Montag, September 30

Die Hungerkatastrophe während der Sowjetzeit hat Millionen von Menschen getötet. Die grosse Kammer sendet ein Zeichen gegen das Vergessen an die Ukraine aus. Was bewirkt das?

Zwischen 1932 und 1933 erlitt die ukrainische Bevölkerung eine Katastrophe, die als Holodomor in die Geschichte einging: «Tötung durch Hunger». Die Sowjets vertrieben unter Josef Stalin die Bauern von ihren Feldern und beschlagnahmten die Lebensmittel der Bevölkerung. Sechs bis acht Millionen Menschen verhungerten damals auf den Strassen, Bahndämme waren mit Leichen übersät. Nicht nur Ukrainer, auch Kasachen und Russen verloren ihr Leben.

Trotz dem Ausmass der Katastrophe ist der Holodomor vielen Europäern kein Begriff, darüber zu sprechen, war in der Sowjetunion tabu. Erst in den 1990er Jahren wurden die Archive für Historiker geöffnet. Der russische Präsident Wladimir Putin untersagt die Erinnerung in den besetzten ukrainischen Gebieten bis heute. Die ukrainische Regierung dagegen engagiert sich dafür, dass der Holodomor als Genozid anerkannt wird.

Der Nationalrat hat das nun getan. Er hat am Dienstag mit 123 zu 58 Stimmen bei 7 Enthaltungen eine Erklärung beschlossen, welche den Holodomor als einen Akt von Völkermord anerkennt. Dabei handelt es sich vor allem um eine symbolische Geste in Richtung der Ukraine. «Der russische Angriff ist jetzt zweieinhalb Jahre her», sagte die grüne Nationalrätin Christine Badertscher. Mit dieser Erklärung sende die grosse Kammer ein Signal für Gerechtigkeit und gegen das Vergessen aus. «Es ist ein wichtiges Zeichen an die Ukrainerinnen und Ukrainer, dass wir sie weiterhin unterstützen.»

Die Nein-Stimmen stammten alle von der SVP. Nationalrätin Monika Rüegger forderte den Nationalrat auf, sich nicht «instrumentalisieren» zu lassen. Zwar anerkenne auch sie, dass Stalin «die schrecklichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit» verübt hat, auch eine «gezielt herbeigeführte Hungersnot». Doch die Bewertung eines Genozids obliege internationalen Gerichten und Instanzen. In einer Zeit, in der Machtpolitik den Ton angebe, solle die Schweiz sich nicht einem Block anschliessen, sondern die Neutralität wahren.

Die ukrainische Botschafterin Irina Wenediktowa verfolgte die Debatte im Bundeshaus. Sie ist erleichtert über den Entscheid des Nationalrats. «Diese Erklärung ist für uns nicht nur eine Frage der historischen Gerechtigkeit, sondern auch ein Schritt, um künftigen Verbrechen gegen die Menschlichkeit entgegenzuwirken», schrieb sie. Die Ukraine erhofft sich, dass durch die Anerkennung des Holodomors als Akt von Völkermord «die historische Wahrheit gewahrt und das Gedenken an die Millionen unschuldiger Opfer geehrt wird».

«Empört» zeigte sich dagegen die russische Botschaft. Sie nennt die Bezeichnung der Hungerkatastrophe als «Holodomor» einen «ideologischen Mythos», der von «russophoben Kreisen» erfunden worden sei. Der Nationalrat setze die «grob pervertierte Interpretation der vergangenen Ereignisse als ‹historische Waffe› im hybriden Krieg des Westens» gegen Russland ein.

Verbrechen aller Verbrechen

Seit Februar 2022 haben mehrere Länder Erklärungen zum Holodomor veröffentlicht, unter anderem der Deutsche Bundestag. Der Genozid gilt als Verbrechen aller Verbrechen. Die Völkermord-Konvention der Uno von 1948 definiert ihn als «Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören».

Juristisch hat der Entscheid des Nationalrats wohl keine Folgen, wie Lorenz Langer, Assistenzprofessor für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Zürich, auf Anfrage sagt. Zwar wäre es laut Langer möglich, dass Schweizer Gerichte die Erklärung künftig beim Tatbestand der Leugnung eines Völkermordes berücksichtigen; dieser wird unter anderem von der Antirassismusstrafnorm erfasst.

Allerdings könnte ein solches Urteil vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gebracht werden. Langer erinnert in diesem Zusammenhang an den Fall Perincek. Im Ersten Weltkrieg wurden Hunderttausende armenische Christen im Osmanischen Reich verfolgt und getötet. Im Dezember 2003 anerkannte der Nationalrat die Greueltaten als Völkermord. Die bilateralen Beziehungen mit der Türkei waren danach angespannt.

Aufgrund dieser Erklärung verurteilte die Waadtländer Justiz im Jahr 2007 den türkischen Nationalisten Dogu Perincek. Dieser hatte bei öffentlichen Auftritten gesagt, es handle sich bei den Greueltaten am armenischen Volk nicht um einen Genozid. Das Bundesgericht bestätigte das Urteil, doch später wurde es vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beanstandet. Es verletze die Meinungsäusserungsfreiheit von Perincek. Das Bundesgericht hob dessen Verurteilung wieder auf. «Ähnliche Fälle wären auch im Fall des Holodomors denkbar», sagt Langer.

Reflex zum Völkermord-Vorwurf?

Anders ist das beim Holocaust. Dessen Leugnung wird vom EGMR bekanntlich nicht als zulässig eingestuft. Zwar wurden die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verübt, bevor die Uno-Genozid-Konvention 1949 in Kraft trat. Und die Konvention darf nicht rückwirkend auf die Vergangenheit angewendet werden. Doch kam in Nürnberg der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Darunter fällt auch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik.

«Der EGMR hat betont, dass damit sowohl die Faktenlage wie auch die rechtliche Qualifikation durch ein internationales Gericht bestätigt wurde», so der Völkerrechtsexperte Langer. Dazu kommt ein weiterer Aspekt: Länder, welche die Konvention unterschrieben haben, sind verpflichtet, Genozide in der Zukunft zu verhindern. Die Leugnung des Holocausts könne daher als Propaganda für einen weiteren Völkermord interpretiert werden, so Langer.

Mit dem Begriff Genozid kann jedoch auch «Missbrauch» betrieben werden. Das zeigt das Beispiel Russlands. Präsident Wladimir Putin hat seinen «Spezialeinsatz», wie er den Angriffskrieg gegen die Ukraine nennt, auch mit Völkermord begründet. So behauptete er wiederholt, die ukrainische Regierung verübe einen Genozid an Russen. Die Ukraine wiederum reagierte darauf mit einer kreativen Gegenklage. Russland verletze die Genozid-Konvention, indem es einen Angriffskrieg mit einem falschen Völkermord-Argument führe, argumentierte die Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH). «Die internationale Gemeinschaft hat die Völkermord-Konvention angenommen, um zu schützen; Russland beruft sich auf die Völkermord-Konvention, um zu zerstören.» Bis das Urteil vorliegt, hat der IGH Russland verpflichtet, Handlungen zu verhindern, die unter die Völkermord-Konvention fallen könnten. Putin ignoriert die Aufforderung.

Hängig ist auch eine Klage gegen Israel. Südafrika hat das Land bezichtigt, einen Genozid in Gaza zu verüben. Israel wies den Vorwurf zurück. Auch gegen Israel hat der IGH vorsorgliche Massnahmen verhängt. Ebenfalls hängig ist eine Klage von Nicaragua gegen Deutschland. Dem Land wird Beihilfe zum Genozid an den Palästinensern vorgeworfen. Hier hat der IGH vorsorgliche Massnahmen abgelehnt.

Die Prozesse werden Jahre dauern. Die Verfahren sind komplex, die Schwelle für ein Urteil ist hoch. Dies unter anderem, weil es schwierig ist, einer Nation die Absicht einer Volkszerstörung zu beweisen. Dennoch beobachten Völkerrechtsexperten eine zunehmende Anzahl von Genozid-Klagen, Langer spricht von einem «problematischen Reflex». Zwar erreicht man mit dem Völkermord-Vorwurf maximale öffentliche Aufmerksamkeit. Doch wird ein Land vom spezifischen Vorwurf des Genozids freigesprochen, lenkt das häufig von anderen, ebenso grausamen mutmasslichen Kriegsverbrechen ab.

Exit mobile version