Geschrumpft vom Konglomerat zu bald nur einem Geschäftsbereich: Oerlikon nähert sich dem Ende einer Reise. Der Einschnitt zeigt, auf welche Qualitäten es heute ankommt.
Sich als Schweizer Industrieunternehmen auf dem Weltmarkt zu behaupten, verlangt manchmal radikale Entscheide. Der Konzern OC Oerlikon hat solch einen Entscheid getroffen. Er will eines seiner zwei Standbeine abtrennen: die Herstellung von Maschinen zur Produktion von Kunstfasern. Diese Fasern werden nicht nur für Kleidung, sondern zum Beispiel auch auf dem Bau verwendet. Der grösst Teil des Geschäfts wird in Asien gemacht.
Es ist ein tiefer Einschnitt. Die Polymer-Division trägt mehr als 40 Prozent zum Gesamtumsatz des Konzerns aus Pfäffikon bei. Auch fast ein Drittel der 12 600 Mitarbeiter sind dort beschäftigt. Oerlikon, einst ein riesiger Industrie-Gemischtwarenladen, sieht sich auf der letzten Etappe einer langen Reise: der Fokussierung auf ein klares Geschäftsfeld. Das soll das Unternehmen robuster bei Konjunkturschwankungen sowie attraktiver für Investoren machen und es erlauben, den Standort Schweiz langfristig zu erhalten – auch für die Produktion.
So schwierig war es seit Corona nicht
«Wenn selbst ein Technologieunternehmen wie wir das nicht schaffen würde, wäre es schwer, solche Firmen überhaupt in der Schweiz zu behalten», sagte der Oerlikon-Chef Michael Süss am Dienstag vor den Medien. Selbst mit nur noch zwei Divisionen war Oerlikon aus seiner Sicht ein Konglomerat. Bald wird es nur noch eine Sparte sein: die Herstellung von Maschinen zur Beschichtung von Oberflächen, vom Schraubenzieher bis zu den Bauteilen einer Flugzeugturbine. Diese Beschichtungen sind Hightech, und Oerlikon ist Weltmarktführer.
Diese Spitzenstellung braucht das Unternehmen, denn wie die ganze Schweizer Industrie steht es im schärfsten Gegenwind seit dem Einbruch zu Beginn der Corona-Pandemie. Die Produktion der Industrie lag im vierten Quartal 2023 um 0,4 Prozent niedriger als im Vorjahreszeitraum, wie das Bundesamt für Statistik Mitte Februar mitteilte. Im Gesamtjahr war sie um gerade einmal 0,9 Prozent gewachsen.
Mit der Fokussierung von Oerlikon auf Beschichtungen gerät eine ehemalige Stärke der Schweizer Industrie noch mehr ins Hintertreffen: die Textilproduktion – auch wenn die Oerlikon-Maschinen nicht nur zur Herstellung von Kleidung genutzt werden, sondern unter anderem für Fasern zur Produktion von Planen und Abdeckungen. Doch der Markt hängt stark von Konjunkturzyklen ab, sei es bei der Bekleidung oder der Bauindustrie.
Europa wird zur Schlagseite der Industrie
Weil der Riesenmarkt China sich mit dem erhofften Aufschwung nach der Corona-Pandemie schwertut, ist das Ergebnis der Division Polymer Processing schlecht ausgefallen: Die Aufträge sanken vergangenes Jahr um 40 Prozent; der Umsatz schrumpfte um 23 Prozent auf 1,2 Milliarden Franken. Eigentlich sei das Geschäft in guter Verfassung, sagt Süss, der Oerlikon im Doppelmandat führt und auch als Verwaltungsratschef amtet. Doch derzeit spielt der Markt nicht mit.
Ganz anders hingegen bei den Surface Solutions. Dort wuchsen die Aufträge 2023 um knapp 7 Prozent und der Umsatz um knapp 10 Prozent auf 1,5 Milliarden Franken. Die Gewinnmarge (Ebitda) blieb mit 17,1 Prozent erstaunlich stabil. Dies, obwohl noch knapp die Hälfte des Geschäfts in Europa gemacht wird, wo die Industrie derzeit darbt. Jedoch kamen Impulse aus den USA, die fast einen Viertel zum Erlös beisteuern. Langfristig sollen die Gewichte der nichteuropäischen Märkte weiter zunehmen.
Das wäre wichtig, denn die Abhängigkeit von der Nachfrage aus dem Euro-Raum ist eine Schlagseite der Schweizer Industrie. Vor allem die Exporte der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie sind davon stark betroffen, ergab jüngst eine Auswertung der Grossbank UBS. Besonders der Abschwung in Deutschland belastet. Verstärkt wird die Nachfrageschwäche durch den Abbau der Lagerbestände: Erst leeren die Firmen ihre Vorräte, bevor sie neu bestellen – und dieses Leeren dauert im Abschwung umso länger.
Das Erfolgsrezept: in der Nische in die Breite
Oerlikon hingegen profitierte bei den Beschichtungen auch von der Breite der Kundschaft: Während der Automobilsektor schwächelte, legte die Luftfahrt zu. Man hat neue Segmente erschlossen. Noch vor zehn Jahren wurden drei Viertel des Beschichtungsumsatzes im Geschäft mit Werkzeugherstellern erwirtschaftet. Inzwischen hat Oerlikon sogar Luxusgüterhersteller als Kunden: 2023 wurde Riri übernommen, ein Produzent von hochwertigen Reissverschlüssen.
«Der Bereich ist komplex, aber wir haben eine hohe Resilienz», sagte Süss. Diese Robustheit ist der Grund, warum die Beschichtung zum zentralen Geschäftsfeld von Oerlikon werden soll. Damit Investoren dies klar wahrnehmen und nicht Äpfel mit Birnen im selben Korb kaufen müssen, wird der Polymer-Bereich ausgegliedert. Anleger begrüssten die Ankündigung am Dienstag mit einem Kurssprung der Oerlikon-Aktien von 7 Prozent auf 4.17 Franken.
Die Nachricht überdeckte sogar, dass der Reingewinn 2023 um drei Viertel auf 23 Millionen Franken eingebrochen ist und die Dividende von 35 auf 20 Rappen gekürzt werden soll. Analytiker lobten die Abspaltung. Surface Solutions sei das wesentlich attraktivere Segment, kommentierte die Zürcher Kantonalbank (ZKB). Der Aktienkurs hat allerdings einiges gutzumachen und liegt rund 70 Prozent tiefer als vor fünf Jahren. Das hat auch mit dem russischen Grossaktionär Viktor Vekselberg zu tun. Das Engagement des von den USA mit Sanktionen belegten Milliardärs sorgt für einen Abschlag.
Der Franken bleibt ein steter Quell der Sorge
Oerlikon will nicht nur die Verwaltung, sondern weiterhin auch die Produktion in der Schweiz behalten. «Das würde sonst unsere DNA verwässern», sagt Süss. So wie der Rest der Industrie muss der Konzern dafür den starken Franken wegstecken. «Der Franken steht im Weg», so der Firmenchef. Binnen drei Jahren habe die Währungsumrechnung den Konzern rund 15 Prozent des Umsatzes oder 400 Millionen Franken gekostet.
Immerhin sei der Franken-Druck bei weitem nicht so stark wie zum Beispiel in den ersten Monaten des Jahres 2015 nach Aufhebung der Kursgrenze zum Euro, kommentierte Anfang Monat die Konjunkturforschungsstelle KOF. Anspruchsvoll ist die Lage für die Schweizer Maschinenindustrie dennoch: Anders als etwa die Pharmabranche hat sie es laut der UBS schwerer, sich im internationalen Preiswettbewerb zu behaupten.
Unmittelbar hat die jüngste Franken-Hausse mit Oerlikons Entscheid wenig zu tun: Aus strategischer Sicht sei die Abspaltung des Polymer-Geschäfts schon 2017 entschieden worden, erläuterte Süss. Damals befand sich Oerlikon bereits seit einigen Jahren in einer Transformation. Aber ein Verlust bei der Faserherstellung verhinderte, dass Oerlikon die Sparte zu Markte trug.
Oerlikon will sich Zeit lassen
Das Formtief ist auch jetzt der Grund, warum die Abspaltung Zeit brauchen wird und ihre genaue Form noch nicht feststeht. Erst in den kommenden zwei Jahren will Oerlikon über die Art des Ausstiegs entscheiden. Im dritten Jahr soll er umgesetzt werden – dann, wenn die Branche sich hoffentlich wieder im Hoch befindet und ein guter Preis erzielt werden kann. Grosses Interesse erwartet Oerlikon von Unternehmen aus dem asiatischen Raum. Die Ankündigung erfolge früh, um so transparent wie möglich zu sein.
Möglich sind ein Komplettverkauf, ein teilweiser Verkauf, ein Spin-off oder andere Spielarten. Klar ist nur: Spätestens in 36 Monaten wird etwas passieren. Die Trennung soll kaum zusätzliche Arbeitsplätze kosten. Oerlikon beschäftigt in der Schweiz und Liechtenstein mehr als 1000 Mitarbeiter und unterhält fünf Standorte der Division Surface Solutions. Beim Polymer Processing, das unter anderem in Deutschland angesiedelt ist, wurden schon vergangenes Jahr global 800 Stellen abgebaut und Kurzarbeit eingeführt.
Bis zum Vollzug der Trennung, also noch maximal drei Jahre, soll das Doppelmandat von Michael Süss Bestand haben. Süss ist seit 2015 Verwaltungsratspräsident und hatte Mitte 2022 auch die Führung der Geschäftsleitung übernommen – mit dem Ziel, Oerlikon neu auszurichten. Man müsse keinen neuen CEO für die Gruppe suchen, wenn man sowieso vorhabe, die Gruppe aufzuspalten, begründete er jetzt seine anhaltend umfassende Aufgabe.
Keine schnelle Besserung in Sicht
2024 werde kein leichteres Jahr als 2023, kündigte Süss ebenfalls an. Der Umsatz von Oerlikon dürfte nochmals schrumpfen. Kein Wunder, sank der Bestellungseingang im vergangenen Jahr doch um insgesamt knapp 18 Prozent. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei kleineren und mittleren Unternehmen (KMU) der Industrie, wie eine Umfrage der Raiffeisen-Bank ergab. Das Neugeschäft mit ausländischen Kunden lahme weiterhin. Langsam seien die Auftragsbestände der Industrie bedrohlich tief, kommentierte die Bank Anfang Februar. Ob gross oder klein: Die Schweizer Industrie durchlebt harte Zeiten.