Die IV schuldet der AHV über 10 Milliarden Franken. Ein neuer Bericht zeigt nun, dass die Rückzahlung illusorisch wird. Denn die IV gerät gefährlich in Schieflage.
Sobald es um die AHV geht, kochen die Emotionen im Volk hoch. Das zeigte sich im Frühling bei der Abstimmung über die 13. AHV-Rente. Diesen Sommer ging erneut ein Aufschrei durch das Land: Der Bund musste zugeben, dass er die Zukunft der AHV zu pessimistisch dargestellt hatte.
«Die Fehlprognose gefährdet das Vertrauen in die Politik», kommentierte das Schweizer Fernsehen. Der Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) reichte seinen Rücktritt ein. Und die Grünen haben beim Bundesgericht sogar beantragt, die Volksabstimmung über ein höheres Frauenrentenalter zu wiederholen.
Inzwischen hat das BSV seine Prognosen überarbeitet: Somit wird die AHV im Jahr 2033 ein Defizit von 5,3 Milliarden Franken einfahren – anstatt der zuvor veranschlagten 7,5 Milliarden. Bereits aber kommt der nächste Rückschlag: Der Grund ist die Invalidenversicherung (IV), die der AHV über 10 Milliarden Franken schuldet.
Noch vor Jahresfrist hatte das BSV prognostiziert, dass die IV diese Schuldenlast bis 2033 auf 3 Milliarden abbauen kann. «Diese Rechnung habe ich stets als unrealistisch eingestuft», sagt der Luzerner Ständerat Damian Müller. «Deshalb habe ich das BSV diesen Sommer aufgefordert, eine neue Prognose für die IV zu erstellen.» Der FDP-Politiker leitet im Ständerat die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit.
Schuldenabbau wird illusorisch
Diesen Monat nun hat das Amt die überarbeitete Finanzperspektive veröffentlicht. Sie ist ein Donnerschlag: Demnach erreicht das Umlageergebnis (Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben) über die kommenden zehn Jahre nicht wie angekündigt einen kumulierten Überschuss von 7 Milliarden Franken, sondern ein Minus von 400 Millionen. «Dass sich die Prognose in nur einem Jahr so stark verschlechtert, offenbart gravierende Mängel», sagt Müller. «Als Parlamentarier fühle ich mich vom BSV getäuscht. Ursprünglich hatte der Bundesrat gar versprochen, die IV werde bis 2025 schuldenfrei dastehen.»
Jetzt müsse der Bundesrat dringend aktiv werden und dürfe nicht länger tatenlos zuschauen, sagt der Ständerat. «Ich halte es für völlig illusorisch, dass die IV ihre Schulden an die AHV je zurückzahlen kann. Deshalb muss die Regierung glaubwürdig aufzeigen, wie sie die Finanzierungslücke stopfen und die AHV-Schulden abbauen will.»
Doch wie kommt es, dass sich der Ausblick in nur einem Jahr dermassen verschlechtert? Das BSV habe verschiedene Annahmen im Berechnungsmodell aktualisiert, erklärt ein Sprecher auf Anfrage: «Eine solche Präzisierung betrifft die Abgangsrate aus der IV. Diese definiert die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Person im Erwerbsalter wieder aus der IV ausscheiden kann, etwa dank einer erfolgreichen Wiedereingliederung.»
Geringer Erfolg bei Eingliederung
Die im Modell verwendete Abgangsrate lag um rund das Doppelte über den real gemessenen Werten. Dadurch verschlechtert sich das Umlageergebnis der IV allein im Jahr 2030 um gut 400 Millionen Franken. «Der Grundsatz der IV lautet ‹Eingliederung vor Rente›», betont Müller. «Wenn die effektive Erfolgsquote so weit unter dem Zielwert liegt, müssen wir zwingend auf eine bessere Integration hinarbeiten.» Dagegen erklärt der BSV-Sprecher: «Die Korrektur im Modell lässt keinerlei Rückschlüsse darüber zu, dass die Massnahmen zur Wiedereingliederung in der Praxis ungenügend funktionieren.»
Wie glaubwürdig sind die IV-Prognosen des Bundes? Die Frage stellt sich aus einem weiteren Grund: Innert zehn Jahren ist die Zahl der Neurenten um fast 50 Prozent auf über 23 000 pro Jahr gestiegen. Trotz diesem steilen Aufwärtstrend geht das BSV in seinem Basisszenario davon aus, dass in Zukunft wieder weniger Neurenten dazukommen, nämlich nur gerade 21 000. «Angesichts der starken Zunahme an psychisch bedingten Invalidenrenten wirkt die Prognose, wonach die Fallzahlen sinken sollen, schönfärberisch», kritisiert Müller.
Allein im letzten Jahr hat die IV einen Fünftel mehr Renten wegen psychischer Erkrankungen gesprochen, noch stärker ist die Zunahme bei den Jungen. «Wir sollten diese Fälle nicht als ‹Scheininvalide› bagatellisieren, sondern im Gegenteil die gesellschaftliche Entwicklung ernst nehmen», sagt Damian Müller. «Umso dringlicher ist es, dass die Politik gegensteuert – ich plädiere dafür, dass der Bundesrat eine Task-Force einberuft.»
Das BSV wehrt sich gegen den Vorwurf, man unterschätze die steigende Zahl der Rentenbezüger: «Wir arbeiten mit drei verschiedenen Szenarien: Diese legen transparent offen, wie sich die finanzielle Perspektive je nach Entwicklung der Neurenten verändert.» Allerdings wirkt selbst das Negativszenario des BSV überaus optimistisch: Demnach würden die Fallzahlen in den nächsten zehn Jahren lediglich um 6 Prozent zunehmen.
Trifft dieses ungünstige Szenario aber effektiv zu, so kommen auf die IV enorme weitere Kosten zu: Beim Umlageergebnis entsteht bis im Jahr 2033 ein kumulierter Verlust von fast 4 Milliarden Franken. An eine Rückzahlung der AHV-Schulden ist dann erst recht nicht zu denken. Schlimmer noch: Der Ausgleichsfonds der IV, der heute noch 4 Milliarden enthält, ist bald leer.
Derweil das BSV unentwegt auf das Prinzip Hoffnung setzt, warnen Experten schon länger vor dieser fatalen Entwicklung. «Hier kommt eine neue Welle auf die Invalidenversicherung zu», erklärte Andreas Heimer von der Firma PK Rück vor zwei Jahren in der «NZZ am Sonntag». Er beobachtete bereits damals, dass die Fälle von Arbeitsunfähigkeit innert Jahresfrist um 20 Prozent zunahmen, und sprach von einem «Alarmsignal». Die PK Rück ist zuständig für das Fallmanagement in Tausenden Betrieben mit 250 000 Angestellten.
Fällt ein Erwerbstätiger für längere Zeit aus, etwa durch ein Burnout, so geht die Meldung via Betrieb an die PK Rück, welche Massnahmen zur Integration prüft. Heimer sagt, durch die vielen Daten verfüge er über ein wertvolles Frühwarnsystem: «Bis diese Arbeitsausfälle jedoch zu einer IV-Rente führen, dauert es meistens zwei bis drei Jahre.»
Anstieg geht ungebremst weiter
Was ihn beunruhigt: Er beobachtet vorerst keine Abflachung beim Trend steigender Fallzahlen. Womit die Neurenten weiter zunehmen dürften. Das erhöht nicht nur die Kosten der IV, denn auch die Pensionskassen bezahlen Invalidenrenten in Milliardenhöhe. Diese sind daher schon bald gezwungen, bei den Erwerbstätigen höhere Risikobeiträge zu verlangen.
Nicht zum ersten Mal droht die IV zum Sanierungsfall zu werden. Bereits in den Jahren 2011 bis 2017 benötigte es eine befristete Erhöhung der Mehrwertsteuer von 0,4 Prozentpunkten, um eine Schieflage zu verhindern. Eine erneute Steuererhöhung käme jedoch zur Unzeit, weil auch die AHV dringend mehr Geld benötigt.
Wenn aber die IV ihre Schuld von 10 Milliarden nicht zurückzahlen kann, so tangiert dies ebenso die finanzielle Stabilität der AHV. Kommt hinzu, dass dieser Kredit nur mager verzinst wird, pro Jahr beträgt die Abgeltung 51 Millionen Franken. Könnte die AHV dieses Kapital stattdessen in ihrem eigenen Ausgleichsfonds anlegen, so hätte sie über die letzten zehn Jahre zusätzliche Einnahmen von 4 Milliarden Franken erzielt, schätzen die Verantwortlichen. Ein Weiterwursteln wie bisher schadet somit beiden Sozialwerken, der AHV wie der IV. Dennoch bleibt der Bund eine Antwort schuldig, wie er das dramatisch wachsende Finanzloch stopfen will.
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