Niedersachsens Inlandgeheimdienst warnt vor angeblichen Rechtsextremisten, weil diese eine Gegenbewegung zum LGBTQ-Pride gestartet haben – und verkennt die Meinungsfreiheit
Die junge Frau im Video wählt gleich die Befehlsform: «Hört auf zu scrollen! Wir verraten euch, was ihr über die neurechte Kampagne ‹Stolzmonat› wissen müsst.» Dann folgen anderthalb Minuten, in denen erklärt wird, warum der «Pridemonth» gut, der «Stolzmonat» aber rechtsextremistisch und böse sei. Das Video stammt vom niedersächsischen Verfassungsschutz, also einem Geheimdienst, dessen Aufgabe es ist, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen – und damit auch unwillkommene Meinungsäusserungen.
«Der rechtsextremistische #Stolzmonat ist aufgeladen mit Nationalismus, Diskriminierung und Hass. Er ist demokratiefeindlich und verstösst gegen unser Grundgesetz», steht in dem Post des Verfassungsschutzes des rot-grün regierten Bundeslandes. Das dürfte falsch sein. Das Grundgesetz schützt auch nationalistische, feindselige und abwertende Meinungen in einem erheblichen Mass.
Der rechtsextremistische #Stolzmonat ist aufgeladen mit Nationalismus, Diskriminierung und Hass. Er ist demokratiefeindlich und verstößt gegen unser Grundgesetz.
Traditionell zelebriert die LGBTQIA+-Community den Juni als Pride Month – und das schon seit 1969. (1/7) pic.twitter.com/8f15vm6U0T
— Verfassungsschutz Niedersachsen (@LfV_NI) July 8, 2024
Haben die Verfassungsschützer die Rechtsordnung, die sie schützen sollen, womöglich selbst gar nicht verstanden? Sehen sie sich eher als politische Volkserziehungsanstalt? Auf der Plattform X entbrannte am Dienstag eine Debatte über den Verfassungsschutz, seine Befugnisse und das wachsende Mass seiner Übergriffigkeit.
«O. k., o. k., gebe mich endgültig geschlagen. Dieser Laden ist staatspolitisch offenkundig noch viel verrotteter als in meinem Buch beschrieben. Und sie merken es nicht einmal mehr», postete der ehemalige SPD-Politiker und Verfassungsschutzkenner Mathias Brodkorb auf X als Reaktion auf das Video. Brodkorb hat ein ganzes Buch darüber geschrieben, warum der Verfassungsschutz abgeschafft werden sollte. Kritisch äusserten sich auch Staatsrechtler und niedersächsische Landtagsabgeordnete der AfD.
Die junge Frau im Video der Geheimdienstbehörde erläutert auf X – begleitet von einer Reihe erklärender Posts –, was am «Stolzmonat» so gefährlich sei. Erst einmal handele es sich ja nur um die wörtliche Übersetzung von «Pridemonth». Doch während der «Pridemonth» für Vielfalt, Toleranz und die Rechte queerer Menschen stehe, sei «Stolzmonat» ein rechtsextremistischer Kampfbegriff und stehe für Nationalismus, Ablehnung queerer Menschen und der liberalen Demokratie und verstosse damit gegen das Grundgesetz.
Die Initiatoren von «Stolzmonat» wiesen das in einem langen Post zurück. Der «Stolzmonat» ist eine Aktion politisch konservativer und rechter Kreise. Einen Monat lang posten sie im Netz patriotische Bilder und verwenden die Deutschland-Flagge für ihr Profilbild. Das ist erlaubt.
Die Deutschland-Flagge im Profilbild soll rechts sein
Als queerfeindlich gilt es dem Verfassungsschutz bereits, wenn das traditionelle Familienbild aus Vater, Mutter und Kindern als ideal angesehen und von nur zwei Geschlechtern ausgegangen wird.
Laut der jungen Frau führen die «Stolzmonat»-Leute Übles im Schilde: «Es soll der Eindruck einer grossen Gegenbewegung zum ‹Pridemonth› entstehen, ausgestattet mit Hashtag und der Deutschland-Flagge im Stil der Regenbogenflagge im Profilbild», sagt sie. Das ist unzweifelhaft so, die «Stolzmonat»-Leute geben es zu.
Eine Gegenbewegung zu erschaffen, ist erwünscht, jedenfalls vom Grundgesetz. Die freie Rede, der freie Austausch der Ideen, all das mache die lebendige Demokratie aus, so das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung. Das Problem scheint zu sein, dass die Gegenbewegung nicht die politisch erwünschten Meinungen vertritt. Doch diese sind ganz überwiegend ebenfalls von der Meinungsfreiheit gedeckt, sogar solche vom rechten Rand. Es ist nicht die Aufgabe des Verfassungsschutzes, die Bürger zu erziehen, und doch scheint er dies ständig zu versuchen.
Es nennt sich politische Willensbildung
«Metapolitik im Kontext der Neuen Rechten ist eine Strategie, die auf die langfristige Veränderung der kulturellen und intellektuellen Grundlagen der Gesellschaft abzielt, um so letztlich politische Macht und Einfluss zu erlangen», heisst es in einem Zusatz zu dem Video. «Es ist ein indirekter Weg der Machtgewinnung, der auf die Beeinflussung von Werten, Normen und Diskursen setzt.»
Das ist nicht verboten und auch nicht rechtsextremistisch, man könnte sogar sagen: So machen es alle. Es nennt sich politische Willensbildung des Volkes. Die Bürger diskutieren in der Kneipe und im Sportverein und bilden so einen Willen, der sich irgendwann in Wahlergebnissen und in Gesetzen niederschlägt.
Kneipenbesuche und Partys oder auch der Besuch im Fussballstadion sind für die Macher des Videos jedoch bereits «vorpolitischer Raum», und jene sind als gefährlich anzusehen, die diesen Raum mit unerwünschten Positionen besetzen.
Die Bundeszentrale für politische Bildung war kürzlich mit einem Video in Erscheinung getreten, worin der angebliche Rechtsruck in Deutschland dem patriotischen Jubel bei der Fussball-WM 2006 zugeschrieben wird. Das Video ist inzwischen gelöscht.