Samstag, November 23

Der FC St. Pauli, Stephen King oder der «Guardian»: Sie alle verzichten aufs Twittern, weil sie angeblich genug von Hetze und Desinformation haben. Ihre Wahrnehmung ist jedoch oft sehr selektiv.

Der Rückzug des deutschen Bundesligaklubs war dem Schweizer Radio und Fernsehen einen ganzen Artikel wert. «St. Pauli stellt sich gegen Musks ‹Hass-Maschine›», lautete der Titel. Der Hamburger Klub, so erfuhr man am 14. November, ist nicht mehr auf der Plattform X aktiv. Dies, weil Elon Musk das ehemalige Twitter von einem «Debatten-Raum» in einen «Hass-Verstärker» verwandelt habe, der Rassismus und Verschwörungstheorien verbreite.

Das Pathos, das in dieser eigentlich unbedeutenden Meldung mitschwingt – ein kleiner Klub «stellt sich» mutig gegen den mächtigen Hassmaschinenmann –, ist charakteristisch für die mediale Debatte über X und Elon Musk. Seit der Unternehmer das soziale Netzwerk 2022 für 44 Milliarden Dollar gekauft hat, werden Journalisten, Politiker, Manager, Marketingabteilungen und andere Öffentlichkeit Suchende von der Frage gequält, ob «man» sich dort noch sehen lassen darf.

Stephen King ist es «einfach zu giftig»

Das Dilemma ist umso grösser, als Musk inzwischen zu Donald Trumps «Bro» Nummer 1 aufgestiegen ist, nachdem er früher als Unterstützer der Demokraten bekannt war. Obendrein hat er das ehemalige Twitter durch die Aufhebung von Sperrungen und Kontrollen noch mehr zu einem Tummelplatz für Extremisten gemacht. Zum Beispiel für den Verschwörungstheoretiker Alex Jones, der behauptet, der Amoklauf in der Sandy Hook School mit 26 Toten sei inszeniert gewesen.

Bereits 2022 kündigten Prominente wie Whoopi Goldberg ihren Rückzug von Twitter an, und Tesla-Fahrer wie Stephen King begannen sich öffentlich für ihr Auto zu schämen. Der Schriftsteller hat seinen mehr als sieben Millionen Followern am 14. November eröffnet, er verlasse X. Das Klima dort sei «einfach zu giftig» geworden.

Mediale Euphorie über den «X-odus»

Die derzeitige Debatte um X hat unter anderem die linke britische Zeitung «The Guardian» lanciert, die nach eigenen Angaben 1,1 Millionen Digital-Abos hat. Mitte November teilte die Redaktion auf X mit, sie ziehe sich von dieser «toxischen Medienplattform» zurück. Allzu oft würden dort «beunruhigende Inhalte» verbreitet, wie rechtsextreme Verschwörungstheorien und Rassismus.

Diese Formulierungen haben andere Aussteiger wie St. Pauli und Werder Bremen zum Teil fast wortgleich übernommen. Deutschsprachige Medien betätigen sich als ehrfürchtige Verlautbarungsorgane, die ihren Lesern mitteilen, St. Pauli und Werder hätten «genug von Hetze und Desinformation» («FAZ»). Die Plattform GMX berichtet mit infantiler Freude über den «Mittelfinger für Musk», «Stern» und «Süddeutsche» schwanken zwischen Euphorie und Angst über den «X-odus» und den «schwierigen Abschied» von diesem Medium. In Österreich schwärmt die Zeitung «Falter» von «Helden des Rückzugs», weil sich auch dort einige bekannte Journalisten von X verabschiedet haben, darunter ORF-Anchorman Armin Wolf.

Robert Habeck kehrt zurück

Gleichzeitig melden sich einige Prominente mit demselben Pathos auf X zurück, mit dem sich andere verabschieden. Zum Beispiel die SPD oder der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck. Der schrieb nach Trumps Wahl und dem Scheitern der Ampelkoalition: «Orte wie diesen den Schreihälsen und Populisten zu überlassen, ist leicht. Aber es sich leicht zu machen, kann nicht die Lösung sein. Nicht heute. Nicht in dieser Woche. Nicht in dieser Zeit. Deshalb bin ich wieder auf X.»

All diese Verlautbarungen sollen wohl Standhaftigkeit, Mut, Moral und Haltung ausdrücken. Bei näherer Betrachtung scheint es jedoch in vielen Fällen eher um «virtue signalling» zu gehen, um die Vorspiegelung von Werten, die sehr selektiv gelten.

X alias Twitter war schon vor Elon Musk das Medium der Häme, der Bösartigkeit, der Verschwörungstheoretiker und der Hetzer. In etwas geringerem Ausmass, aber sichtbar für alle, die heute wie der «Guardian» über «oft beunruhigende Inhalte» klagen. Der frühere Präsident von Iran, Ali Khamenei, darf hier seit 2009 seine Ansichten verbreiten, etwa über «Zionisten», die man ausrotten solle.

Mit der «Hassmaschine» Tiktok haben sie kein Problem

Bloss störte das vor allem Linke weniger, weil sie vor Musks Übernahme die Debatten dominierten. Bei allem Schmutz ist X bis heute auch eine Nachrichten- und Informationsquelle, die vieles ans Licht bringt, was früher verschleiert werden konnte oder schlicht niemand erfuhr. Für Politiker ist es immer noch die wichtigste Plattform, um in den Medien Gehör zu finden – trotz Alternativen wie Threads, Mastodon oder Bluesky.

Wer soziale Netzwerke meidet, weil er all den Schmutz nicht erträgt – was nachvollziehbar ist –, müsste zumindest konsequent sein. Namentlich die von der chinesischen Regierung beeinflusste Plattform Tiktok ist ähnlich toxisch wie X, aber noch weniger gehaltvoll. Seit dem 7. Oktober 2023 wird die App geflutet mit antiisraelischer und antisemitischer Propaganda. Im Herbst sorgten Beiträge über Adolf Hitler für Aufsehen, die zum Teil millionenfach aufgerufen wurden – und den Diktator als freiheitsliebenden Maler darstellten.

Das ist offenbar weder für den FC St. Pauli noch für Werder Bremer noch für den «Guardian» ein Problem. Sonst wären nicht alle auf Tiktok aktiv, der «Guardian» mit über 400 000 Followern. Die linke britische Traditionszeitung fällt auch redaktionell mit einer selektiven Wahrnehmung auf, was Verschwörungstheorien und Rassismus betrifft. Das zeigt ihr Umgang mit der antiisraelischen Boykottbewegung BDS.

Hauptsache, man setzt «ein Zeichen»

Die «Guardian»-Kolumnistin Naomi Klein hat Anfang dieses Jahres offen zur Unterstützung von BDS aufgerufen. Im Juni veröffentlichte die Zeitung einen redaktionellen Beitrag über den BDS-Gründer Omar Barghouti, in dem dieser ohne irgendwelche kritische Einwände die «furchtlosen und selbstlosen» Studenten preist, die an amerikanischen Universitäten gegen «Apartheid» und «Völkermord» protestiert hätten.

Dass BDS von zahlreichen Ländern als antisemitisch eingestuft wird, erwähnt die «Guardian»-Redaktion ebenso wenig wie die Tatsache, dass der palästinensische Ableger von BDS organisatorisch und ideologisch mit der Hamas verbunden ist. Stattdessen vergleicht sie BDS mit der Anti-Apartheid-Bewegung von Nelson Mandela.

Doch um heute ein «Zeichen» zu setzen, braucht es keine Werte, sondern vor allem das richtige Ziel. «Wer ein E-Auto kauft, setzt ein Zeichen gegen Trump», war kürzlich in der «Süddeutschen Zeitung» zu lesen. Wie St. Pauli, Stephen King und andere beweisen, geht es noch billiger.

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