Sonntag, September 29

Vor 225 Jahren liessen in Zürich zehntausend Soldaten ihr Leben.

Der Beckenhofpark ist ein lauschiger kleiner Quartierpark im Stadtzürcher Kreis 6. In dessen Mitte steht der Beckenhof, ein prächtiger barocker Landsitz. Wer am grossen Herrenhaus vorbeigeht, sieht etwas Ungewöhnliches: Aus der weiss getünchten Wand ragt eine schwarze Ausstülpung. Es ist eine Kanonenkugel. Zehn Zentimeter beträgt ihr Durchmesser. Seit 225 Jahren steckt sie in dieser Mauer.

Abgefeuert wurde sie am Tag, als Russen und Franzosen um die Stadt Zürich kämpften. In den Wiesen des Beckenhofs schossen Soldaten aufeinander. Auf dem Kopfsteinpflaster in der Altstadt klebte das Blut.

Wie nie zuvor und nie mehr danach stand die Stadt am 25. und 26. September 1799 im Zentrum der Weltpolitik. Zürich war ein Name in der Liste umkämpfter Orte, wie es heute Bachmut oder Wuhledar in der Ukraine sind. «Dietikon» wurde im Arc de Triomphe in Paris verewigt, weil die französischen Truppen dort bei der Schlacht um Zürich den Feind überlisteten.

Der Feind auf dem Hönggerberg

Der Beckenhof liegt damals ausserhalb der Stadt. Er gehört David Hess. Dieser, bis vor kurzem selbst Soldat, ist durch Erbschaft zum Gutsherrn geworden. Er hat sich den schönen Künsten zugewandt, ist Maler und Schriftsteller. Im Herbst 1799 ist er 28 Jahre alt und frisch verheiratet. Er ist ein entschiedener Gegner der Französischen Revolution. Nun wird er Zeuge, wie Franzosen und Russen auf den Wiesen seines Guts aufeinander losgehen.

In seinem Tagebuch beschreibt Hess einen englischen Offizier, der ein russisches Regiment gegen die Franzosen in den Kampf führt, die von Buchegg und Milchbuck her angreifen. «Schon sahen wir den Feind auf dem Hönggerberg, das Feuer rückte immer näher und einzelne Russen postierten sich schon in unseren Wiesen. Ein lautes ‹Hurrah!› tönte die Gasse herauf, da kam das grün- und rosenrote Dragonerregiment angesprengt, der brave englische Oberst Steward an der Spitze.»

Hess schreibt weiter: «Er winkte und rief, er wolle noch das Äusserste versuchen. Eine Viertelstunde nachher kam er allein wieder zurück und sagte, er habe keine Hoffnung mehr, der Feind sei schon zu weit vorgedrungen. Wir sollten nun unsere Türen wohl verschliessen und niemand einlassen. Ich drückte dem wackeren Mann noch die Hand, er ritt weg und wir schlossen uns ein.»

Hess, seine Familie und seine Bediensteten verstecken sich im Kellergewölbe. Von Zeit zu Zeit wagt sich der Gutsherr nach oben. Durch die Ritzen der Fensterläden sieht er, wie «die Kugeln von beiden Seiten» hageln. Er schreibt: «Die Russen verteidigten sich wie die Löwen, aber ungeschickt und ohne Gewandtheit.»

Zürich, eine Kriegsstadt: Das ist etwas, was die damalige Bevölkerung so nicht kennt. Während Jahrhunderten herrschen in der Stadt zuvor stabile Verhältnisse. Der Stadtstaat regiert den heutigen Kanton Zürich, die Macht liegt ausschliesslich bei den Stadtzürcher Bürgern. Es ist eine oligarchische Gesellschaft, dominiert von einigen Familien, die als Kaufleute, Textilverleger oder Offiziere Privilegien geniessen.

Doch mit der Französischen Revolution endet 1789 die Stabilität in ganz Europa. Sie zieht zahlreiche aufeinanderfolgende Kriege nach sich, in dem sich das revolutionäre Frankreich und die übrigen europäischen Mächte bekämpfen.

Die Auseinandersetzung ist nicht nur von den Idealen der Revolution getrieben, sondern auch vom französischen Streben nach Dominanz auf dem Kontinent. Und es ist die Fortsetzung des schon seit Jahrzehnten andauernden Ringens Frankreichs mit England.

Heute wird die Auseinandersetzung als erster grosser globaler Krieg gedeutet, als Weltkrieg vor den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Er erfasst auch die Kolonien im Indischen und im Atlantischen Ozean. Das hat weitreichende Folgen. Zum Beispiel, dass die Vereinigten Staaten Louisiana erwerben – ein entscheidender Schritt auf dem Weg der USA vom unbedeutenden Landstreifen zur globalen Grossmacht.

In Europa wird die Schweiz zum Aufmarschgebiet der Armeen verschiedener europäischer Mächte. Die Truppen der Alten Eidgenossenschaft sind schwach. Frankreich besetzt das Gebiet 1798, um sich die Alpenpässe und den Durchgang durch das Mittelland zu sichern. In diesem Frühjahr wird Zürich erstmals von französischen Truppen besetzt. Der Staatsschatz wird gewaltsam aus dem Gewölbe des Grossmünsters abgeführt.

Im Jahr darauf wird Zürich zur Kampfzone. Weil ein österreichisches Heer im Anmarsch ist, befestigen die Franzosen im Frühling 1799 das Umland. Sie zwingen die Bevölkerung zur Fronarbeit. Die Erdwälle auf dem Zürich- und dem Käferberg sind bis heute erhalten geblieben.

Eine erste Schlacht im Juni 1799 bringt keine Entscheidung. Die Franzosen ziehen sich nach Baden zurück. Zunächst sind es Österreicher, die Zürich einnehmen wollen. Dann werden sie von den mit ihnen verbündeten Russen abgelöst.

«Bärte und Schnäuze von abscheulicher Grösse»

Ab Ende August ziehen die Russen in Zürich ein. 27 000 Soldaten leben fortan in der Stadt mit ihren 10 000 Bewohnerinnen und Bewohnern.

Diese betrachten die Neuankömmlinge mit Verwunderung. Ein Zeitzeuge schreibt: «Ihre Kleidung ist türkisch; keine Uniform; lange und weitgefaltete Beinkleider; sie haben Bärte und Schnäuze von abscheulicher Grösse; einige tragen Dolche und Pistolen.»

Eines sei «sehr fatal», schreibt eine andere Zeitzeugin, «und dieses ist, dass man mit ihnen gar nicht reden kann, und dieses verursacht unter dem gemeinen Volk viel Uneinigkeit.»

Eine Anwohnerin des Bleicherwegs schreibt in ihr Tagebuch: «Sie essen roh, was sie finden, Erdäpfel, Äpfel, Birren, Bohnen, Trauben. Doch dürfen sie nicht offen stehlen. Wann sie verklagt werden, werden sie sehr hart bestraft.» Ein Hinweis darauf, dass die Soldaten in der besetzten Stadt gewissen Regeln unterliegen.

Es ist keine ungehemmte Schreckensherrschaft, aber die Zürcherinnen und Zürcher erleben dennoch physische Gewalt und leiden unter steigenden Preisen. Staat wie Bürger müssen ihr Vermögen grösstenteils an die Besetzer abgeben. Der Krieg hinterlässt Armut.

Einen Monat nach dem Einzug der Russen gehen die Franzosen in die Offensive. Es geht für sie um viel: Während Napoleon Bonaparte eine wahnwitzige, erfolglose Expedition nach Ägypten unternommen hat, haben sie auf dem Kontinent Schlacht um Schlacht verloren. Napoleon ist auf der Rückreise, als in Zürich gekämpft wird. Er ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht der grosse Alleinherrscher. Auch für seine Karriere ist es wichtig, dass General André Masséna die Front hält.

Die Franzosen täuschen einen bevorstehenden Angriff bei Brugg vor. Sie haben das linke, südliche Limmatufer gehalten. Nun scheint es, als wollten sie über den Fluss setzen. Tatsächlich aber ist ihr Plan ein anderer. Unbemerkt tragen die Infanteristen ihre Ponton-Boote nach Dietikon. In der Nacht auf den 25. September rudern sie um 4 Uhr früh bei Glanzenberg auf die Nordseite der Limmat. Der Durchbruch gelingt.

Was dann geschieht, beschreibt eine Zeitzeugin so: «Am Mittwoch, 25. September, Morgens zwischen 5 und 6 Uhr, hörte man von der Limmat her schiessen. Gegen 12 Uhr hiess es, die Franzosen sind schon in Höngg. Nachts waren alle Strassen voller russischer Soldaten, Wagen und Fuhrleute.»

Mancherorts hätten die Soldaten Läden geplündert und Türen eingebrochen, «denn die Soldaten sollten kämpfen und hatten nun 24 Stunden nichts zu essen bekommen, nicht einmal ihr armseliges Brot. Viele Bürger gaben den auf der Gasse Liegenden Wein und Brot.»

Abends ziehen sich die Franzosen auf den Käferberg zurück, am Tag darauf greifen sie Zürich direkt an. Es kommt zum Gefecht beim Beckenhof, bei dem sich der Gutsherr David Hess im Keller versteckt.

Kurz vor Mittag marschieren die Soldaten über die Sihlporte, «mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel», wie eine weitere Zeitzeugin schreibt. «Sie nahmen die im Niederdorf stehenden Russen, die durch die dortige Pforte gedrängt worden waren, im Rücken und es entstand daselbst eine schreckliche Metzeley. Die Wachtstube daselbst war voll von getöteter Russen und vier Tage hernach war die Strasse noch voll Blut.»

Her mit dem Branntwein – oder die Stadt wird geplündert

Teile der russischen Armee können über den Milchbuck entkommen. Eigentlich hätte ein zweites russisches Heer unter Alexander Suworow jenem in Zürich zu Hilfe kommen sollen. Aber es verliert beim Anmarsch über den Gotthard zu viel Zeit. Und weil die Franzosen die Österreicher auch an der Linth besiegen, verlassen am 15. Oktober die letzten alliierten Truppen die Schweiz.

In Zürich finden zirka 3000 Franzosen und 7000 Russen den Tod. Eines der wenigen zivilen Opfer ist der beliebte Pfarrer Johann Caspar Lavater. Als ein französischer Grenadier mehr «Gaben» von ihm fordert, gibt ein helvetischer Soldat zum Schutz Lavaters einen Schuss ab und verletzt ihn an der rechten Schulter. Über ein Jahr lang wird er an der Verletzung leiden und schliesslich daran sterben.

Nach gewonnener Schlacht besetzt General Masséna die Stadt. Er verlangt für seine Truppe: 80 000 Rationen Brot, 20 000 Mass Wein, 10 000 Flaschen Branntwein, 20 000 Rationen Hafer, 400 Ochsen, 1500 Zentner Heu, geeignete Lokale für die Pflege von 800 Verwundeten sowie 800 000 Livres in bar. Und das innert 48 Stunden. Sonst, droht er, werde die Stadt geplündert. Es gelingt den Stadtoberen, einen Teil zu bezahlen und die Plünderung abzuwenden.

Das Ringen der Grossmächte wird nach der Schlacht von Zürich noch 16 Jahre andauern, bis zur endgültigen Niederlage Napoleons. Nach Zürich aber wird der globale Krieg nie mehr zurückkehren. Bis heute nicht.

Die letzte grosse militärische Auseinandersetzung auf Schweizer Boden, der Sonderbundskrieg von 1847, wird fern von Zürich ausgetragen. Im Zweiten Weltkrieg plant die Armee zwar, Zürich im Fall eines deutschen Angriffs zur Frontstadt zu machen. Doch bald wird diese Strategie zugunsten des Reduits – des Rückzugs in die Berge – fallengelassen. Zum Ernstfall kommt es ohnehin nicht.

David Hess, der Herr des Beckenhofs, ist im September 1799 froh, als die Schlacht endlich vorbei ist. Sein Haus ist heil geblieben, obwohl die Russen es vorübergehend als Gefechtsstand nutzten. «Dem kristallenen Kronleuchter im Saal waren sie mit den Gewehren sorgfältig ausgewichen und hatten ihn verschont; so auch die grossen Spiegel, in denen sie sich alle, wie Affen, wohlgefällig betrachteten.»

Das Ende der Auseinandersetzung beschreibt er so: «Jetzt ward der russische Widerstand immer schwächer, eine halbe Stunde nachher wichen diese Tiermenschen ganz; das ‹Avancé!› der Franzosen schallt wieder vor dem Hause und diesmal waren sie uns wirklich willkommen; denn die Szenen des Entsetzens mussten doch endlich ein Ende nehmen.»

177 Jahre später, im Sommer 1976, wird an der Wasserwerkstrasse eine Transformatorenstation gebaut. Der Ort war einst ebenfalls Teil von Hess’ stattlichem Landgut. Bauarbeiter stossen auf neun Skelette.

Es sind die Knochen malträtierter Soldaten, die Uniformknöpfe deuten auf Russen hin. Die Archäologen ziehen den Schluss, dass wehrlose, mehrfach verletzte Soldaten von Franzosen aus nächster Nähe erschossen wurden.

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