Ein Los Angeles der Täuschungen, verstörend-gefährlicher Social-Media-Missbrauch und ein Detektivroman ohne Tote: die spannendsten Bücher für diesen Herbst.
Mit Likes und Views drücken Millionen von Followern auf den Social-Media-Plattformen ihr häufig flüchtiges Interesse aus – ohne einen Gedanken daran, dass sie damit Kriminellen in die Hände spielen könnten. Denn nicht nur Normalos und Influencerinnen, sondern auch die Politik und allerlei zwielichtige Figuren nutzen, benutzen oder missbrauchen die Netzwerke für ihre Zwecke. Davon handelt dieser an Spannung kaum zu überbietende Krimi. Als die 16-jährige Lena Palmer spurlos verschwindet, wird aus der rechten Ecke ein absolut verstörendes Video hochgeladen, das die Vergewaltigung Lenas durch drei schwarze Flüchtlinge zeigt. Eine Gruppierung, die sich «Aktiver Heimatschutz» nennt, hetzt gegen die nun unter Generalverdacht stehenden, potenziell kriminellen Ausländer und ruft zur Selbstjustiz auf.
Die alleinerziehende Berliner Kommissarin Yasira Saad hat sich schon fast daran gewöhnt, beim Bundeskriminalamt die Rolle der Alibi-Ausländerin zu spielen. Nun geht ihr der brutale Missbrauchsfall besonders nahe – ihre eigene Tochter ist im selben Alter wie das Opfer. Ein neues Video und eine Demonstration auf dem Alexanderplatz führen zu einer Eskalation, deren Folgen unabsehbar sind. Ob Lena überhaupt noch lebt, ist ungewiss.
«Views» erweist sich als Zeitgeist-Bestseller der Stunde, das Buch erscheint bereits in dritter Auflage. Der Aufschwung der Rechten, aber auch jener des BSW lag bereits bei der Erstauflage in der Luft und wurde in den Landtagswahlen bestätigt. Die Social-Media-Plattformen nehmen in der Politik hüben wie drüben eine beunruhigende Schlüsselrolle ein. Marc-Uwe Kling gelingt das Kunststück, den schockierenden Passagen mit Yasira Saad eine Figur gegenüberzustellen, deren selbstironische Erkenntnisse bei der Leserschaft den Glauben an die Menschheit zumindest ein Stück weit wiederherstellen.
Von Jürg Zbinden
«Views» von Marc-Uwe Kling
Ullstein 2024. 269 Seiten, um 29 Franken, E-Book 17 Franken.
Wo Rauch sei, sei auch Feuer, heisst es. Und so ist es auch im neuen Roman der isländischen Bestsellerautorin Yrsa Sigurdardottir. Eine fünfköpfige Freundesgruppe reist aus einem traurigen Grund auf eine der Westmännerinseln vor Islands Südküste – um einer verstorbenen Freundin die letzte Ehre zu erweisen. Als sie in deren Haus einen schrecklichen Fund machen, wollen sie nur noch eines: so schnell wie möglich weg. Weg von den Erinnerungen an eine Freundin, die nach einer ausgelassenen Party mit Alkohol und Drogen vor Jahren spurlos verschwand, und von einer totgeschwiegenen Schuld. Sigurdardottirs Kapitel enden jeweils mit raffiniert gesetzten Cliffhangern, die es einem unmöglich machen, das Buch vor dem Ende aus der Hand zu legen.
Von Jürg Zbinden
«Rauch» von Yrsa Sigurdardottir
Übersetzt von T. Flecken und A. Wolff. BTB 2024. 396 Seiten, um 26 Franken, E-Book 22 Franken.
Für beide ist es eine Art Neuanfang: Renée Ballard, die surfende Polizistin, die lange in ihrem Van lebte und desillusioniert kündigte. Und den mürrischen Mordermittler im Ruhestand Harry Bosch. Das ungleiche Gespann kehrt zur Polizei von Los Angeles zurück, um Cold Cases aufzuklären. Bosch will einen Fall lösen, der ihn seit Jahren verfolgt: die Ermordung einer Familie in der Wüste.
Wie so oft bei Michael Connelly, dem Raymond Chandler der Gegenwart, erleben wir ein Los Angeles der Täuschungen, polizeilicher Schlamperei und des politischen Opportunismus. Die beiden schlagen sich durch, indem sie es mit den Regeln nicht zu genau nehmen. Doch diesmal müsste Ballard sich an die Vorschriften halten, und Bosch geht zu weit. Er hat nichts mehr zu verlieren. Denkt er. Doch man weiss eben nie.
Von Alain Zucker
«Wüstenstern» von Michael Connelly
Übersetzt von Sepp Leeb. Kampa 2024. 416 Seiten, um 34 Franken, E-Book 19 Franken.
Dies ist ein wahrer Detektivroman. Wer die Indizien richtig kombiniert und deutet, gelangt am Schluss zur verblüffenden Lösung des Rätsels. Nur: Bei Fabio Stassi bestehen die Indizien aus Romanzitaten, und der Detektiv Vince Corso nennt sich «Bibliotherapeut», er empfiehlt seinen Klienten passende Romane. Die Ermittlung, zu der er – mit viel Geld – herausgefordert wird, führt ihn in eine kostbare Bibliothek, zur alten chinesischen Sprache und in die Tiefe von Erinnern und Vergessen.
Zwar gibt es in diesem Roman keine Toten, dennoch fesselt diese raffiniert konstruierte, durch Verweise und Zufälle verzwickte Spurensuche ungemein. Schliesslich geht es um echte Geheimnisse – nicht zuletzt um das Geheimnis der Stadt Rom, die Stassi so betörend melancholisch schildert.
Von Martina Läubli
«Die Seele aller Zufälle» von Fabio Stassi
Übersetzt von Annette Kopetzki. Edition Converso 2024. 288 Seiten, 34 Franken, E-Book 19 Franken.
Weil der Privatdetektiv Lew Archer auf dem Highway einen Sterbenden findet, bleibt er vorläufig als Zeuge in der Kleinstadt Las Cruces stecken. Bald fasst er einen Auftrag, der ihn zu Ermittlungen veranlasst, die dem Stich in ein Wespennest gleichkommen.
Ross Macdonald (1915–1983), der mit der Autorin Margaret Millar – auch sie bei Diogenes – verheiratet war, gehört zu den Grossen der amerikanischen Kriminalliteratur, seine Wiederentdeckung ist längst überfällig. Das aus heutiger Sicht fragwürdige Frauenbild deckt sich mit den Protagonistinnen des Film noir, das Handlungstempo und Macdonalds Landschaftsbeschreibungen hingegen sind atemberaubend. Wer Feuer fängt: Insgesamt achtzehn Lew-Archer-Titel warten auf Sie.
Von Jürg Zbinden
«Wer findet das Opfer» von Ross Macdonald
Neu übersetzt von Thomas Stegers. Diogenes 2024. 309 Seiten, 28 Franken, E-Book 20 Franken.
Dieser Artikel stammt aus «Bücher am Sonntag», der vierteljährlich erscheinenden Beilage der «NZZ am Sonntag».