Die grossen Sieger vom Sonntag sind die Gewerkschaften und die Bauern. Was die grossen Wirtschaftsverbände und das bürgerliche Lager von ihnen lernen können. Und was nicht.
Viele haben mit einer Niederlage gerechnet, aber nicht mit einer dieses Ausmasses. Die Wirtschaft und die Parteien des gesamten Mitte-rechts-Lagers haben am Sonntag ein Fiasko erlebt. 67 Prozent der Stimmenden haben die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) abgelehnt. Drei Jahre lang hatte das Parlament daran laboriert, am Ende stand eine unerwartet breite Allianz von der SVP bis zur GLP dahinter. Und nun das. Wie ist dieses Debakel zu erklären?
Die Kampagnenfähigkeit
Die Niederlage war derart deutlich, dass sie sich auch mit der besten Kampagne der Welt kaum hätte verhindern lassen. Aber es geht auch um das Ausmass. Die politischen Folgen wären kleiner, wäre das Verdikt nicht so krass ausgefallen. Die Pro-Kampagne erhält relativ gute Noten, die nationalen Politgrössen haben sich stärker engagiert als im Kampf um die 13. AHV-Rente im März. Und doch ist es nicht gelungen, den Absturz abzuwenden. Die Abstimmung offenbart Schwächen in der Kampagnenfähigkeit der Wirtschaftsverbände und der bürgerlichen Parteien.
Vielleicht können die Bauern helfen. Nicht nur die Gewerkschaften konnten am Sonntag jubeln, bei der Abstimmung über die Biodiversität hat auch der Schweizer Bauernverband (SBV) einen weiteren Triumph eingefahren. «Es braucht Weitsicht, Herzblut und Engagement», sagt der SBV-Direktor Martin Rufer. Er betont, die BVG-Vorlage sei inhaltlich sehr schwierig gewesen und er wolle niemandem Ratschläge erteilen.
Aber aus der reichen Erfahrung des SBV zieht er vor allem einen Schluss: Eine gute Kampagne braucht ein starkes Fundament und viel Vorlauf. Drei Monate vor einer Abstimmung damit anzufangen, genüge nicht. Sein Verband arbeitet mit permanenten Imagekampagnen («Schweizer Bäuerinnen & Bauern. Für dich») und Marketingaktivitäten von Messeauftritten bis Angeboten für Schulen.
«Ohne einen solchen Teppich, auf dem man aufbauen kann, hat es die beste Abstimmungskampagne schwer», sagt Rufer. Er empfiehlt, die Kommunikation finanziell und personell auszubauen und strategisch auszurichten. Wichtig sei, frühzeitig festzulegen, welche Anliegen prioritär seien. «Man muss sich heute den Themen widmen, die in einem Jahr zur Abstimmung kommen.»
Auch die eigentlichen Abstimmungskampagnen müssen laut Rufer früh einsetzen. «Es geht darum, eine Welle aufzubauen.» Als gutes Beispiel erwähnt er die Kampagne des Gewerbeverbands für die Abstimmung über den Ausbau der Autobahnen im November, die erfreulich frühzeitig begonnen habe.
Frei übersetzt: Im Gegensatz zu den Bauern, für die Politik schon immer existenziell wichtig war, müssen die grossen Wirtschaftsverbände erst noch lernen, dass sie mehr tun müssen als früher, um Debatten in ihrem Sinn zu beeinflussen.
Die (Un-)Einigkeit
Man vergisst es gern, aber «die» bürgerliche Mehrheit gibt es nicht. Während SP, Grüne und Gewerkschaften in praktisch allen Fragen dieselben Positionen vertreten, gibt es bei SVP, FDP und Mitte von der Europapolitik bis zu Steuerfragen zahlreiche Differenzen, und auch Economiesuisse und die Bauern haben das Heu nicht immer auf derselben Bühne. Die grossen Verbände können zwar seit einiger Zeit wieder besser zusammenarbeiten, so haben sich etwa die Bauern trotz grosser Skepsis gegenüber der BVG-Vorlage im Abstimmungskampf zurückgehalten. Hingegen sind mehrere kleinere Verbände, angeführt von den Wirten, ausgeschert und haben die Vorlage angegriffen.
Bei den Parteien geht die Entwicklung ohnehin in die andere Richtung. Die Übereinstimmungen nehmen ab, die parteipolitische Verengung schreitet voran – sogar das Zentrum will ein Pol sein. Nach der SVP setzen auch FDP und Mitte vermehrt auf Parteipolitik. Das «bürgerliche Päckli» war einmal. Um sich zu profilieren, müssen sich die Parteien abgrenzen und das Trennende betonen. Das verunmöglicht eine enge, strategische Zusammenarbeit, wie die Linke sie meisterhaft beherrscht.
Die Köpfe
Auf der Seite der Wirtschaft fehlt bis anhin ein starkes Gegengewicht zu Pierre-Yves Maillard, dem Präsidenten des Gewerkschaftsbunds. Unter ihm gelingt es der Linken plötzlich, auch Wähler bürgerlicher Parteien – allen voran der SVP – anzusprechen.
Auch Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider war keine grosse Hilfe. Die Sozialdemokratin agierte kollegial, aber ohne Überzeugungskraft. Man kann ihr attestieren, dass sie eine Vorlage vertreten musste, die nicht vom Bundesrat, sondern von der bürgerlichen Mehrheit geprägt war. Trotzdem monieren Kritiker, sie hätte es besser schaffen müssen, den Reformbedarf und die Vorlage zu erklären.
Der Zahlensalat
Die Mischung war toxisch: In der BVG-Debatte stiess eine komplexe Vorlage mit vielen Unbekannten auf eine Gegnerschaft, die hemmungslos verunsichert, in die Irre führt und mit falschen Zahlen hantiert. In einem System wie der beruflichen Vorsorge sind nie allgemeingültige Aussagen möglich, schon gar nicht über Jahrzehnte hinweg. Umso einfacher war es, die Reform anzugreifen. Im Zweifel sagt die Mehrheit Nein.
Dann war da noch die spektakuläre Zahlenpanne bei der AHV. Just vor der heissen Phase des Abstimmungskampfs gab der Bund bekannt, dass er sich bei den AHV-Prognosen vertan hatte. Das hatte zwar nicht einmal ansatzweise etwas mit der BVG-Reform zu tun, was die Gewerkschaften aber nicht daran hinderte, den Fehler auszuschlachten, um weitere Unsicherheit zu schüren. Dem Departement Baume-Schneider ist es nicht gelungen, Klarheit zu schaffen.
Die Vorlage
Im Nachhinein ist man klüger. Offensichtlich bot die Vorlage zu viele Angriffsflächen. Das zeigt sich an Zahl und Vielfalt der Gegner: Für die Linke gingen die finanziellen Kompensationen zu wenig weit, für einige Tieflohnbranchen gingen sie hingegen viel zu weit, und ein Grossteil der Fachwelt war primär aus technischen Gründen dagegen.
Die Bürgerlichen wollten eine Vorlage zimmern, die von der Linken nicht glaubwürdig angegriffen werden kann, weil sie Rentenzuschläge für Ältere und Fortschritte für Frauen verspricht. Das ging schief. Was wäre die Alternative? Es war der dritte Versuch einer BVG-Reform: 2010 ist eine Mitte-rechts-Vorlage ohne Kompensationen gescheitert. 2017 ist eine Mitte-links-Vorlage mit Kompensationen in der AHV gescheitert. Nun ist eine Mitte-rechts-Vorlage mit Kompensationen im BVG-System gescheitert. Jetzt ist wohl vorerst Pause.
Das Thema
Auch wenn Sozialdemokraten und Gewerkschafter nun frohlocken: Die Schweiz erlebt keine linke Zeitenwende. Zweifellos historisch war das Ja zur 13. AHV-Rente im März. Ob aber das Nein zur BVG-Vorlage als Ja zu mehr Umverteilung zu verstehen ist? Möglich ist auch das Gegenteil. Und man sollte nicht vergessen, dass das Volk im Juni eine eindeutige Umverteilungsvorlage – die SP-Initiative zu den Prämienverbilligungen – verworfen hat.
Die Linke marschiert nicht durch, sondern profitiert von einer tief verwurzelten Skepsis der Bevölkerung gegenüber Reformen in drei Bereichen: Renten, Steuern und Gesundheit. Der Rückblick auf die Referenden der jüngeren Vergangenheit bestätigt die Diagnose: Die grössten Schlappen haben Bundesrat und Parlament oft dann kassiert, wenn es um Altersvorsorge, (Firmen-)Steuern oder Krankenversicherung ging.
Die Sammlung eidgenössischer Scherbenhaufen reicht von den ersten Versuchen zur Einführung der Mehrwertsteuer in den 1970er Jahren über das Steuerpaket 2004 bis zur Reform der Stempelabgaben 2022, von der Aufhebung der IV-Viertelrenten 1999 bis zur 11. AHV-Revision 2004, von einer Mietrechtsreform 2004 bis zur KVG-Reform für Managed Care 2012. Nicht zu vergessen: die gescheiterten BVG-Vorlagen. In all diesen Fällen lag die Zustimmung zwischen 24 und 37 Prozent.
Wenn es eine tektonisch-zeitgeistige Verschiebung gegeben hat, dann äussert sie sich bei anderen Themen, bei denen es mehr um ideologische als um materielle Werte geht. Beispiele sind die äusserst knappen Abstimmungen zur Initiative für Konzernverantwortung, zu den neuen Kampfjets oder zum Freihandelsabkommen mit Indonesien.
Wie geht das weiter?
Am 24. November folgt das nächste Kräftemessen: Das Volk entscheidet über mehrere Nationalstrassenprojekte, zwei Mietrechtsvorlagen und die einheitliche Finanzierung der Gesundheitsleistungen. Dass die Linke erneut jubeln kann, ist gut denkbar.
Man kann es auch so sehen: Wenn die Vorlagen zum Thema Gesundheit und Mietrecht eine Mehrheit finden würden, müsste man – gemessen an früheren Volksabstimmungen – fast schon von einer bürgerlichen Zeitenwende sprechen.