen Flimm, das eine gehe nicht ohne das andere, «weil das Geheimnis zwischen beiden liegt». Solch schöne Stellen gibt es zahlreich in dem Buch «Mit Herz und Mund und Tat und Leben», dessen Erscheinen Jürgen Flimm nicht mehr miterleben durfte. Den Titel hatte er sich «ausgeliehen» bei Johann Sebastian Bach, aus dessen fast gleichnamiger Kantate BWV 147. Und tatsächlich steckt in der Zeile der ganze Flimm: Nur wenn alles zusammenging, das Gefühl und der Mut, etwas anzupacken, die Weisheit und das Handwerk, war für ihn Theater möglich und ehrlich.
Ob als junger Regisseur in München und Köln, später als Leiter der Ruhr-Triennale und der Salzburger Festspiele, endlich als Intendant der Berliner Staatsoper Unter den Linden – Flimm blieb ein Mensch, der, oberflächlich gesehen, vielleicht gar nicht ganz in den schnelllebigen Kunstbetrieb passte. Er wollte den einzelnen Augenblick halten, weil er ihn als betörend und anregend empfand.
Gerade deshalb aber konnte er beruhigend auf das Theater einwirken. Im Vorwort zu Flimms Memoiren führt Sven-Eric Bechtolf in diesem Sinn eine schier endlose Reihe von Eigenschaften an: «Hilfsbereit, grosszügig, angefasst, beteiligt, kraftvoll, neugierig, fähig, konstruktiv, anerkennend, erfinderisch, ruhelos, umtriebig, humorvoll und bei alledem künstlerisch eine echte Instanz.»
Manchmal unten, meist ganz oben
An Jürgen Flimm wäre diese Lobeshymne allerdings sanft abgeflossen, und er hätte, um das Eigenbild vollständig zu machen, auch die weniger schönen Seiten seines Lebens angeführt. In den Erinnerungen zeigt er sich sehr selbstkritisch. Zum Beispiel Salzburg: «Meine Eitelkeit machte mich (. . .) dumm», schreibt er. Er wollte dabei sein, sich sonnen im Glanz der Festspiele und der Prominenz, fühlte sich überragend und wurde «bald auf das Mass des rheinischen Piefkes zurückgestutzt». Die barocke Idylle an der Salzach empfand er in den Jahren seiner Intendanz (2006–2010) nur noch als «kalten Ort».
Bisweilen ging es also auch bergab in der Karriere des Jürgen Flimm. Doch meistens stand er oben, fest im Kreise der bedeutendsten Bühnenkünstler seiner Zeit. Entsprechend füllt das Namedropping einige Seiten dieser Erinnerungen. Manchmal hat man den Eindruck, dass der einstige «Kasperltheaterdirektor» es gar nicht fassen konnte, in der wirklichen Welt eine solch bedeutende Rolle zu spielen.
Der «Provinzjüngling aus dem kleinen Köln», hineingeschubst ins pralle Leben: Jürgen Flimm erzählt davon launig und staunend, er plaudert anekdotenreich und Nähkästchen-intim, nie aber ehrverletzend. Am Ende steht er vorm Eingang der Berliner Oper. Es schneit leicht, die grossen Säulen erinnern ihn an das Portal des Odéon in Paris, wo er gearbeitet hatte. Damals begegnete ihm im Regen einst Jean-Louis Barrault, jetzt ist Flimm allein, ganz für sich, ohne Freunde, Entourage und Publikum. «Ich drehte mich rasch um und ging. Es war vorbei.»
Jürgen Flimm: Mit Herz und Mund und Tat und Leben. Erinnerungen (Kiepenheuer & Witsch, 2024. 350 S., Fr. 34.–).