Sie nähern sich einander an, ohne sich je nahezukommen: Seit Jahrhunderten ist das chinesisch-russische Verhältnis angespannt. Sören Urbansky und Martin Wagner erzählen die schwierige Geschichte nach.
Die Halbwertszeit von Freundschaftsbeteuerungen im chinesisch-russischen Verhältnis beträgt knapp drei Jahre. In seinen diesjährigen Neujahrswünschen für Putin freute sich Xi Jinping über die «gutnachbarschaftliche Freundschaft». Noch im Februar 2022, gut zwei Wochen vor dem offenen russischen Überfall auf die Ukraine, war die Wortwahl weit überschwänglicher. Präsident Putin sicherte sich von seinem chinesischen Amtskollegen zumindest auf dem Papier eine «grenzenlose Freundschaft» zu.
Das Sinken des Begeisterungslevels hat nicht nur politische, sondern auch strukturelle Gründe. Die Historiker Sören Urbansky und Martin Wagner zeichnen in einer ausgezeichneten Überblicksdarstellung die wechselvolle Geschichte der chinesisch-russischen Beziehungen nach.
Sie machen dabei zwölf Knotenpunkte aus, die das gegenseitige Verhältnis nachhaltig prägten. 1618 traf der erste russische Gesandte in Peking ein. Er zeigte sich von der exotischen Architektur und dem Reichtum der chinesischen Hauptstadt überwältigt. Allerdings war er mit den Gepflogenheiten am Ming-Hof völlig unvertraut und wurde deshalb nicht einmal zu einer Audienz vorgelassen.
Die gegenseitige enzyklopädische Ignoranz führte zu zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen am Grenzfluss Amur. Erst der Vertrag von Nertschinsk aus dem Jahr 1689 führte dazu, dass beide Reiche begannen, ihre Territorien zu definieren und ihre Beziehungen zu verrechtlichen.
Russlands Drang nach Osten
Es ist allerdings bezeichnend, dass die Verhandlungen nur durch jesuitische Patres zustande kamen. Ausserdem war gar nicht klar, wer den zu dieser Zeit wütenden Machtkampf in Moskau gewinnen würde – der spätere Zar Peter I. oder seine Halbschwester Sofia. Immerhin ermöglichte der Vertrag aber einen wachsenden Handel zwischen den beiden Reichen – Zar Peter hatte nicht nur ein Fenster nach Europa, sondern auch eines nach Asien aufgestossen.
Der russische «Drang nach Osten» nahm im 19. Jahrhundert immer öfter militärische Formen an. Der ostsibirische Gouverneur Nikolai Murawjow rückte 1854 auf eigene Faust mit einem kleinen Expeditionskorps ins Amur-Gebiet vor, weil er dort ein neues russisches Eldorado vermutete. Murawjow stiess bei seiner Aktion kaum auf Widerstand. Die meisten chinesischen Truppen waren abgezogen worden, um den Taiping-Aufstand (1850–1864) zu bekämpfen.
Pikanterweise ermöglichten gerade die europäischen Mächte Grossbritannien und Frankreich, die China in den Opiumkriegen bedrängten, im Jahr 1858 Russland indirekt die Annexion des Amur-Gebiets. Das ist bemerkenswert, weil Grossbritannien und Frankreich kurz zuvor das gegen den Bosporus ausgreifende Russland im Krimkrieg in die Knie gezwungen hatten.
Der erfolgreiche Hasardeur Murawjow trat nun als nationaler Held auf. Er wurde in den Grafenstand erhoben und durfte sich fortan Murawjow-Amurski nennen. Bis heute gehören die Gebiete am Amur und am Ussuri zu Russland, was in China immer wieder als historische Ungerechtigkeit wahrgenommen wurde.
Pogrom am Amur
Russland sicherte seinen Einfluss im Fernen Osten nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich. 1898 gründeten russische Siedler auf chinesischem Boden an der neu erstellten transmandschurischen Eisenbahn die Stadt Harbin. Bald wuchs die Bevölkerung auf hunderttausend Personen an.
Gerade diese immer markantere russische Präsenz erhöhte die Spannung erheblich. Im Sommer 1900 kam es zu verschiedenen Zwischenfällen am Amur, als chinesische Wachen russische Schiffe kontrollierten und schliesslich sogar die Hafenstadt Blagoweschtschensk beschossen. Als Reaktion beschlossen die russischen Behörden, alle chinesischen Bewohner von Blagoweschtschensk zu deportieren.
Allerdings reichten die Boote für eine Überfahrt nicht aus. Die Kosaken begannen darauf, die Chinesen in den Fluss zu treiben. Über tausend Chinesen ertranken oder starben im Kugelhagel und unter Schwerthieben. Erst zehn Jahre nach diesem Pogrom drangen erste öffentliche Berichte in den europäischen Teil Russlands.
Damals stand die zaristische Regierung wegen ihrer verfehlten Fernostpolitik und der als schändlich empfundenen Kriegsniederlage gegen Japan 1905 mit dem Rücken zur Wand. Die Implosion des russischen Imperiums im Jahr 1917 hat auch hier einen Ausgangspunkt. Auch China stürzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ein Chaos. 1912 ging die Qing-Dynastie unter. Das Interregnum in China währte nicht wie in Russland nur zwei, sondern siebenunddreissig Jahre. Erst 1949 konnte Mao seine Macht etablieren und die Volksrepublik China ausrufen.
Bündnis von Stalins Gnaden
Die bolschewistische Revolution war für die chinesischen Kommunisten, wie Urbansky und Wagner schreiben, «Vor- und Schreckbild». Umgekehrt liess sich Stalin in seiner China-Politik von realpolitischen Überlegungen leiten. Er förderte die erstarkende Nationalpartei Guomindang und zwang die chinesischen Kommunisten in ein Zweckbündnis mit ihrem politischen Gegner. Dabei folgte Stalin der marxistischen Doktrin, die zuerst eine nationale und dann eine soziale Revolution voraussagte.
Allerdings blieb die sowjetisch-chinesische Freundschaft auch nach Maos Sieg ein prekäres Gebilde. Im Februar 1950 unterzeichneten die beiden Staaten einen Bündnisvertrag, der aber klar von Stalins Vorstellungen einer sowjetischen Dominanz geprägt war. Die herablassende Haltung des Diktators im Kreml zeigte sich auch darin, dass er Mao wochenlang warten liess.
Einige Aspekte dieses Bündnisvertrages sind auch heute noch brandaktuell: Stalin rang Mao das Versprechen ab, Taiwan erst militärisch anzugreifen, wenn die «Wiedervereinigung» Koreas erfolgt sei. Ausserdem stritten sich die beiden Regierungen über den Status der Mongolei.
Stalins Tod und die von Chruschtschow eingeleitete Entstalinisierung stürzten die chinesische Parteiführung in ein tiefes Dilemma. Auf der einen Seite brauchte man die technologische, militärische und wirtschaftliche Unterstützung durch das Sowjetregime, auf der anderen Seite wollte man nicht an den stalinistischen Prinzipien einer straffen Gesellschaftskontrolle rütteln.
Ein einsilbiger Gorbatschow
1963 kam es zum offiziellen Bruch zwischen der sowjetischen und der chinesischen Kommunistischen Partei. Mao antwortete auf das sowjetische «Tauwetter» mit seiner blutigen Kulturrevolution, die erst mit dem Tod des «obersten Führers» 1976 endete. 1969 kam es zu einem gefährlichen Zwischenfall an der Staatsgrenze. Auf einer umstrittenen unbewohnten Insel im Grenzfluss Ussuri schossen chinesische und sowjetische Soldaten aufeinander. Dabei starben 31 Russen und wahrscheinlich mehrere hundert Chinesen. Bald standen auch gegenseitige Drohungen eines Atomschlags im Raum.
Nach Maos Tod kam es zu einer vorsichtigen Annäherung zwischen Peking und Moskau. Allerdings störte Gorbatschows Reformpolitik diese Normalisierung schon bald wieder. Die chinesische Führung machte spätestens am 4. Juni 1989 mit der blutigen Niederschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking klar, dass man keine gesellschaftliche Öffnung wie in der Sowjetunion dulden würde.
Pikanterweise hatte Gorbatschow kurz zuvor einen Staatsbesuch in Peking absolviert. Er blieb nach dem Massaker einsilbig, um den erreichten zarten Fortschritt nicht zu gefährden. Gerade Gorbatschows innenpolitische Schwäche war aber für Peking ein Warnzeichen, nicht auf das Machtmonopol der Kommunistischen Partei zu verzichten.
In der Ära Putin verschoben sich die Gewichte zwischen China und Russland deutlich. Spätestens seit den 2010er Jahren ist China eine wirtschaftliche Weltmacht geworden, die auch die Handelsbilanz mit Russland dominiert. Es gibt zwar eine bedeutende militärische Kooperation. Allerdings ist spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine klar, dass Russland auf Chinas guten Willen angewiesen ist und nicht umgekehrt.
Krise, nicht Krieg
Peking zeigt im Krieg eine Haltung, die von westlichen Beobachtern treffend als «prorussische Neutralität» bezeichnet wird. Dass Putin Xi Jinping anlässlich eines Treffens in Samarkand im September 2022 für seine «ausgewogene Haltung» in der Ukraine-Frage dankte, lässt darauf schliessen, dass er hinter den Kulissen scharf von seinem chinesischen Amtskollegen kritisiert wurde.
Trotzdem setzt China auch innenpolitisch eine russlandfreundliche Sprachregelung durch: Der Angriffskrieg wird in den offiziellen Medien als «Ukraine-Krise» oder «Ukraine-Problematik» bezeichnet. Man darf davon ausgehen, dass Peking das Ausmass der westlichen Unterstützung für die Ukraine weiterhin sehr genau beobachtet und daraus seine Schlüsse für das eigene Vorgehen in der Taiwan-Frage ziehen wird.
Sören Urbansky, Martin Wagner: China und Russland. Kurze Geschichte einer langen Beziehung. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025. 329 S., Fr. 39.90.