Ein 19-Jähriger verletzt zwei Betreuerinnen schwer. Der Fall erschüttert selbst erfahrene Heimleiter. Brenzlige Situationen gehören jedoch zu ihrem Alltag.
Ein Messer, ein Gewaltausbruch und zwei schwerverletzte Betreuerinnen: Ein Vorfall im Landheim Brüttisellen in Bassersdorf erschüttert die Zürcher Jugendheime.
Am Montag vor einer Woche greift ein 19-jähriger Heimbewohner zu einem Messer und fügt einer Heimmitarbeiterin Schnitte im Gesicht zu. Als eine Kollegin der Angegriffenen zu Hilfe eilt, verletzt er auch sie, ebenfalls im Gesicht. Erst ein Praktikant kann den jungen Mann entwaffnen und in Schach halten, bis die Polizei eintrifft.
Dem Vorfall ging laut einer Mitteilung der Kantonspolizei ein Streit voraus. Der Angreifer – ein pakistanischer Staatsbürger – soll laut «20 Minuten» als unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender in die Schweiz gekommen sein und an einer Handysucht leiden. Das Heim selbst bestätigt diese Angaben mit Verweis auf die laufende Strafuntersuchung nicht.
Es ist der gravierendste Gewaltvorfall, der sich in den letzten zehn Jahren in einem Zürcher Jugendheim zugetragen hat. Das schreibt das kantonale Amt für Jugend und Berufsberatung (AJB) auf Anfrage. Brenzlige Situationen, das zeigen Gespräche mit Heimleitern, gehören jedoch zum Alltag.
Gewalt im Heim verhindern – das ist für Sozialpädagogen ein täglicher Kampf.
Die Normalität
Der Jugendliche steht vor Miro Rossi, schimpft, droht, kommt ihm näher und näher. «Er stand offensichtlich unter Suchtdruck, wollte vermutlich mit anderen Jugendlichen im Haus Drogen austauschen», so erzählt es Rossi im Rückblick. Es ist seine Aufgabe, das zu verhindern: Rossi – 42, Sozialpädagoge – ist Leiter des Jugendheims Burghof in Dielsdorf.
Seine Institution, so sagt er, sei für viele Jugendliche die letzte Chance, bevor sie in eine geschlossene Einrichtung oder ein Massnahmenzentrum des Jugendstrafvollzugs kämen. «Wir sind in der Regel nicht der erste Ort, an den man kommt.»
Rossi beschreibt einen Alltag, in dem Drohungen und Beschimpfungen häufig vorkommen. Schwere Gewalt aber kaum – sie zu verhindern, sei für ihn und seine Mitarbeitenden ein ständiger Kampf.
«Sicherheit gibt dir kein Securitas, sondern etwas anderes: die Beziehung zum Jugendlichen», sagt Rossi.
So wie im Fall des Jungen, der sich Drogen besorgen will. Ihn kennt Rossi noch nicht gut, aber die anderen Jugendlichen im Raum schon. Sie reden auf ihn ein und versuchen, Rossi zu unterstützen. Und so bricht der Jugendliche seinen Angriff ab, geht auf sein Zimmer – und schlägt dort alles kurz und klein.
Der Vorfall hat sich kürzlich ereignet, nur wenige Tage vor der Gewalttat von Bassersdorf. «Wir müssen mit solchen Situationen rechnen», sagt Rossi. «Meist können wir die Warnzeichen erkennen und deeskalieren. Aber es gibt Dinge, die man nie ganz verhindern kann. Der Vorfall in Bassersdorf geht uns allen sehr nahe.»
Die Ursache
Rolf Tobler hat nach dem Messerangriff eine schlaflose Nacht. 27 Jahre arbeitet er schon im Heimbereich, aber einen so brutalen Gewaltvorfall hat er noch nie erlebt. «Und doch wusste ich sofort: Das hätte auch bei uns passieren können.»
Tobler, 57, leitet das Gfellergut, ein Jugendheim in Zürich mit 53 Plätzen und mehreren Lehrbetrieben. Wenn Jugendliche drohten oder gar Gewalt anwendeten, habe das ganz bestimmte Ursachen, sagt er. «Meist reagieren sie so auf Situationen, die ihnen bedrohlich erscheinen.»
Eine solche Krise kann deshalb auch pädagogische Möglichkeiten eröffnen. Wird ein Jugendlicher übergriffig, bricht etwas in ihm auf. Mit der richtigen Unterstützung seien dann Selbstreflexion und eine Verhaltensänderung möglich, sagt Tobler.
«Aufmerksamkeit – zu spüren, dass wir sie nicht aufgeben – hat in diesem Moment eine wahnsinnige Wirkung.» Gerade deshalb ist es für die Heimmitarbeitenden eine schwierige Abwägung, wann sie sich in schwierigen Situationen zurückziehen. Und wann sie bleiben – mit dem Risiko, dass ihnen etwas passiert.
Die meisten Jugendlichen, das betont Tobler, bereiteten den Heimen dabei keine solchen Probleme. Die sehr schwierigen Fälle machten bei ihm weniger als zehn Prozent aus. Und auch einen Anstieg bei der Gewaltbereitschaft beobachtet er nicht. Gleich sieht es das kantonale AJB, das keine Zunahme von Gewaltvorfällen in Kinder- und Jugendheimen beobachtet. «Es ist eher die Sensibilität in der Öffentlichkeit, die zugenommen hat», sagt Tobler.
Was er allerdings ausmacht: einen Trend hin zu mehr Jugendlichen mit psychischen Problemen, oft gleich mehreren.
Das Problem
Es ist 33 Jahre her, dass Sandra Abderhalden den Jugendlichen mit dem Messer vor sich stehen sah. Vergessen hat sie den Moment nie.
«Ich war 20, arbeitete damals in der Kinder- und Jugendpsychiatrie», sagt Abderhalden. «Da stand er plötzlich vor mir, komplett desorientiert. In so einem Moment, da sieht man nur das Messer – und erstarrt.»
Abderhalden, heute 53, leitet den Bereich Wohnen und Ausbildung bei der Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime (ZKJ), dem mit Abstand grössten Anbieter von Heimplätzen im Kanton Zürich. Die Stiftung, zu der auch der Burghof und das Gfellergut gehören, hat rund 600 Plätze und 900 Mitarbeitende. Der Umgang mit Gewalt, sagt Abderhalden, sei überall ein brennendes Thema.
Nach dem Vorfall in Bassersdorf kam ihr sofort das Erlebnis mit dem Messer in den Sinn. Damals, in der Psychiatrie, habe sie ihre Erstarrung sofort überwunden und den desorientierten Jugendlichen angesprochen. «Ich konnte ihn dazu bringen, mir das Messer zu geben», sagt sie. «Aber es hätte auch anders kommen können.»
Das beste Rezept gegen Gewaltvorfälle ist für Abderhalden ein gesundes Heimwesen: genügend geschultes Personal, passende Plätze für Jugendliche mit unterschiedlichen Problemen, keine Überbelegung.
Doch genau das sieht sie auch in Gefahr. Seit Jahren warnen Zürcher Heime vor fehlenden Plätzen und einem Mangel an Fachkräften, besonders bei Angeboten für schwierige Jugendliche. «Der Versorgungsmangel besteht für beide Geschlechter akut», schrieb vergangene Woche auch die Zürcher Regierung in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage.
«Die fehlenden Plätze verschärfen auch das Risiko für Gewaltvorfälle», sagt Abderhalden. «Weil Jugendliche so öfter in Institutionen platziert werden, die nicht zu ihnen und ihren Bedürfnissen passen.»
Gewalt in Heimen: ein Amt im Blindflug
sgi. Das kantonale Amt für Jugend und Berufsberatung (AJB) hat zwar die Oberaufsicht über die Zürcher Kinder- und Jugendheime inne. Was die dortigen Gewaltvorfälle angeht, herrscht jedoch statistischer Blindflug.
Die Heime selbst müssen dem AJB sämtliche «besonderen Vorkommnisse» melden; dazu gehören auch alle Fälle, in denen Jugendliche gewalttätig oder straffällig werden. Nehmen die Fälle zu? Werden sie schwerer? Wie oft spielen psychische Erkrankungen eine Rolle? All das sollte das Amt beziffern können – wohlgemerkt als einzige Stelle in der zersplitterten Zürcher Heim- und Fürsorgelandschaft.
Doch das AJB hat keinen Überblick.
Die Meldungen würden einzeln bearbeitet und dann zu den Akten gelegt, schreibt das Amt auf Anfrage der NZZ. Eine statistische Auswertung werde nicht vorgenommen. Der Aufwand dafür wäre «erheblich», schreibt das Amt, «und unverhältnismässig im Vergleich zum öffentlichen Interesse».
Wie es trotzdem so felsenfest davon überzeugt sein kann, dass die Gewaltvorfälle in den letzten zehn Jahren nicht zugenommen haben, bleibt derweil sein Geheimnis.
Die Folgen
Der Angreifer von Bassersdorf wurde nach seiner Tat verhaftet. Die meisten Fälle von Gewalt und Drohung in Heimen bleiben jedoch unter der Schwelle des strafrechtlich Relevanten. Weil im Kanton Zürich mit einer Ausnahme alle Heime offene Anstalten sind, ist auch temporärer Arrest keine Option.
«Wir können niemanden einsperren», sagt Rolf Tobler. «Wir sind auf Kooperation angewiesen und weibeln ständig um die Mitarbeit der Jugendlichen.» Und auch Miro Rossi sagt: «Wir arbeiten nicht mit Macht.»
Mehr Repression und härtere Strafen: Das hätte bei ihren Klienten den gegenteiligen Effekt, sind beide überzeugt. Und doch fühlen sie sich mit schwierigen Fällen öfter alleingelassen. Eine kurzfristige Umplatzierung – ein sogenanntes Time-out – sei zum Beispiel kaum mehr möglich, weil der bürokratische Aufwand dafür so gross sei.
«Das System ist sehr träge», sagt Rossi. Und Sandra Abderhalden ergänzt: «Die bürokratischen Hürden, gerade bei Time-outs, sind hoch.»
Das AJB schreibt dazu auf Anfrage: «Kinder und Jugendliche im Rahmen eines Time-outs umzuplatzieren, stellt für sie einen bedeutenden Einschnitt dar und muss fachlich indiziert und mit den zuweisenden Stellen abgesprochen sein. Ist ein Time-out angezeigt und dringlich, kann die Umplatzierung unverzüglich umgesetzt werden.»
Der Einzelfall
Wie lange «unverzüglich» dauern kann, zeigt der Fall des Jugendlichen, der Rossi vergangene Woche angriff und danach sein Zimmer demolierte. Er wird von Mitarbeitenden und anderen Bewohnern gefürchtet, hält sich nicht an Regeln, konsumiert offensichtlich Drogen.
Im Heim ist er eigentlich nicht mehr tragbar – aber wohin soll er sonst?
Vom Areal wegweisen? Geht nicht, der Minderjährige wäre sonst auf der Strasse. Zurück zur Familie? Geht nicht, auch dort wurde er schon gewalttätig. In die Notschlafstelle? Geht nicht, sie ist voll. Kurzfristig in ein anderes Heim, für ein Time-out? Dafür brauchte es ein Okay der einweisenden Behörde, und das dauert seine Zeit.
Und so ist er auch eine Woche danach immer noch im Heim. Ausser seinem Wohnhaus darf er dort kein anderes Gebäude betreten. Erscheint er tagsüber nicht zur Arbeit im Lehrbetrieb, muss er das Areal verlassen. Wie es mit ihm weitergeht, ist unklar.