Werweissen im Restaurant Zum Äusseren Stand in Bern. Und darüber hinaus.
Es ist ein undankbarer Sonntag für Martina Bircher. Am Morgen musste die Nationalrätin aus dem Kanton Aargau im Abstimmungsbüro ihrer Gemeinde arbeiten, jetzt muss sie eine Niederlage erklären, die ihre Partei, die SVP, noch lange beschäftigen könnte.
Als sie im Restaurant Zum Äusseren Stand in Bern ankommt, ist das Ausmass längst bekannt. Nur 32,9 Prozent der Stimmberechtigten sind einer breiten Ja-Allianz von Grünliberalen bis SVP gefolgt, die die berufliche Vorsorge reformieren wollte. Das sind weniger als die Hälfte der eigenen Leute – bei den eidgenössischen Wahlen im vergangenen Jahr kamen die gleichen Parteien auf einen Wähleranteil von 67 Prozent.
In der SVP dürften sich besonders viele der eigenen Parteiparole widersetzt haben – das hat eine Umfrage von GfS Bern schon vor der Abstimmung gezeigt. So wie auch im Februar, bei der Abstimmung über die 13. AHV-Rente.
Martina Bircher steht hinten im Saal, wo Häppchen und Getränke aufgereiht sind – für einen Apéro, an dem es nichts zu feiern gibt. Sie trinkt ein Glas Wasser. Und sie sagt, sie sei nicht überrascht über das Resultat. Bircher befindet sich im Wahlkampf, im Oktober will sie in die Aargauer Regierung. Deshalb sei sie viel unterwegs an der Basis, und da habe sie festgestellt: «Ich war immer sofort schachmatt mit meinen Argumenten.» Fast alle hätten ihr den Spruch der Gewerkschaften entgegengehalten: Wieso mehr einbezahlen, wenn man dafür weniger Rente bekommt? «Auch wenn das nicht gestimmt hat.» Einen ähnlichen Reflex habe die Basis schon bei der 13. AHV-Rente geäussert: «Jetzt schauen wir für uns.»
Marcel Dettling, der Präsident der SVP, sollte es am Abend in der Elefantenrunde von SRF so formulieren: «Wir sind nicht durchgedrungen an der Basis. Unsere Leute haben gesagt: ‹Für alles andere habt ihr Geld, und jetzt sollen wir mehr Beiträge bezahlen?›»
Wie sind diese Signale zu interpretieren: Wird die SVP zu einer rechten Partei mit einer linken Sozialpolitik?
Blochers Erbe
Christoph Blocher hat die SVP in seiner Zeit sehr konservativ, aber auch sehr wirtschaftsliberal ausgerichtet – auf sich selbst. Es wäre fast logischer gewesen, wenn er als junger Mann nicht in die SVP, sondern in die FDP eingetreten wäre. Denn die SVP war eine Partei von Bauern und Kleingewerblern. Erst mit dem Exportunternehmer Blocher wurde sie entschieden wirtschaftsliberal. Blocher, der Protestant, predigte seinen Leuten den Verzicht: auf zu viel staatliche Leistungen, auf finanzpolitische Versuchungen. Er konnte sich kraft seiner Autorität durchsetzen – und sozialpolitische Widersprüche überwinden, die es immer gab zwischen dem Arbeitgeber- und dem Arbeitnehmerflügel in der Partei.
In diesem Februar, an seiner Albisgütli-Tagung, musste er aber feststellen, wie empfänglich seine Leute waren für den Gastreferenten, den Gewerkschaftspräsidenten Pierre-Yves Maillard, und dessen Argumente für eine 13. AHV-Rente.
An der SVP-Basis hat sich etwas verändert, wie viele in der Partei erzählen: Die Leute sähen, dass viele Zuwanderer in die Schweiz kämen, die im Gegensatz zu ihnen sehr schnell von staatlichen Leistungen – im Jargon: «kostenloser Rundumservice» – profitieren könnten. Das führe dazu, dass man diese Zuwanderung nicht mehr wolle und gleichzeitig die eigenen staatlichen Leistungen zu sichern versuche.
An der Delegiertenversammlung der SVP im August hat der Nationalrat Jean-Luc Addor gesagt, man dürfe es nicht den Gewerkschaften allein überlassen, für die kleinen Leute auf der Strasse zu argumentieren. Er klang wie der Abgeordnete einer Rechts-links-Partei. In der Debatte sprachen sich dann mehrere Delegierte gegen das «BVG-Reförmchen» aus. Um die Stimmung zu kehren, mussten ranghohe SVP-Politiker ans Mikrofon: Fraktionschef Aeschi, Bundesrat Rösti. Parteipräsident Dettling sagte am Rand der Versammlung, er wolle die neuen sozialpolitischen Töne nicht überbewerten. «Wir sind eine Volkspartei, da gibt es allerhand Positionen. Wichtig ist, dass in unseren wichtigsten Themen niemand abweicht.» Am Ende verweigerten sich 23 Prozent der Delegierten der offiziellen Ja-Parole.
In der Abstimmung am Sonntag dürften es noch viel mehr gewesen sein. Die Nachwahlbefragung wird es zeigen.
You gotta hold on
Die neuen Bedürfnisse der Basis könnten die Partei auch künftig beschäftigen – bereits gibt es Unruhe und Uneinigkeit wegen der Abstimmung über die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen im Gesundheitswesen (Efas).
Martina Bircher fände es (wie auch die massgeblichen Kräfte in der Parteileitung) falsch, wenn die SVP ihren sozialpolitischen Kurs ändern würde. Man stehe für eine langfristig gesicherte Altersvorsorge, und es sei nun einmal so, dass wir immer älter würden und es deshalb nur drei Optionen gebe: länger arbeiten, mehr einzahlen oder die Renten senken. Alles andere, sagt sie, sei nicht ehrlich. «Wir müssen als SVP aufpassen, dass wir nicht populistisch werden.»
Dafür will sie weiterhin kämpfen – auch wenn es an der eigenen Basis nicht alle gleich sehen. Martina Bircher und auch die Thurgauer SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr hätten sich stark für die Ja-Kampagne engagiert, heisst es an diesem Sonntag in Bern, zudem habe die SVP viel plakatiert. Das Resultat ist am Ende so klar, dass es nicht die SVP-Basis allein gewesen sein kann.
Der Radiosender im «Äusseren Stand» empfiehlt: «You gotta hold on». So klingt es, während die Bürgerlichen oben ihre Niederlage erklären, aus den Musikboxen unten im leeren Restaurant. Du musst durchhalten.