War der Huanan-Markt in Wuhan der Ausgangsort der Pandemie, oder gab es dort die erste massenhafte Verbreitung von Coronaviren nach einem Laborunfall? Sämtliche publizierten Gendaten aus dortigen Proben wurden von einer internationalen Forschergruppe analysiert. Ein Gespräch mit der Hauptautorin über die Erkenntnisse.
Die zwei Gebäude des Marktes wurden am 1. Januar 2020 auf Geheiss der Behörden geschlossen und desinfiziert. Von Anfang Januar bis März 2020 haben Forscher der Gesundheitsbehörde China CDC dort Proben von streunenden Katzen oder Ratten, von Wänden und zurückgelassenen Geräten oder aus dem Abwassersystem auf genetische Spuren hin analysiert. Eine Tranche dieser Daten wurde im Frühjahr 2023 auf der Internetplattform Gisaid veröffentlicht – allerdings ohne dass die Gruppe des China CDC dies öffentlich verkündet hatte. Die Biologin und Evolutionsforscherin Florence Débarre vom Forschungsinstitut CNRS an der Universität Sorbonne in Paris hat damals als Erste und per Zufall diese Daten entdeckt. Im Gespräch erzählt sie, wie es dazu kam. Und welche Hinweise ihre jetzt im Fachmagazin «Cell» publizierte akribische Analyse der Daten auf den Ursprung der Corona-Pandemie liefert.
Frau Débarre, können Sie uns erzählen, wie Sie auf die Daten gestossen sind?
Erste Informationen zu Proben vom Huanan-Markt sind bereits 2020, andere 2022 vom China CDC publiziert worden. Ich wollte nun im Frühjahr 2023 abklären, wie verlässlich einer dieser Datenpunkte von 2022 war. Ich hatte gelesen, dass im China CDC ein Gerät, das Gendaten entschlüsselt, kaputtgegangen war. Später wurde eine brandneue Entschlüsselungsmaschine gekauft. Bei der Publikation von Gendaten geben die Forscher die verwendeten Geräte an. Ich dachte, ich könnte so herausfinden, wann die Gendaten produziert worden waren. Also habe ich auf Gisaid, einer Plattform für Gendaten von Viren, gezielt danach gesucht. Und dann sah ich plötzlich, was da alles vorhanden war. Viel mehr als jemals zuvor. Ich war total überrascht und aufgeregt, und habe meinen Fund sofort Genetik- und Virenexperten aus den USA, Australien, Kanada und anderen Ländern weitergeleitet.
Wissen Sie, warum sich plötzlich und ohne Ankündigung diese Daten auf Gisaid befanden?
Ich kann nicht sagen, warum die Daten plötzlich auf Gisaid waren oder warum sie überhaupt publiziert worden waren. Sicher ist, dass die Arbeit der chinesischen Forscher dann im April 2023 im Fachjournal «Nature» publiziert wurde. Dafür müssen auch alle Gendaten veröffentlicht werden. Mittlerweile sind daher sehr umfangreiche Gendaten von Hunderten von Proben vom Huanan-Markt in bekannten Datenbanken sowohl in den USA als auch in China frei verfügbar. Diese waren die Grundlage unserer neuen Analyse.
Halten Sie die Daten für einwandfrei und zuverlässig?
Diejenigen Daten, die veröffentlicht wurden, halten meine Kollegen und ich für zuverlässig. Wir sind nicht naiv, wir haben uns das genau angeschaut. Es gibt keinen Anhaltspunkt für Fälschung.
Was für Erkenntnisse liefern denn nun diese Daten?
Ein sehr wichtiges Resultat ist: In dem Bereich im Huanan-Markt, in dem die grösste Menge von Sars-CoV-2 Genmaterial gefunden wurde, waren auch Tiere vorhanden, die nachgewiesenermassen empfänglich für Coronaviren sind und diese auch weitergeben können. Es gibt Abstriche von Geräten in einem Verkaufsstand, da ist auf einem Stäbchen sowohl Genmaterial von Sars-CoV-2 als auch von Marderhunden beziehungsweise Zibetkatzen.
Ist das nun ein Beweis, dass diese Tiere mit dem Coronavirus infiziert waren?
Nein, das ist es nicht. Dafür müssten wir Proben direkt von den Tieren selber haben. Aber solche Proben liegen nicht vor. Als die Forscher des China CDC Anfang Januar zum ersten Mal auf den Huanan-Markt gingen, waren dort keine der zuvor angebotenen Wildtiere mehr vorhanden. Von Befürwortern der Hypothese, dass ein Laborunfall der Ursprung der Pandemie war, wird ja immer als Beleg gegen eine Zoonose angeführt, dass Sars-CoV-2 nie in einem infizierten Tier gefunden worden sei. Das liegt aber daran, dass keines der als Wirt für Sars-CoV-2 infrage kommenden Tiere auf dem Markt daraufhin untersucht werden konnte.
Warum ist die Tatsache, dass am selben Ort und sogar in einem Abstrich sowohl Genmaterial von Sars-CoV-2 als auch prinzipiell empfänglichen Tieren vorhanden war, so wichtig?
Das ist genau das, was erwartet wird, wenn Tiere infiziert sind. Es ist also kein Beweis dafür, aber das Zweitbeste, was wir bekommen können, wenn wir keine lebenden Tiere analysieren können. Ich möchte noch etwas hinzufügen: Über die meisten anderen Erkrankungen und Zoonosen wissen wir viel weniger, als wir über die ersten Covid-Patienten und die frühen Tage von Sars-CoV-2 wissen.
Konnten Sie anhand der Gendaten feststellen, woher die potenziellen Wirte für Sars-CoV-2 kamen?
Ja, bei manchen konnten wir das tatsächlich. Wir haben die Gensequenzen der auf dem Markt vorhandenen Marderhunde mit dem Erbgut von verschiedenen in China lebenden Subspezies verglichen. Wir konnten feststellen, dass die Marderhunde vom Huanan-Markt nicht zu jener Subspezies gehören, die in Nordchina auf Pelzfarmen gehalten wird. Vielmehr stammten die Marderhunde vom Huanan-Markt aus Zentral- oder Südchina. Wir können aber nicht sagen, ob es Wildtiere waren.
Gibt es noch andere wichtige Indizien für eine Zoonose als Ursprung der Corona-Pandemie in den Daten vom Huanan-Markt?
Ja, hier geht es um die genetische Diversität der Coronaviren. Ganz zu Beginn der Pandemie gab es zwei Virus-Varianten, sie werden als Linie A und Linie B bezeichnet. Und beide kamen sowohl in einigen der ersten untersuchten Covid-Patienten als auch auf dem Markt vor. Wir konnten zeigen, dass die Viren aus den ersten bekannten Patienten und die auf dem Markt einen gleichen gemeinsamen Vorfahren hatten. Genau das würde man erwarten, wenn die Zoonose auf dem Markt passiert ist, also dort Viren von Tieren auf Menschen übergesprungen sind.
Könnte es auch sein, dass jemand sich im Labor bei einem Unfall mit der Linie A infiziert hat, damit Menschen auf dem Markt angesteckt hat und sich in diesen Personen dann die Linie B entwickelt hat?
Ja. Denkbar ist auch, dass es im Labor zu zwei Unfällen mit zwei unterschiedlichen Virus-Varianten kam. Aber bei diesen beiden Labor-Szenarien muss man logisch und plausibel erklären, wie ausgerechnet beide Varianten innert eines kurzen Zeitfensters auf den Huanan-Markt gelangten. Und zwar genau dort, wo Marderhunde und Zibetkatzen verkauft wurden. Wuhan hat etwa zwölf Millionen Einwohner, das ist so gross wie die ganze Pariser Region. Diese beiden Labor-Szenarien sind extrem unwahrscheinlich.
Ist das Überspringen von Viren von Tieren auf Menschen auf dem Huanan-Markt viel wahrscheinlicher?
Auf jeden Fall. Wenn es auf dem Markt mehrere infizierte Tiere gab, ist sogar davon auszugehen, dass das Virus mehrfach auf Menschen übersprang. Somit würden auch unterschiedliche Varianten übertragen. Denkbar ist auch, dass nur Linie A auf dem Markt übersprang, sich dann dort in arbeitenden oder einkaufenden Menschen zu Linie B entwickelt hat und so weiterverbreitet wurde. Und befanden sich Reste von beiden Linien im Januar 2020 auf dem Markt.
Es gibt also handfeste Indizien, dass der Ursprung der Corona-Pandemie eine Zoonose war und dass dies auf dem Huanan-Markt passierte. Welche Indizien liegen denn für einen Laborunfall vor?
Sowohl meine Mitautoren als auch ich haben immer wieder betont, dass ein Laborunfall als Ursache denkbar sei. Und dies daher seriös untersucht werden müsse. Es gab Untersuchungen dazu. Doch der einzige Hinweis, dass ein Laborunfall die Corona-Pandemie ausgelöst haben könnte, ist die räumliche Nähe: In der Stadt, in der die ersten Covid-Patienten entdeckt wurden, hat ein Institut mit diversen Coronaviren gearbeitet. Aber alle weiteren Argumente der Befürworter der Labor-Hypothese sind spekulativ und beruhen auf phantasievollen Interpretationen vorliegender Quellen. Heutzutage sprechen alle Belege für einen natürlichen Ursprung im Zusammenhang mit dem Handel mit Wildtieren auf dem Markt.
Hat die jahrelange intensive Beschäftigung mit der Ursprungsfrage Ihr Leben verändert?
(Ihre Stimme wird brüchig.) Ja, ich zahle einen hohen Preis. Ich will als Wissenschafterin Antworten zu einer wichtigen Frage liefern. Dafür werde ich in den sozialen Netzwerken beschimpft und verleumdet. Fachlich wie persönlich. Leute erfinden Geschichten über mich und meine Arbeit und verbreiten diese. Es ist hart, richtig hart. Einige Befürworter der Labor-Hypothese wollen mich auf persönlicher wie fachlicher Ebene brechen. Es ist ihnen aber noch nicht gelungen.