Der im Berliner Exil lebende russische Schriftsteller Viktor Jerofejew möchte kein Pessimist sein. Dennoch hält er es für ausgeschlossen, dass die Opposition in Russland an die Macht kommt. Im Interview äussert er sich zudem über die geringen Aussichten für eine demokratische Erneuerung.
Herr Jerofejew, haben Sie nach dem Tod Alexei Nawalnys neue Nachrichten aus Ihrer russischen Heimat?
Nawalnys toter Körper wird vor der Öffentlichkeit und den Angehörigen versteckt, und es gibt keine wirklich präzise Information aus Russland. Manche Anhänger Putins sagen, es sei ein «plötzlicher Tod» gewesen. Wir wissen, dass es so etwas nur bei Säuglingen gibt. Andere sagen, dass Nawalny an einer Thrombose gestorben sei. Das könnte man aber nur nach einer Obduktion sagen. Es ist also reine Mystifikation. Die Bedingungen im sibirischen Lager, wo Nawalny gefangen gehalten wurde, sind so katastrophal, dass es fast ein Wunder wäre, dort nicht zu sterben. Man könnte sagen: Es war ein langsamer, von langer Hand inszenierter Mord.
Will Putin mit der Ermordung Nawalnys Russland und der Welt ein Zeichen geben?
Nein, das ist kein Zeichen. Es ist nur ein Zeichen dafür, dass die Dinge wie üblich funktionieren. Die wahren Hintergründe werden, wie bei Jewgeni Prigoschin, verborgen bleiben, und die Welt zerbricht sich vollkommen sinnlos den Kopf darüber. Wir werden nie wissen, wie es wirklich war. Jetzt wissen wir nicht einmal, ob die Behörden Nawalnys sterbliche Überreste an die Familie übergeben werden.
Kann es einen Punkt geben, an dem sogar die russische Bevölkerung sagt, dass Putin zu weit gegangen ist?
Im Augenblick nicht. Auch die Trauer um Nawalny wird schnell wieder verfliegen. Bei meinem guten Freund, dem vor neun Jahren hinterrücks erschossenen Boris Nemzow, war das genauso. Putins Taten werden für ihn nicht zur politischen Gefahr werden. Die eigentliche Katastrophe und weltpolitische Tragödie ist: Nach dem Ende Putins wird Alexei Nawalny schmerzlich fehlen. Er wäre der ideale Präsident eines vollkommen neuen Russland gewesen. Nawalny war noch ein junger Mann, 47 Jahre alt. Er hätte Putin überleben können.
Wie war das Verhältnis zwischen Putin und Nawalny?
Putin hat Nawalny gehasst, wie nur ein Heide hassen kann, auf sehr vorchristliche Art. Als eine Art Abwehrzauber hat er seinen Namen nie ausgesprochen. Er hat sich vor diesem Gegner ganz enorm gefürchtet und auch aus der Distanz seine Rache gefürchtet. Nawalny und Putin haben sich gegenseitig gehasst, aber die Qualität dieses Hasses war sehr verschieden. Putin hat Nawalny gehasst, weil er symbolisch für das Gegenteil seiner ureigenen Wünsche stand. Nawalny hat Putin aus politischen Gründen gehasst. Er hasste seine Rolle als Diktator. Das sind sehr konkrete Gründe. Der Diktator Putin, der sein Alter gerne verstecken möchte, hat in Nawalny auch die Konkurrenz durch die junge Generation gehasst.
Die Liste der politischen Gegner, die Putin hat ermorden lassen, wird immer länger. Dann gibt es auch die vielen inhaftierten politischen Gegner. Kann man bei diesen Methoden als oppositioneller Russe noch Hoffnung haben?
Ich weiss nicht, ob ich optimistisch bin, aber ich habe vor einigen Jahren aufgehört, von Putins Grausamkeiten überrascht zu sein. Es ist stalinistischer Terror in Reinkultur. Descartes hat einmal gesagt: Wenn du überrascht bist, dann macht dich das schwach. Ich möchte nicht überrascht sein. Wir alle müssen stark bleiben.
Kann eine russische Opposition jemals an die Macht kommen?
Dazu fehlt uns eine entsprechende politische Kultur. Alles baut auf Gefühlen auf, und da wäre höchstens eine Art Wiedergänger von Chruschtschow gut. Es wäre auch keine Tragödie, wenn das Land in lauter Einzelstaaten zerfiele, obwohl ich nicht glaube, dass es so kommt.
Sie haben 2015 in einem Interview mit dieser Zeitung gesagt, dass auch Russland demokratisch werden wird, es sei nur eine Frage der Zeit. Das war offensichtlich sehr optimistisch.
Es ist immer leicht, Pessimist zu sein. Der Pessimist ist eine zutiefst russische Figur. Ihr fehlt jede Energie. Schriftsteller wie ich sollten sich im Denken von den sozialen Tragödien der Zeit emanzipieren. Als depressiver Autor kann man überhaupt nicht schreiben. Mein Roman «Der Grosse Gopnik» schaut von oben auf die Welt.
Der Roman beschreibt den Aufstieg eines Ganoven. «Gopnik» ist ein Wort für Rowdy, und dieser Gopnik ist Putin. Es ist ein surrealer Roman.
Als Schriftsteller muss man sich auch ganz hineinstürzen in die Dinge. Man muss in sie eindringen. Ein realistischer Roman würde einen Ausgang suchen. Das wäre langweilig und würde zur Wahrheitsfindung nichts beitragen. Ich habe die Realität neu erfunden und Russland als böses Märchen beschrieben. Der Gopnik ist ein kleiner Hooligan, der es bis zum Zaren gebracht hat.
Und ausserhalb des Romans, was ist die Wahrheit über Putin?
Die Macht Putins ist sehr schwach. Putin liebt es, zu hassen. Niemand verehrt Putin wirklich. Beim Interview, das der amerikanische Journalist Tucker Carlson kürzlich mit ihm geführt hat, hat sich gezeigt, dass Putins historische Erzählung vollkommener Unsinn ist. Er ist sehr schwach. Stalin war trotz allem ein vom Volk verehrter Diktator, Putin fehlt diese Grundlage.
Verliert er an politischem Rückhalt?
Ich würde sagen, dass selbst im Kreml fünfzig Prozent der Leute für seine Ablösung sind. Dazu kommt: In Russland ist jeder bereit für Putins Tod. Niemand wird, wie bei Stalins Tod, um ihn weinen. Und es gibt auch in den russischen Machtzentren einige, die meinen, dass das Land in den Kreis der zivilisierten Staaten zurückkehren sollte. Nach Putin wird es keinen neuen Diktator geben, es stehen jede Menge kleine Chruschtschows bereit. Nicht nur in Moskau.
Haben Sie Putin öfter getroffen?
Ja, aber ich habe beschlossen, nur noch über ein Zusammentreffen zu reden. Im Élysée-Palast bei Präsident Jacques Chirac. Er stand vor lauter Kulturmenschen und wusste nicht, wohin mit sich, mit seinen Händen. Er wollte auf trotzige Art von mir wissen, warum ich nicht russisch, sondern französisch spreche.
«Der Grosse Gopnik» entwickelt eine umfassende Metapher für Russland und beschreibt den Kampf zwischen Kultur und Macht. Die eine Hauptfigur ist unverkennbar Viktor Jerofejew, die andere ist Gopnik, eine Art Hooligan. Er hat die Züge Putins.
Das Entscheidende bei diesem Zusammenprall von Kultur und Macht ist: Beide sind sehr einsam.
Erzeugt das eine die Einsamkeit des anderen?
Bis zu einem Punkt, ja. Das ist die Bestimmung Russlands. Es hat diese Tänze immer gegeben. Solschenizyn hat den Tango der Gegensätze mit Stalin getanzt, Pasternak mit Chruschtschow.
Kann am Ende einer als Sieger die Tanzfläche verlassen?
Eigentlich nicht. Wir haben nicht einmal eine Vorstellung davon, was eine Demokratie in unserem Land sein könnte. Was es vielleicht geben könnte: ein bisschen mehr Freiheit. Demokratie ist eine sehr spezielle westliche Struktur, die auch nicht in einem Tag errichtet wurde. Wir hatten in Russland nie eine Demokratie. Und es gab nur zwei Mal in der Geschichte die Chance auf eine Demokratie. Zwischen Februar und Oktober 1917 und vielleicht in den Gorbatschow-Jahren 1988 und 1989.
Ihr persönliches Leben war schon früh auf sehr intime Art mit der Politik verbunden. Ihr Vater war einer der Dolmetscher Stalins und Assistent von Aussenminister Molotow. Haben Sie als Kind Stalin persönlich kennengelernt?
Ich glaube schon, kann mich aber nicht konkret erinnern. Meine erste tatsächliche Erinnerung: Stalin und Lenin waren die ersten Toten, die ich gesehen habe. Im Mausoleum in Moskau. Gleich als Stalin und Lenin öffentlich aufgebahrt wurden, bin ich mit meinem Vater dort hingegangen. Beide lagen in einem Bett. Seltsam intim. Ein grosser Schock. Alles war in Rot, aber die Leichen waren ganz gelb.
Als Dreizehnjähriger haben Sie sich mit Stalins vormals engem Vertrautem Wjatscheslaw Molotow angefreundet. Wie kam das?
Der Garten unseres Hauses war neben dem von Molotow. Gemeinsam haben er und ich um neun Uhr abends die Nachrichten bei Voice of America gehört. Molotow war in den fünfziger Jahren in Ungnade gefallen und sehr einsam. Niemand wollte mit dem unverbesserlichen Stalinisten zu tun haben. Es gehört zu meinen ersten dissidenten Taten, ausgerechnet mit diesem Mann den Feindsender gehört zu haben. Er war kein Dämon, er war nur ein alter Mann. Er war ein Nichts, hatte aber noch die Luxus-Dienstlimousine aus den früheren Molotow-Werken. Molotows sehr hübsche Frau hat sich immer darüber beklagt, dass das Viertel, in dem wir wohnten, so heruntergekommen war. Sie hat immer gesagt: Unter Stalin hätte es das nicht gegeben!
Ist nicht in einem Ihrer Bücher sogar vom «magischen Totalitarismus» die Rede?
Ja, es war alles sehr surreal. Mein Vater, damals russischer Kulturattaché in Paris, war mit Picasso befreundet. Er hat Picasso säckeweise Geld nach Südfrankreich gebracht. Offiziell, weil er Kunst kaufen wollte. Inoffiziell wurde das Geld vom Kommunisten Picasso für revolutionäre Zwecke in aller Welt weitergegeben. Man muss für diese Phase des Kommunismus etwas Paradoxes sagen: Es gab eine Idee von kollektiver Zukunft. Heute gibt es nicht einmal mehr im Westen eine Idee von kollektiver Zukunft.
Sie haben gleich nach Beginn des Ukraine-Krieges Russland verlassen, im März 2022. Über Finnland, das Baltikum und Polen sind Sie im Auto nach Deutschland gekommen. Werden Sie Moskau jemals wiedersehen?
Ich würde sagen, nein. Es ist zu gefährlich. Meine achtzehnjährige Tochter ist noch dort, meine Putzfrau und unser Papagei Shiva. Es geht ihm gut, wir sehen uns über Zoom. Er ist kein Freund Putins. Den Namen Putin spricht er nicht aus. Vor einiger Zeit war er für die liberale Kandidatin Irina Chakamada, zumindest hat er das so gesagt. Er ist sehr klug. Auf Französisch sagt er oft: «Je suis une boule de neige. Ich bin ein Schneeball.» In Zeiten wie diesen wäre es wohl am besten, ein Papagei zu sein.
Wichtige kritische Stimme aus Russland
Jdl. · In seinem neuen Roman «Der Grosse Gopnik» (Verlag Matthes & Seitz, Berlin) hat der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew ein surreal-düsteres Bild seiner Heimat gezeichnet. Es geht darin um einen Emporkömmling, der es bis zum Diktator bringt. Im Porträtierten ist deutlich Wladimir Putin erkennbar. Der Roman erzählt aber auch die Geschichte Viktor Jerofejews. Geboren 1947 in Moskau als Sohn eines Mitarbeiters Stalins, bringt sich der Schriftsteller 1979 durch seine Mitarbeit am dissidenten Literaturalmanach «Metropol» erstmals in Gefahr. Es folgen Jahre des Publikationsverbots. Durch Bücher wie «Der gute Stalin», «Russische Apokalypse» und «Die Akimuden» international bekannt geworden, zählt er heute politisch zu den wichtigen kritischen Stimmen aus Russland. Bei Beginn des Ukraine-Kriegs 2022 ist Viktor Jerofejew mit seiner Familie nach Deutschland geflohen.